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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Wilhelms I. und Vismarcks Stellung zur Reichs¬
gründung

evisionen des geschichtlichen Urteils sind von Zeit zu Zeit un¬
vermeidlich. Nicht uur neuerschlossene Kenntnis der Quellen
zwingt dazu, sondern auch die Veränderung der geschichtlichen
Auffassung verschiedner Generationen. Die deutsche Kaiserpolitik
des Mittelnlters, die eiuer enttäuschten und verbitterten Zeit als
eine verhängnisvolle und verderbliche Verirrung galt, erscheint uus jetzt, nach¬
dem wir Kaiser und Reich wieder haben, als eine natürliche, großartige Welt-
Politik, als die sie auch früher schon angesehen worden war. Die Politik der
Hohenzollern, die seit I. G. Droysen allzusehr als eine bewußt auf ein deutsches
Ziel gerichtete aufgefaßt worden war, betrachten wir jetzt unbefangner als ein
Ergebnis der gefährdeten Lage des Staats und der klugen Energie bedeutender
Monarchen für brandenburgisch-preußische Zwecke, nur daß diese Zwecke mit
deutsch-nationalen Interessen zusammenfielen und ihnen deshalb dienten, denn
die thatsächlichen Leistungen Preußens für die Größe und die Einheit der
Nation brauchen heute nicht mehr historisch bewiesen zu werden. Auch die
vielgescholtne Politik der Mittelstaateu erscheint uns heute in einem mildern
Richte; seitdem sie sich dem Reich eingefügt haben und ihm ehrlich dienen,
können wir sie rein geschichtlich als die Folge besondrer Verhältnisse und
Interessen begreifen. Nur darf freilich das Bestreben, verkannte oder falsch
beurteilte Richtungen der Vergangenheit gerechter zu beurteilen, nicht zu vor-
schnellen Kombinationen verführen. Wenn sich z. B. Max Lehmann zu be¬
weisen bemüht, daß Friedrich der Große 1756 die Erwerbung Sachsens beab¬
sichtigt habe, wie Österreich die Wiedererwcrbung Schlesiens, daß also zwei
(politische) Offensiven aufeinander gestoßen seien, so hat diese den bisherigen
Ergebnissen moderner archivnlischer Forschung schroff widersprechende Meinung
w der wiederholten Revision der Frage keine Bestätigung gefunden.

Ob ein Versuch, das Urteil über das Verhältnis Wilhelms I. und Vis-
mcircks zur Reichsgründung wesentlich umzugestalten, die Bedeutung des Mo¬
narchen mehr zur Geltung zu bringen, wie ihn soeben Ottokar Lorenz in
^mein umfangreichen Werke unternommen hat,^) besser gelungen ist, das ist



*) Kaiser Wilhelm und die Begründung des Reichs 1866 bis 1871 much Schriften und
Grenzboten IV 1902 7-,


Wilhelms I. und Vismarcks Stellung zur Reichs¬
gründung

evisionen des geschichtlichen Urteils sind von Zeit zu Zeit un¬
vermeidlich. Nicht uur neuerschlossene Kenntnis der Quellen
zwingt dazu, sondern auch die Veränderung der geschichtlichen
Auffassung verschiedner Generationen. Die deutsche Kaiserpolitik
des Mittelnlters, die eiuer enttäuschten und verbitterten Zeit als
eine verhängnisvolle und verderbliche Verirrung galt, erscheint uus jetzt, nach¬
dem wir Kaiser und Reich wieder haben, als eine natürliche, großartige Welt-
Politik, als die sie auch früher schon angesehen worden war. Die Politik der
Hohenzollern, die seit I. G. Droysen allzusehr als eine bewußt auf ein deutsches
Ziel gerichtete aufgefaßt worden war, betrachten wir jetzt unbefangner als ein
Ergebnis der gefährdeten Lage des Staats und der klugen Energie bedeutender
Monarchen für brandenburgisch-preußische Zwecke, nur daß diese Zwecke mit
deutsch-nationalen Interessen zusammenfielen und ihnen deshalb dienten, denn
die thatsächlichen Leistungen Preußens für die Größe und die Einheit der
Nation brauchen heute nicht mehr historisch bewiesen zu werden. Auch die
vielgescholtne Politik der Mittelstaateu erscheint uns heute in einem mildern
Richte; seitdem sie sich dem Reich eingefügt haben und ihm ehrlich dienen,
können wir sie rein geschichtlich als die Folge besondrer Verhältnisse und
Interessen begreifen. Nur darf freilich das Bestreben, verkannte oder falsch
beurteilte Richtungen der Vergangenheit gerechter zu beurteilen, nicht zu vor-
schnellen Kombinationen verführen. Wenn sich z. B. Max Lehmann zu be¬
weisen bemüht, daß Friedrich der Große 1756 die Erwerbung Sachsens beab¬
sichtigt habe, wie Österreich die Wiedererwcrbung Schlesiens, daß also zwei
(politische) Offensiven aufeinander gestoßen seien, so hat diese den bisherigen
Ergebnissen moderner archivnlischer Forschung schroff widersprechende Meinung
w der wiederholten Revision der Frage keine Bestätigung gefunden.

Ob ein Versuch, das Urteil über das Verhältnis Wilhelms I. und Vis-
mcircks zur Reichsgründung wesentlich umzugestalten, die Bedeutung des Mo¬
narchen mehr zur Geltung zu bringen, wie ihn soeben Ottokar Lorenz in
^mein umfangreichen Werke unternommen hat,^) besser gelungen ist, das ist



*) Kaiser Wilhelm und die Begründung des Reichs 1866 bis 1871 much Schriften und
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[0639] [Abbildung] Wilhelms I. und Vismarcks Stellung zur Reichs¬ gründung evisionen des geschichtlichen Urteils sind von Zeit zu Zeit un¬ vermeidlich. Nicht uur neuerschlossene Kenntnis der Quellen zwingt dazu, sondern auch die Veränderung der geschichtlichen Auffassung verschiedner Generationen. Die deutsche Kaiserpolitik des Mittelnlters, die eiuer enttäuschten und verbitterten Zeit als eine verhängnisvolle und verderbliche Verirrung galt, erscheint uus jetzt, nach¬ dem wir Kaiser und Reich wieder haben, als eine natürliche, großartige Welt- Politik, als die sie auch früher schon angesehen worden war. Die Politik der Hohenzollern, die seit I. G. Droysen allzusehr als eine bewußt auf ein deutsches Ziel gerichtete aufgefaßt worden war, betrachten wir jetzt unbefangner als ein Ergebnis der gefährdeten Lage des Staats und der klugen Energie bedeutender Monarchen für brandenburgisch-preußische Zwecke, nur daß diese Zwecke mit deutsch-nationalen Interessen zusammenfielen und ihnen deshalb dienten, denn die thatsächlichen Leistungen Preußens für die Größe und die Einheit der Nation brauchen heute nicht mehr historisch bewiesen zu werden. Auch die vielgescholtne Politik der Mittelstaateu erscheint uns heute in einem mildern Richte; seitdem sie sich dem Reich eingefügt haben und ihm ehrlich dienen, können wir sie rein geschichtlich als die Folge besondrer Verhältnisse und Interessen begreifen. Nur darf freilich das Bestreben, verkannte oder falsch beurteilte Richtungen der Vergangenheit gerechter zu beurteilen, nicht zu vor- schnellen Kombinationen verführen. Wenn sich z. B. Max Lehmann zu be¬ weisen bemüht, daß Friedrich der Große 1756 die Erwerbung Sachsens beab¬ sichtigt habe, wie Österreich die Wiedererwcrbung Schlesiens, daß also zwei (politische) Offensiven aufeinander gestoßen seien, so hat diese den bisherigen Ergebnissen moderner archivnlischer Forschung schroff widersprechende Meinung w der wiederholten Revision der Frage keine Bestätigung gefunden. Ob ein Versuch, das Urteil über das Verhältnis Wilhelms I. und Vis- mcircks zur Reichsgründung wesentlich umzugestalten, die Bedeutung des Mo¬ narchen mehr zur Geltung zu bringen, wie ihn soeben Ottokar Lorenz in ^mein umfangreichen Werke unternommen hat,^) besser gelungen ist, das ist *) Kaiser Wilhelm und die Begründung des Reichs 1866 bis 1871 much Schriften und Grenzboten IV 1902 7-,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/639>, abgerufen am 01.09.2024.