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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches "ut Unmaßgebliches

klärlich ist es, wenn der Oberbürgermeister einer der grüßten und schönsten Städte
Deutschlands, die groß und schön geworden ist mis "eine vorgeschobne Kolonie des
Südens," "änlich Dresdens, in öffentlicher Beratung die Errichtung eines städtischen
Reformgymnasiums nach Frankfurter Art u. a, mit der Behauptung zu begründen
versucht hat, die humanistischen Gymnasien Dentschlnuds hätten ihre Aufgabe in natio¬
naler Beziehung nicht so erfüllt, wie wir es mis Deutsche hätten erwarten können.
Beweis: im Reichstag, in dem sich die Volksbildung widerspiegelt, findet die eine
mächtige Partei den Schwerpunkt ihres Denkens jenseits der Alpen, die andre ist
nationaler Bildung überhaupt hur. Andre Voller sind uns jedenfalls in der Pflege
des Nationalgefühls überlegen, die humanistische Erziehung hat also ihre "nationale"
Aufgabe nicht erfüllt. Folgerung: Dresden muß ein Reformgymnasium errichten,
das unsre Jugend in nationaler Beziehung jbesserj fördern wird. So sprach in
der Stadtvcrvrdnetenversannnlnng am 9. Oktober d. I. der Oberbürgermeister Beutler,
ohne gegen seine Behauptung Widerspruch zu finden, natürlich unter den "lebhafte"
Bravorufen" der Stadtvätcr. Nun, um ihm selbst scheint das humanistische Gym¬
nasium seiue "nationale" Aufgabe doch recht gut erfüllt zu haben, deun an natio¬
naler Gesinnung lassen seine Worte gewiß nichts zu wünschen übrig. Seitdem,
"tho seit etwa dreißig Jahren, ist es aber offenbar anders und schlechter geworden,
das humanistische Gymnasium hat -- leider auch unter seinen Augen in Dresden --
diese nationale Aufgabe nicht mehr so recht gelöst, denn sonst könnten im Reichs¬
tag nicht Zentrum und Sozialdemokratie eine so große Rolle spielen. Wir bestreiten
keineswegs, daß sich im Reichstag die Volksbildung gewissermaßen widerspiegelt,
aber wahrhaftig nicht die Blüte der Intelligenz deutscher Nation, wie in dem ver¬
schrienen Frankfurter Professvrenparlament von 1848/49, sondern nur die politische
Bildung kommt in seiner Zusammensetzung zum Ausdruck, oder, was leider dasselbe
ist, die politische Unreife unsrer Wählerschaften. Sind denn die sozialdemokratischen
Abgeordneten alle oder nur größtenteils durch ein humanistisches Gymnasium ge¬
laufen, oder haben gnr die sozialdemokratischen Wähler ein solches besucht? Sind
die katholischen Gymnasien und Priesterseminnrien, auf denen die meisten Zeutrums-
untglieder gebildet sein werden, identisch mit den deutschen Gymnasien überhaupt?
Mit besser"! Rechte könnte mau die Volksschule für solche Wahlergebnisse verant¬
wortlich machen, denn aus ihr gehn die Massen der Wähler hervor. Ob unsre
katholischen Mitbürger den Schwerpunkt ihres Denkens, soweit es nicht religiöser
Art ist, wirklich jenseits der Alpen finden, untersuchen wir hier nicht, darauf wird
vielleicht ein Dresdner Katholik die Antwort geben. Doch es lohnt nicht, über eine
so sonderbare Begründung noch ein Wort zu verlieren. Aber weiter: andre Völker
sind uns in der Pflege des Nntionalgefnhls überlegen, und daran trägt die huma¬
nistische Erziehung die Schuld. In jedem leidlichen Gymnasialnnterricht wird man
doch wohl immer soviel lernen können, daß die Schwäche unsers Nationalbewußt¬
seins von ganz andern Dingen herkommt mis Von der humanistischen Bildung, daß
sie ans einer langen wirrenreichen Geschichte und auf einem, wie es scheint, unaus¬
rottbaren Charakterfehler der Deutschen, ihrer Neigung zum Partikulnrismus beruht.
Wer hat uus deun gehindert, schon im Mittelalter, auf der Höhe nationaler Macht,
une feste Reichsordnung zu schaffen? Lediglich wir selbst.

Der wohl auch erhobne Vorwurf, die humanistischen Gymnasien erzogen junge
Griechen und Römer -- heute noch! --, ist geradezu lächerlich. Sie wollen ihrer
Aufgabe gemäß in die antike Kultur. allerdings mit einer gewissen Gründlichkeit,
die manchem lästig fällt oder überflüssig erscheint, als in die Grundlage unsrer
eignen, als Bestandteil unsrer eignen "nationnleu" Bildung einführen, keineswegs
ihr ein Vorbild für uns aufstellen; sie haben einen ausgedehntem Geschichts¬
unterricht als die Realgymnasien, der in Sachsen der mittelalterlichen und neuern,
^so doch größtenteils der deutschen Geschichte auf der Unterstufe zwei, auf der
Oberstufe drei Jahre widmet (also 5 von 9), sie pflege" die Kenntnis der deutschen
Litteratur und Sprache mindestens ebenso wie die Realgymnasien, sie feiern ihre
patriotische" Feste in demselben Umfange, was sollen sie denn sonst wohl noch thun?


Maßgebliches »ut Unmaßgebliches

klärlich ist es, wenn der Oberbürgermeister einer der grüßten und schönsten Städte
Deutschlands, die groß und schön geworden ist mis „eine vorgeschobne Kolonie des
Südens," »änlich Dresdens, in öffentlicher Beratung die Errichtung eines städtischen
Reformgymnasiums nach Frankfurter Art u. a, mit der Behauptung zu begründen
versucht hat, die humanistischen Gymnasien Dentschlnuds hätten ihre Aufgabe in natio¬
naler Beziehung nicht so erfüllt, wie wir es mis Deutsche hätten erwarten können.
Beweis: im Reichstag, in dem sich die Volksbildung widerspiegelt, findet die eine
mächtige Partei den Schwerpunkt ihres Denkens jenseits der Alpen, die andre ist
nationaler Bildung überhaupt hur. Andre Voller sind uns jedenfalls in der Pflege
des Nationalgefühls überlegen, die humanistische Erziehung hat also ihre „nationale"
Aufgabe nicht erfüllt. Folgerung: Dresden muß ein Reformgymnasium errichten,
das unsre Jugend in nationaler Beziehung jbesserj fördern wird. So sprach in
der Stadtvcrvrdnetenversannnlnng am 9. Oktober d. I. der Oberbürgermeister Beutler,
ohne gegen seine Behauptung Widerspruch zu finden, natürlich unter den „lebhafte»
Bravorufen" der Stadtvätcr. Nun, um ihm selbst scheint das humanistische Gym¬
nasium seiue „nationale" Aufgabe doch recht gut erfüllt zu haben, deun an natio¬
naler Gesinnung lassen seine Worte gewiß nichts zu wünschen übrig. Seitdem,
"tho seit etwa dreißig Jahren, ist es aber offenbar anders und schlechter geworden,
das humanistische Gymnasium hat — leider auch unter seinen Augen in Dresden —
diese nationale Aufgabe nicht mehr so recht gelöst, denn sonst könnten im Reichs¬
tag nicht Zentrum und Sozialdemokratie eine so große Rolle spielen. Wir bestreiten
keineswegs, daß sich im Reichstag die Volksbildung gewissermaßen widerspiegelt,
aber wahrhaftig nicht die Blüte der Intelligenz deutscher Nation, wie in dem ver¬
schrienen Frankfurter Professvrenparlament von 1848/49, sondern nur die politische
Bildung kommt in seiner Zusammensetzung zum Ausdruck, oder, was leider dasselbe
ist, die politische Unreife unsrer Wählerschaften. Sind denn die sozialdemokratischen
Abgeordneten alle oder nur größtenteils durch ein humanistisches Gymnasium ge¬
laufen, oder haben gnr die sozialdemokratischen Wähler ein solches besucht? Sind
die katholischen Gymnasien und Priesterseminnrien, auf denen die meisten Zeutrums-
untglieder gebildet sein werden, identisch mit den deutschen Gymnasien überhaupt?
Mit besser»! Rechte könnte mau die Volksschule für solche Wahlergebnisse verant¬
wortlich machen, denn aus ihr gehn die Massen der Wähler hervor. Ob unsre
katholischen Mitbürger den Schwerpunkt ihres Denkens, soweit es nicht religiöser
Art ist, wirklich jenseits der Alpen finden, untersuchen wir hier nicht, darauf wird
vielleicht ein Dresdner Katholik die Antwort geben. Doch es lohnt nicht, über eine
so sonderbare Begründung noch ein Wort zu verlieren. Aber weiter: andre Völker
sind uns in der Pflege des Nntionalgefnhls überlegen, und daran trägt die huma¬
nistische Erziehung die Schuld. In jedem leidlichen Gymnasialnnterricht wird man
doch wohl immer soviel lernen können, daß die Schwäche unsers Nationalbewußt¬
seins von ganz andern Dingen herkommt mis Von der humanistischen Bildung, daß
sie ans einer langen wirrenreichen Geschichte und auf einem, wie es scheint, unaus¬
rottbaren Charakterfehler der Deutschen, ihrer Neigung zum Partikulnrismus beruht.
Wer hat uus deun gehindert, schon im Mittelalter, auf der Höhe nationaler Macht,
une feste Reichsordnung zu schaffen? Lediglich wir selbst.

Der wohl auch erhobne Vorwurf, die humanistischen Gymnasien erzogen junge
Griechen und Römer — heute noch! —, ist geradezu lächerlich. Sie wollen ihrer
Aufgabe gemäß in die antike Kultur. allerdings mit einer gewissen Gründlichkeit,
die manchem lästig fällt oder überflüssig erscheint, als in die Grundlage unsrer
eignen, als Bestandteil unsrer eignen „nationnleu" Bildung einführen, keineswegs
ihr ein Vorbild für uns aufstellen; sie haben einen ausgedehntem Geschichts¬
unterricht als die Realgymnasien, der in Sachsen der mittelalterlichen und neuern,
^so doch größtenteils der deutschen Geschichte auf der Unterstufe zwei, auf der
Oberstufe drei Jahre widmet (also 5 von 9), sie pflege» die Kenntnis der deutschen
Litteratur und Sprache mindestens ebenso wie die Realgymnasien, sie feiern ihre
patriotische» Feste in demselben Umfange, was sollen sie denn sonst wohl noch thun?


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[0233] Maßgebliches »ut Unmaßgebliches klärlich ist es, wenn der Oberbürgermeister einer der grüßten und schönsten Städte Deutschlands, die groß und schön geworden ist mis „eine vorgeschobne Kolonie des Südens," »änlich Dresdens, in öffentlicher Beratung die Errichtung eines städtischen Reformgymnasiums nach Frankfurter Art u. a, mit der Behauptung zu begründen versucht hat, die humanistischen Gymnasien Dentschlnuds hätten ihre Aufgabe in natio¬ naler Beziehung nicht so erfüllt, wie wir es mis Deutsche hätten erwarten können. Beweis: im Reichstag, in dem sich die Volksbildung widerspiegelt, findet die eine mächtige Partei den Schwerpunkt ihres Denkens jenseits der Alpen, die andre ist nationaler Bildung überhaupt hur. Andre Voller sind uns jedenfalls in der Pflege des Nationalgefühls überlegen, die humanistische Erziehung hat also ihre „nationale" Aufgabe nicht erfüllt. Folgerung: Dresden muß ein Reformgymnasium errichten, das unsre Jugend in nationaler Beziehung jbesserj fördern wird. So sprach in der Stadtvcrvrdnetenversannnlnng am 9. Oktober d. I. der Oberbürgermeister Beutler, ohne gegen seine Behauptung Widerspruch zu finden, natürlich unter den „lebhafte» Bravorufen" der Stadtvätcr. Nun, um ihm selbst scheint das humanistische Gym¬ nasium seiue „nationale" Aufgabe doch recht gut erfüllt zu haben, deun an natio¬ naler Gesinnung lassen seine Worte gewiß nichts zu wünschen übrig. Seitdem, "tho seit etwa dreißig Jahren, ist es aber offenbar anders und schlechter geworden, das humanistische Gymnasium hat — leider auch unter seinen Augen in Dresden — diese nationale Aufgabe nicht mehr so recht gelöst, denn sonst könnten im Reichs¬ tag nicht Zentrum und Sozialdemokratie eine so große Rolle spielen. Wir bestreiten keineswegs, daß sich im Reichstag die Volksbildung gewissermaßen widerspiegelt, aber wahrhaftig nicht die Blüte der Intelligenz deutscher Nation, wie in dem ver¬ schrienen Frankfurter Professvrenparlament von 1848/49, sondern nur die politische Bildung kommt in seiner Zusammensetzung zum Ausdruck, oder, was leider dasselbe ist, die politische Unreife unsrer Wählerschaften. Sind denn die sozialdemokratischen Abgeordneten alle oder nur größtenteils durch ein humanistisches Gymnasium ge¬ laufen, oder haben gnr die sozialdemokratischen Wähler ein solches besucht? Sind die katholischen Gymnasien und Priesterseminnrien, auf denen die meisten Zeutrums- untglieder gebildet sein werden, identisch mit den deutschen Gymnasien überhaupt? Mit besser»! Rechte könnte mau die Volksschule für solche Wahlergebnisse verant¬ wortlich machen, denn aus ihr gehn die Massen der Wähler hervor. Ob unsre katholischen Mitbürger den Schwerpunkt ihres Denkens, soweit es nicht religiöser Art ist, wirklich jenseits der Alpen finden, untersuchen wir hier nicht, darauf wird vielleicht ein Dresdner Katholik die Antwort geben. Doch es lohnt nicht, über eine so sonderbare Begründung noch ein Wort zu verlieren. Aber weiter: andre Völker sind uns in der Pflege des Nntionalgefnhls überlegen, und daran trägt die huma¬ nistische Erziehung die Schuld. In jedem leidlichen Gymnasialnnterricht wird man doch wohl immer soviel lernen können, daß die Schwäche unsers Nationalbewußt¬ seins von ganz andern Dingen herkommt mis Von der humanistischen Bildung, daß sie ans einer langen wirrenreichen Geschichte und auf einem, wie es scheint, unaus¬ rottbaren Charakterfehler der Deutschen, ihrer Neigung zum Partikulnrismus beruht. Wer hat uus deun gehindert, schon im Mittelalter, auf der Höhe nationaler Macht, une feste Reichsordnung zu schaffen? Lediglich wir selbst. Der wohl auch erhobne Vorwurf, die humanistischen Gymnasien erzogen junge Griechen und Römer — heute noch! —, ist geradezu lächerlich. Sie wollen ihrer Aufgabe gemäß in die antike Kultur. allerdings mit einer gewissen Gründlichkeit, die manchem lästig fällt oder überflüssig erscheint, als in die Grundlage unsrer eignen, als Bestandteil unsrer eignen „nationnleu" Bildung einführen, keineswegs ihr ein Vorbild für uns aufstellen; sie haben einen ausgedehntem Geschichts¬ unterricht als die Realgymnasien, der in Sachsen der mittelalterlichen und neuern, ^so doch größtenteils der deutschen Geschichte auf der Unterstufe zwei, auf der Oberstufe drei Jahre widmet (also 5 von 9), sie pflege» die Kenntnis der deutschen Litteratur und Sprache mindestens ebenso wie die Realgymnasien, sie feiern ihre patriotische» Feste in demselben Umfange, was sollen sie denn sonst wohl noch thun?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/233>, abgerufen am 01.09.2024.