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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die ultramontane Moral. Diesen Untertitel giebt der Exjesuit Hoens-
broech dem zweiten Bande seines Werkes: Das Papsttum in seiner sozial-
kulturellen Wirksamkeit (Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1902), dessen ersten
Band ich im vierten Hefte des vorigen Jahres angezeigt habe. Mit der ultra-
montanen Moral ist die sogenannte Moraltheologie gemeint, die Moral der Hand¬
bücher, die weder für den Jugend- noch für den Volksunterricht bestimmt, sondern
Anleitungen und Anweisungen zur Ausübung des Amtes eines Richters und
Seelenarztes sind, das nach der katholischen Kirchenlehre dem Beichtvater obliegt.
Der Inhalt dieser unerquicklichen Litteratur ist im allgemeinen bekannt, und daß
nun zum zweitenmal dem Publikum im saftigsten Deutsch geboten wird, was vor
Graßmcmn nur lateinisch zu haben war, wird auch deu Besonnenen unter den
Protestanten nicht besonders verdienstlich erscheinen. Hoensbroech leugnet zwar,
daß die Erörterungen der x"zeea,ta, vomer". sextnm nur lateinisch veröffentlicht würden,
führt aber nur eine einzige solche Erörterung in der Volkssprache an, und zwar
eine in der spanischen. Diese Ausnahme beweist umso weniger, da die meisten
Spanier Analphabeten sind. Das Urteil des heutigen gebildeten Menschen über
die kasuistische Moral steht längst fest und kann durch uoch so große Stoffsamm¬
lungen nicht geändert werden. Ganz ohne Kasuistik kommt auch der protestantische
Morallehrer nicht aus, deun zu einem solchen Grade von sittlicher Selbständigkeit
gelangen eben die Kinder des Volkes nicht, daß sie die einzelnen Grundsätze in
jedem einzelnen Falle mit Sicherheit anzuwenden vermöchten; gerade die gewissen-
haftem unter ihnen werden manchmal Eltern, Lehrer und Geistliche fragen: Ist
dies erlaubt? Und wenn das selten geschieht, der junge Mensch lieber Zeitungen,
Broschüren und politische Agitatoren befragt, so weiß man ja, was dabei heraus¬
kommt. Aber darin stimmen alle vernünftigen Pädagogen überein, daß die Sitten¬
lehre nicht vorwiegend kasuistisch behandelt werden darf, und wenn die Kasuistik den
Zögling dazu anleitet, vor seinem Gewissen den Advokaten zu spielen, wenn sie die
einfachen Grundsätze durch talmudische Spitzfindigkeiten verdunkelt, den gesunden
einfältigen Willen durch Zerfaserung des sittlichen Ideals in eine Unzahl von Einzel¬
vorschriften verwirrt und krank macht, die Seele durch die Häufung überflüssiger
Pharisäischer Zeremonialgesetze beschwert und zur Verzweiflung treibt, so verwerfen
wir das alles natürlich mit Abscheu. solange das Übel fortbesteht, dauert auch
die Pflicht, es zu bekämpfen. Eine neue und wirksame Methode der Bekämpfung
hat jedoch Hoensbroech nicht angewandt; er bewegt sich in dem alten ausgefahruen
Geleise, eine Menge Anklagestoff aufzuhäufen und zu rufen: Da seht ihr, wie schlecht
diese Päpste, diese Jesuiten und alle diese Theologen sind! Das hat bekanntlich
bisher nichts genützt und wird auch in Zukunft nichts nützen. Soll die Polemik
fruchten, so muß sie positive Ziele aufstellen. Zunächst muß sie anerkennen, was
übrigens ans Hoensbroechs Buche klar hervorgeht, daß der sogenannte Jesuitismus
lange vor der Gründung des Jesuitenordens und sogar vor dem mittelalterlichen
Papsttum dagewesen ist, woraus folgt, daß man ihn durch die Beseitigung dieser
beiden Institute uicht los werden würde. Dann ist zu beachten, daß die sogenannte
Jesuitenmoral unmittelbar nur auf die Geistlichen, auf das Volk nur mittelbar
wirkt, und zwar nur auf einen kleinen Bruchteil des Volkes, denn auf hundert
Beichtende kommt noch nicht einer, der einen jener merkwürdigen Fälle bekennte,
die dem Beichtvater zur Entfaltung seiner kasuistischen Gelehrsamkeit Anlaß geben.
Aber auch bei den Geistlichen macht sich der Einfluß nicht in den: Grade und Um¬
fange bemerkbar, daß ihre Mehrzahl anders dächte, fühlte und handelte als der
Durchschnitt der Volksgenossen. Es sind nur verhältnismäßig wenige, die im Ge¬
strüpp der Kasuistik Schaden leiden, und das geschieht dann meistens auf andre
als die von den Jesuitenfeinden angenommene Weise, indem sie nämlich nicht liederlich
und lasterhaft, sondern dnrch Grübelei und Gewissensangst elend und verrückt werden.
Die positive Bekämpfung nun wird ihr Augenmerk auf zweierlei zu richten haben:


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die ultramontane Moral. Diesen Untertitel giebt der Exjesuit Hoens-
broech dem zweiten Bande seines Werkes: Das Papsttum in seiner sozial-
kulturellen Wirksamkeit (Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1902), dessen ersten
Band ich im vierten Hefte des vorigen Jahres angezeigt habe. Mit der ultra-
montanen Moral ist die sogenannte Moraltheologie gemeint, die Moral der Hand¬
bücher, die weder für den Jugend- noch für den Volksunterricht bestimmt, sondern
Anleitungen und Anweisungen zur Ausübung des Amtes eines Richters und
Seelenarztes sind, das nach der katholischen Kirchenlehre dem Beichtvater obliegt.
Der Inhalt dieser unerquicklichen Litteratur ist im allgemeinen bekannt, und daß
nun zum zweitenmal dem Publikum im saftigsten Deutsch geboten wird, was vor
Graßmcmn nur lateinisch zu haben war, wird auch deu Besonnenen unter den
Protestanten nicht besonders verdienstlich erscheinen. Hoensbroech leugnet zwar,
daß die Erörterungen der x«zeea,ta, vomer». sextnm nur lateinisch veröffentlicht würden,
führt aber nur eine einzige solche Erörterung in der Volkssprache an, und zwar
eine in der spanischen. Diese Ausnahme beweist umso weniger, da die meisten
Spanier Analphabeten sind. Das Urteil des heutigen gebildeten Menschen über
die kasuistische Moral steht längst fest und kann durch uoch so große Stoffsamm¬
lungen nicht geändert werden. Ganz ohne Kasuistik kommt auch der protestantische
Morallehrer nicht aus, deun zu einem solchen Grade von sittlicher Selbständigkeit
gelangen eben die Kinder des Volkes nicht, daß sie die einzelnen Grundsätze in
jedem einzelnen Falle mit Sicherheit anzuwenden vermöchten; gerade die gewissen-
haftem unter ihnen werden manchmal Eltern, Lehrer und Geistliche fragen: Ist
dies erlaubt? Und wenn das selten geschieht, der junge Mensch lieber Zeitungen,
Broschüren und politische Agitatoren befragt, so weiß man ja, was dabei heraus¬
kommt. Aber darin stimmen alle vernünftigen Pädagogen überein, daß die Sitten¬
lehre nicht vorwiegend kasuistisch behandelt werden darf, und wenn die Kasuistik den
Zögling dazu anleitet, vor seinem Gewissen den Advokaten zu spielen, wenn sie die
einfachen Grundsätze durch talmudische Spitzfindigkeiten verdunkelt, den gesunden
einfältigen Willen durch Zerfaserung des sittlichen Ideals in eine Unzahl von Einzel¬
vorschriften verwirrt und krank macht, die Seele durch die Häufung überflüssiger
Pharisäischer Zeremonialgesetze beschwert und zur Verzweiflung treibt, so verwerfen
wir das alles natürlich mit Abscheu. solange das Übel fortbesteht, dauert auch
die Pflicht, es zu bekämpfen. Eine neue und wirksame Methode der Bekämpfung
hat jedoch Hoensbroech nicht angewandt; er bewegt sich in dem alten ausgefahruen
Geleise, eine Menge Anklagestoff aufzuhäufen und zu rufen: Da seht ihr, wie schlecht
diese Päpste, diese Jesuiten und alle diese Theologen sind! Das hat bekanntlich
bisher nichts genützt und wird auch in Zukunft nichts nützen. Soll die Polemik
fruchten, so muß sie positive Ziele aufstellen. Zunächst muß sie anerkennen, was
übrigens ans Hoensbroechs Buche klar hervorgeht, daß der sogenannte Jesuitismus
lange vor der Gründung des Jesuitenordens und sogar vor dem mittelalterlichen
Papsttum dagewesen ist, woraus folgt, daß man ihn durch die Beseitigung dieser
beiden Institute uicht los werden würde. Dann ist zu beachten, daß die sogenannte
Jesuitenmoral unmittelbar nur auf die Geistlichen, auf das Volk nur mittelbar
wirkt, und zwar nur auf einen kleinen Bruchteil des Volkes, denn auf hundert
Beichtende kommt noch nicht einer, der einen jener merkwürdigen Fälle bekennte,
die dem Beichtvater zur Entfaltung seiner kasuistischen Gelehrsamkeit Anlaß geben.
Aber auch bei den Geistlichen macht sich der Einfluß nicht in den: Grade und Um¬
fange bemerkbar, daß ihre Mehrzahl anders dächte, fühlte und handelte als der
Durchschnitt der Volksgenossen. Es sind nur verhältnismäßig wenige, die im Ge¬
strüpp der Kasuistik Schaden leiden, und das geschieht dann meistens auf andre
als die von den Jesuitenfeinden angenommene Weise, indem sie nämlich nicht liederlich
und lasterhaft, sondern dnrch Grübelei und Gewissensangst elend und verrückt werden.
Die positive Bekämpfung nun wird ihr Augenmerk auf zweierlei zu richten haben:


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[0175] Maßgebliches und Unmaßgebliches Maßgebliches und Unmaßgebliches Die ultramontane Moral. Diesen Untertitel giebt der Exjesuit Hoens- broech dem zweiten Bande seines Werkes: Das Papsttum in seiner sozial- kulturellen Wirksamkeit (Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1902), dessen ersten Band ich im vierten Hefte des vorigen Jahres angezeigt habe. Mit der ultra- montanen Moral ist die sogenannte Moraltheologie gemeint, die Moral der Hand¬ bücher, die weder für den Jugend- noch für den Volksunterricht bestimmt, sondern Anleitungen und Anweisungen zur Ausübung des Amtes eines Richters und Seelenarztes sind, das nach der katholischen Kirchenlehre dem Beichtvater obliegt. Der Inhalt dieser unerquicklichen Litteratur ist im allgemeinen bekannt, und daß nun zum zweitenmal dem Publikum im saftigsten Deutsch geboten wird, was vor Graßmcmn nur lateinisch zu haben war, wird auch deu Besonnenen unter den Protestanten nicht besonders verdienstlich erscheinen. Hoensbroech leugnet zwar, daß die Erörterungen der x«zeea,ta, vomer». sextnm nur lateinisch veröffentlicht würden, führt aber nur eine einzige solche Erörterung in der Volkssprache an, und zwar eine in der spanischen. Diese Ausnahme beweist umso weniger, da die meisten Spanier Analphabeten sind. Das Urteil des heutigen gebildeten Menschen über die kasuistische Moral steht längst fest und kann durch uoch so große Stoffsamm¬ lungen nicht geändert werden. Ganz ohne Kasuistik kommt auch der protestantische Morallehrer nicht aus, deun zu einem solchen Grade von sittlicher Selbständigkeit gelangen eben die Kinder des Volkes nicht, daß sie die einzelnen Grundsätze in jedem einzelnen Falle mit Sicherheit anzuwenden vermöchten; gerade die gewissen- haftem unter ihnen werden manchmal Eltern, Lehrer und Geistliche fragen: Ist dies erlaubt? Und wenn das selten geschieht, der junge Mensch lieber Zeitungen, Broschüren und politische Agitatoren befragt, so weiß man ja, was dabei heraus¬ kommt. Aber darin stimmen alle vernünftigen Pädagogen überein, daß die Sitten¬ lehre nicht vorwiegend kasuistisch behandelt werden darf, und wenn die Kasuistik den Zögling dazu anleitet, vor seinem Gewissen den Advokaten zu spielen, wenn sie die einfachen Grundsätze durch talmudische Spitzfindigkeiten verdunkelt, den gesunden einfältigen Willen durch Zerfaserung des sittlichen Ideals in eine Unzahl von Einzel¬ vorschriften verwirrt und krank macht, die Seele durch die Häufung überflüssiger Pharisäischer Zeremonialgesetze beschwert und zur Verzweiflung treibt, so verwerfen wir das alles natürlich mit Abscheu. solange das Übel fortbesteht, dauert auch die Pflicht, es zu bekämpfen. Eine neue und wirksame Methode der Bekämpfung hat jedoch Hoensbroech nicht angewandt; er bewegt sich in dem alten ausgefahruen Geleise, eine Menge Anklagestoff aufzuhäufen und zu rufen: Da seht ihr, wie schlecht diese Päpste, diese Jesuiten und alle diese Theologen sind! Das hat bekanntlich bisher nichts genützt und wird auch in Zukunft nichts nützen. Soll die Polemik fruchten, so muß sie positive Ziele aufstellen. Zunächst muß sie anerkennen, was übrigens ans Hoensbroechs Buche klar hervorgeht, daß der sogenannte Jesuitismus lange vor der Gründung des Jesuitenordens und sogar vor dem mittelalterlichen Papsttum dagewesen ist, woraus folgt, daß man ihn durch die Beseitigung dieser beiden Institute uicht los werden würde. Dann ist zu beachten, daß die sogenannte Jesuitenmoral unmittelbar nur auf die Geistlichen, auf das Volk nur mittelbar wirkt, und zwar nur auf einen kleinen Bruchteil des Volkes, denn auf hundert Beichtende kommt noch nicht einer, der einen jener merkwürdigen Fälle bekennte, die dem Beichtvater zur Entfaltung seiner kasuistischen Gelehrsamkeit Anlaß geben. Aber auch bei den Geistlichen macht sich der Einfluß nicht in den: Grade und Um¬ fange bemerkbar, daß ihre Mehrzahl anders dächte, fühlte und handelte als der Durchschnitt der Volksgenossen. Es sind nur verhältnismäßig wenige, die im Ge¬ strüpp der Kasuistik Schaden leiden, und das geschieht dann meistens auf andre als die von den Jesuitenfeinden angenommene Weise, indem sie nämlich nicht liederlich und lasterhaft, sondern dnrch Grübelei und Gewissensangst elend und verrückt werden. Die positive Bekämpfung nun wird ihr Augenmerk auf zweierlei zu richten haben:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/175>, abgerufen am 01.09.2024.