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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Die Anfänge der Bildnerei

Diese Bildwerke sind vielmehr eine eigne und zwar die unterste Ent¬
wicklungsstufe der Kunst, die man als die indifferente oder die internationale be¬
zeichnen kann, da ihre Gebilde in ihrem Stil und in ihrer Auffassung weder
ein deutliches Bild von dem Wesen und Werden des hervorbringenden Künstlers
geben noch von der Zeit und dem Lande, dem sie angehören. Die Kunst aber,
die sie vertreten, ist in ihren wesentlichen Motiven und Zielen durchaus eins
mit der Kunst aller Zeiten. Sie werden nicht nnr einer ästhetischen Schaffens¬
lust gerecht, sondern offenbaren auch schon in deutlicher Weise, wie Ernst Grosse
in seinen "Ansängen der Kunst" mit Recht hervorhebt, die großen ästhetischen
Grundprinzipien der Eurhythmie, der Shmmetrie, des Gegensatzes, der Stei¬
gerung und der Harmonie, uach denen auch die Athener und die Florentiner ihre
Kunstwerke schufen. Dadurch aber rücken sie den Schöpfungen eines Phidias
und Rafael weit näher als den viel künstlichem der Tierwelt.

Wer freilich, wie es in unsern Kunstgeschichten geschieht, den Wert des
Kunstwerks von einer gewissen Qualität des Inhalts und der Form abhängig
macht, der wird dieser ersten Entwicklungsstufe der Kunst wenig gerecht werden.
Dennoch verhält sie sich zu deu spätern Entwicklungsstufen wie das Eiumnleins
zur höhern Mathematik. Sie setzt nnr einen andern Bewußtseinsinhalt oder
Vorstellmigsinhalt voraus, bringt aber durchaus gleichartige Wirkungen hervor.
Form und Inhalt der Kunst haben von jeher gewechselt, aber das Verhältnis
zum Bewußtseinsinhalt des Genießenden ist immer dasselbe geblieben. Jene
sind das Vergängliche und Wechselnde der Kunst, dieses aber ist das Dauernde.
Der Begriff des Schönen ist nicht objektiv, wie man glaubte, sondern subjektiv
wie der künstlerische Genuß.

Entspricht also die Naturauffassung des Kunstwerks überhaupt der durch¬
gehenden Naturauffassung einer Zeit, so kommt auch die Schönheit des Kunst¬
werks zum Vewußtseiu. Darum wird auch in der Diluvialzeit nicht jedes
Bild ein Kunstwerk gewesen sein. Anfänger, Dilettanten und Stümper hat
es zu allen Zeiten gegeben. Wenn sich aber künstlerisch begabte Menschen
bemühten, die Natur, wie sie sie im Kopfe hatten, nach Maßgabe der Errungen¬
schaften der Technik ihrer Zeit darzustellen, wenn sie damit den Vorstellungs¬
inhalt und die Naturauffassung ihrer Zeitgenossen veredelten und ihre Be¬
wunderung hervorriefen, so wurden sie damit allen Bedingungen gerecht, von
denen wir den Wert eines Kunstwerks abhängig macheu. In diesem Sinne
gab es damals ebenso gut klassische Werke wie heute, wenn wir auch ihre
dauernden Wirkungen nicht so gut erkennen können wie bei der griechischen
oder der Renaissancekunst, bei der deutschen Kunst des sechzehnten oder der
holländischen des siebzehnten Jahrhunderts.

(Schluß folgt)




Die Anfänge der Bildnerei

Diese Bildwerke sind vielmehr eine eigne und zwar die unterste Ent¬
wicklungsstufe der Kunst, die man als die indifferente oder die internationale be¬
zeichnen kann, da ihre Gebilde in ihrem Stil und in ihrer Auffassung weder
ein deutliches Bild von dem Wesen und Werden des hervorbringenden Künstlers
geben noch von der Zeit und dem Lande, dem sie angehören. Die Kunst aber,
die sie vertreten, ist in ihren wesentlichen Motiven und Zielen durchaus eins
mit der Kunst aller Zeiten. Sie werden nicht nnr einer ästhetischen Schaffens¬
lust gerecht, sondern offenbaren auch schon in deutlicher Weise, wie Ernst Grosse
in seinen „Ansängen der Kunst" mit Recht hervorhebt, die großen ästhetischen
Grundprinzipien der Eurhythmie, der Shmmetrie, des Gegensatzes, der Stei¬
gerung und der Harmonie, uach denen auch die Athener und die Florentiner ihre
Kunstwerke schufen. Dadurch aber rücken sie den Schöpfungen eines Phidias
und Rafael weit näher als den viel künstlichem der Tierwelt.

Wer freilich, wie es in unsern Kunstgeschichten geschieht, den Wert des
Kunstwerks von einer gewissen Qualität des Inhalts und der Form abhängig
macht, der wird dieser ersten Entwicklungsstufe der Kunst wenig gerecht werden.
Dennoch verhält sie sich zu deu spätern Entwicklungsstufen wie das Eiumnleins
zur höhern Mathematik. Sie setzt nnr einen andern Bewußtseinsinhalt oder
Vorstellmigsinhalt voraus, bringt aber durchaus gleichartige Wirkungen hervor.
Form und Inhalt der Kunst haben von jeher gewechselt, aber das Verhältnis
zum Bewußtseinsinhalt des Genießenden ist immer dasselbe geblieben. Jene
sind das Vergängliche und Wechselnde der Kunst, dieses aber ist das Dauernde.
Der Begriff des Schönen ist nicht objektiv, wie man glaubte, sondern subjektiv
wie der künstlerische Genuß.

Entspricht also die Naturauffassung des Kunstwerks überhaupt der durch¬
gehenden Naturauffassung einer Zeit, so kommt auch die Schönheit des Kunst¬
werks zum Vewußtseiu. Darum wird auch in der Diluvialzeit nicht jedes
Bild ein Kunstwerk gewesen sein. Anfänger, Dilettanten und Stümper hat
es zu allen Zeiten gegeben. Wenn sich aber künstlerisch begabte Menschen
bemühten, die Natur, wie sie sie im Kopfe hatten, nach Maßgabe der Errungen¬
schaften der Technik ihrer Zeit darzustellen, wenn sie damit den Vorstellungs¬
inhalt und die Naturauffassung ihrer Zeitgenossen veredelten und ihre Be¬
wunderung hervorriefen, so wurden sie damit allen Bedingungen gerecht, von
denen wir den Wert eines Kunstwerks abhängig macheu. In diesem Sinne
gab es damals ebenso gut klassische Werke wie heute, wenn wir auch ihre
dauernden Wirkungen nicht so gut erkennen können wie bei der griechischen
oder der Renaissancekunst, bei der deutschen Kunst des sechzehnten oder der
holländischen des siebzehnten Jahrhunderts.

(Schluß folgt)




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[0158] Die Anfänge der Bildnerei Diese Bildwerke sind vielmehr eine eigne und zwar die unterste Ent¬ wicklungsstufe der Kunst, die man als die indifferente oder die internationale be¬ zeichnen kann, da ihre Gebilde in ihrem Stil und in ihrer Auffassung weder ein deutliches Bild von dem Wesen und Werden des hervorbringenden Künstlers geben noch von der Zeit und dem Lande, dem sie angehören. Die Kunst aber, die sie vertreten, ist in ihren wesentlichen Motiven und Zielen durchaus eins mit der Kunst aller Zeiten. Sie werden nicht nnr einer ästhetischen Schaffens¬ lust gerecht, sondern offenbaren auch schon in deutlicher Weise, wie Ernst Grosse in seinen „Ansängen der Kunst" mit Recht hervorhebt, die großen ästhetischen Grundprinzipien der Eurhythmie, der Shmmetrie, des Gegensatzes, der Stei¬ gerung und der Harmonie, uach denen auch die Athener und die Florentiner ihre Kunstwerke schufen. Dadurch aber rücken sie den Schöpfungen eines Phidias und Rafael weit näher als den viel künstlichem der Tierwelt. Wer freilich, wie es in unsern Kunstgeschichten geschieht, den Wert des Kunstwerks von einer gewissen Qualität des Inhalts und der Form abhängig macht, der wird dieser ersten Entwicklungsstufe der Kunst wenig gerecht werden. Dennoch verhält sie sich zu deu spätern Entwicklungsstufen wie das Eiumnleins zur höhern Mathematik. Sie setzt nnr einen andern Bewußtseinsinhalt oder Vorstellmigsinhalt voraus, bringt aber durchaus gleichartige Wirkungen hervor. Form und Inhalt der Kunst haben von jeher gewechselt, aber das Verhältnis zum Bewußtseinsinhalt des Genießenden ist immer dasselbe geblieben. Jene sind das Vergängliche und Wechselnde der Kunst, dieses aber ist das Dauernde. Der Begriff des Schönen ist nicht objektiv, wie man glaubte, sondern subjektiv wie der künstlerische Genuß. Entspricht also die Naturauffassung des Kunstwerks überhaupt der durch¬ gehenden Naturauffassung einer Zeit, so kommt auch die Schönheit des Kunst¬ werks zum Vewußtseiu. Darum wird auch in der Diluvialzeit nicht jedes Bild ein Kunstwerk gewesen sein. Anfänger, Dilettanten und Stümper hat es zu allen Zeiten gegeben. Wenn sich aber künstlerisch begabte Menschen bemühten, die Natur, wie sie sie im Kopfe hatten, nach Maßgabe der Errungen¬ schaften der Technik ihrer Zeit darzustellen, wenn sie damit den Vorstellungs¬ inhalt und die Naturauffassung ihrer Zeitgenossen veredelten und ihre Be¬ wunderung hervorriefen, so wurden sie damit allen Bedingungen gerecht, von denen wir den Wert eines Kunstwerks abhängig macheu. In diesem Sinne gab es damals ebenso gut klassische Werke wie heute, wenn wir auch ihre dauernden Wirkungen nicht so gut erkennen können wie bei der griechischen oder der Renaissancekunst, bei der deutschen Kunst des sechzehnten oder der holländischen des siebzehnten Jahrhunderts. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/158>, abgerufen am 01.09.2024.