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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Nnmaßgebliches

die Jugend im Kaukasus oder gar in deu russischen Ostseeprovinzen einwirken.
Wie soll ein Zusammenarbeiten zwischen dem Lehrer und den Schülern möglich
sein, wenn der Lehrer mit den der Provinz eigentümlichen Gewohnheiten völlig
unbekannt ist? Kommt nun noch hinzu, daß Lehrer und Schuler verschiedner Natio¬
nalität und Religion sind, so ist der Boden für ein gewisses Mißtrauen, das sich bei
den Schülern oft bis zur offnen Feindschaft zu steigern Pflegt, vorbereitet. Und wie¬
viel Nationalitäten und Religionen giebt es in dem großen Rußland, das seine Arme
vom Herzen Europas bis zu den äußersten Gestaden des Stillen Ozeans erstreckt!

Endlich schlägt für deu Schüler die Stunde der Befreiung; das Abiturienten-
examen ist glücklich überwunden, hinter dem Jünglinge schließen sich die engen
Pforten der Schule, er ist frei, und die Welt steht ihm offen. Doch halt! Schon
bet dem ersten Schritt außerhalb des Ghmnasiums fühlt er eine Fessel; er hat
nämlich nicht das Recht, sich eine Universität selbst zu wählen, er muß sich den
Bestimmungen unterwerfen, wonach die verschiednen Universitäten nur Hörer aus
bestimmten Gouvernements aufnehmen dürfen. Doch er unterwirft sich gern diesem
Zwang, denn dahinter winkt ja die Freiheit des Burschenlebens! -- Ein Student
Westeuropas kann sich keinen Begriff davon machen, wie wenig Annehmlichkeiten
dem russischen Kommilitonen das Burscheuleben bietet. Alls Schritt und Tritt
verfolgen den russischen Studenten Verordnungen, die seine persönliche Freiheit ein¬
schränken, in der ihn überall als Studenten kennzeichnenden Uniform fühlt er jeder¬
zeit das Auge des Gesetzes mit "besondern: Wohlwollen" ans sich ruhen, denn
der russische Student steht im ganzen Reich unter Polizeiaufsicht! Ist er eine
stille Natur, die sich nur ihren Studien und Arbeiten widmet, so kommt er nicht
dazu, die ihm gezognen engen Grenzen zu überschreiten und dadurch in Konflikt
mit der Obrigkeit zu geraten, hat er aber wie die Mehrzahl der jungen Leute
das Bedürfnis, sich auszutoben oder sich die Hörner abzulaufen, dann wehe ihm!

Jede Nation hat einen ihrer Art entsprechenden Blitzableiter für die über¬
schäumende Jngendkrnft der in dem neuen Gefühl der Freiheit schwelgenden
Jünglingsseele. Nur die russische Hochschule erlaubt dem jungen Manne nichts der¬
gleichen, sondern erstickt noch mit Macht den sich hier und da regenden ungefähr¬
lichen Freiheitsdrang, während vielleicht gerade die russische Natur, eine impulsive,
leicht für das Edle, rein Menschliche begeistrnngsfähige, mehr als andre Naturen
einer Ablenkung in ein harmloses, ungefährliches Fahrwasser bedürfte. Sich zu
Korporationen oder Vereinen zusammenzuthun verbietet das Universitätsstatut,
ja sobald mehr als sechs junge Leute auf der Wohnung eines Kameraden zusammen
sind, müssen sie der Polizei Meldung erstatten, widrigenfalls jeder Schutzmann
das Recht und sogar die Pflicht hat, sie zum Anseinandergehn aufzufordern. Der
Sport ist in Rußland noch wenig bekannt und beliebt, auch bringt er viele Aus¬
gaben mit sich, die der russische Student in den meisten Fällen nicht zu leisten im¬
stande ist. Dazu kommt, daß das Zusammenschließen zu Vereinen, Gesellschaften usw.,
-ein unbedingtes Erfordernis zur gedeihlichen Entwicklung des Sports, durch die
Universitntsbehörde verboten wird.

Viele Zeitschriften und Bücher sind in Nußland verboten. Bei "Verdächtigen"
können durch die Gendarmerie zu jeder Tages- und Nachtzeit Haussuchungen vor¬
genommen werden. Dieser Zustand wird noch verschlimmert durch eine wachsende
Denunzianten-und Spionenwirtschnft. So hatte sich z. B. jüngst ans einer geheimen
Versammlung, die trotz des Verbots doch zustciude gekommen war, ein Angeber in
der Uniform eines Studenten eingeschlichen; er hielt eine zündende Rede über
Freiheit, Gleichheit usw.; die begeistrungsfcihigen Hörer wurden fortgerissen und
ließen sich zu nhulichen unvorsichtigen Reden verleiten. Die Folge davon war, daß sie
auf die Denunziation des Angebers zur Verantwortung gezogen wurden. Mau male
sich aus, wie ein solcher Vorfall auf junge, empfängliche Gemüter wirken muß.

Durch das Fehlen irgend einer Ablenkung während der Sturm- und Drang-
periode der Jünglingsjahre, durch die ihm überall in den Weg tretenden Vorschriften
und Verbote, durch das Mißtrauen, das der russische Student häufig seinen Kom-


Maßgebliches und Nnmaßgebliches

die Jugend im Kaukasus oder gar in deu russischen Ostseeprovinzen einwirken.
Wie soll ein Zusammenarbeiten zwischen dem Lehrer und den Schülern möglich
sein, wenn der Lehrer mit den der Provinz eigentümlichen Gewohnheiten völlig
unbekannt ist? Kommt nun noch hinzu, daß Lehrer und Schuler verschiedner Natio¬
nalität und Religion sind, so ist der Boden für ein gewisses Mißtrauen, das sich bei
den Schülern oft bis zur offnen Feindschaft zu steigern Pflegt, vorbereitet. Und wie¬
viel Nationalitäten und Religionen giebt es in dem großen Rußland, das seine Arme
vom Herzen Europas bis zu den äußersten Gestaden des Stillen Ozeans erstreckt!

Endlich schlägt für deu Schüler die Stunde der Befreiung; das Abiturienten-
examen ist glücklich überwunden, hinter dem Jünglinge schließen sich die engen
Pforten der Schule, er ist frei, und die Welt steht ihm offen. Doch halt! Schon
bet dem ersten Schritt außerhalb des Ghmnasiums fühlt er eine Fessel; er hat
nämlich nicht das Recht, sich eine Universität selbst zu wählen, er muß sich den
Bestimmungen unterwerfen, wonach die verschiednen Universitäten nur Hörer aus
bestimmten Gouvernements aufnehmen dürfen. Doch er unterwirft sich gern diesem
Zwang, denn dahinter winkt ja die Freiheit des Burschenlebens! — Ein Student
Westeuropas kann sich keinen Begriff davon machen, wie wenig Annehmlichkeiten
dem russischen Kommilitonen das Burscheuleben bietet. Alls Schritt und Tritt
verfolgen den russischen Studenten Verordnungen, die seine persönliche Freiheit ein¬
schränken, in der ihn überall als Studenten kennzeichnenden Uniform fühlt er jeder¬
zeit das Auge des Gesetzes mit „besondern: Wohlwollen" ans sich ruhen, denn
der russische Student steht im ganzen Reich unter Polizeiaufsicht! Ist er eine
stille Natur, die sich nur ihren Studien und Arbeiten widmet, so kommt er nicht
dazu, die ihm gezognen engen Grenzen zu überschreiten und dadurch in Konflikt
mit der Obrigkeit zu geraten, hat er aber wie die Mehrzahl der jungen Leute
das Bedürfnis, sich auszutoben oder sich die Hörner abzulaufen, dann wehe ihm!

Jede Nation hat einen ihrer Art entsprechenden Blitzableiter für die über¬
schäumende Jngendkrnft der in dem neuen Gefühl der Freiheit schwelgenden
Jünglingsseele. Nur die russische Hochschule erlaubt dem jungen Manne nichts der¬
gleichen, sondern erstickt noch mit Macht den sich hier und da regenden ungefähr¬
lichen Freiheitsdrang, während vielleicht gerade die russische Natur, eine impulsive,
leicht für das Edle, rein Menschliche begeistrnngsfähige, mehr als andre Naturen
einer Ablenkung in ein harmloses, ungefährliches Fahrwasser bedürfte. Sich zu
Korporationen oder Vereinen zusammenzuthun verbietet das Universitätsstatut,
ja sobald mehr als sechs junge Leute auf der Wohnung eines Kameraden zusammen
sind, müssen sie der Polizei Meldung erstatten, widrigenfalls jeder Schutzmann
das Recht und sogar die Pflicht hat, sie zum Anseinandergehn aufzufordern. Der
Sport ist in Rußland noch wenig bekannt und beliebt, auch bringt er viele Aus¬
gaben mit sich, die der russische Student in den meisten Fällen nicht zu leisten im¬
stande ist. Dazu kommt, daß das Zusammenschließen zu Vereinen, Gesellschaften usw.,
-ein unbedingtes Erfordernis zur gedeihlichen Entwicklung des Sports, durch die
Universitntsbehörde verboten wird.

Viele Zeitschriften und Bücher sind in Nußland verboten. Bei „Verdächtigen"
können durch die Gendarmerie zu jeder Tages- und Nachtzeit Haussuchungen vor¬
genommen werden. Dieser Zustand wird noch verschlimmert durch eine wachsende
Denunzianten-und Spionenwirtschnft. So hatte sich z. B. jüngst ans einer geheimen
Versammlung, die trotz des Verbots doch zustciude gekommen war, ein Angeber in
der Uniform eines Studenten eingeschlichen; er hielt eine zündende Rede über
Freiheit, Gleichheit usw.; die begeistrungsfcihigen Hörer wurden fortgerissen und
ließen sich zu nhulichen unvorsichtigen Reden verleiten. Die Folge davon war, daß sie
auf die Denunziation des Angebers zur Verantwortung gezogen wurden. Mau male
sich aus, wie ein solcher Vorfall auf junge, empfängliche Gemüter wirken muß.

Durch das Fehlen irgend einer Ablenkung während der Sturm- und Drang-
periode der Jünglingsjahre, durch die ihm überall in den Weg tretenden Vorschriften
und Verbote, durch das Mißtrauen, das der russische Student häufig seinen Kom-


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[0351] Maßgebliches und Nnmaßgebliches die Jugend im Kaukasus oder gar in deu russischen Ostseeprovinzen einwirken. Wie soll ein Zusammenarbeiten zwischen dem Lehrer und den Schülern möglich sein, wenn der Lehrer mit den der Provinz eigentümlichen Gewohnheiten völlig unbekannt ist? Kommt nun noch hinzu, daß Lehrer und Schuler verschiedner Natio¬ nalität und Religion sind, so ist der Boden für ein gewisses Mißtrauen, das sich bei den Schülern oft bis zur offnen Feindschaft zu steigern Pflegt, vorbereitet. Und wie¬ viel Nationalitäten und Religionen giebt es in dem großen Rußland, das seine Arme vom Herzen Europas bis zu den äußersten Gestaden des Stillen Ozeans erstreckt! Endlich schlägt für deu Schüler die Stunde der Befreiung; das Abiturienten- examen ist glücklich überwunden, hinter dem Jünglinge schließen sich die engen Pforten der Schule, er ist frei, und die Welt steht ihm offen. Doch halt! Schon bet dem ersten Schritt außerhalb des Ghmnasiums fühlt er eine Fessel; er hat nämlich nicht das Recht, sich eine Universität selbst zu wählen, er muß sich den Bestimmungen unterwerfen, wonach die verschiednen Universitäten nur Hörer aus bestimmten Gouvernements aufnehmen dürfen. Doch er unterwirft sich gern diesem Zwang, denn dahinter winkt ja die Freiheit des Burschenlebens! — Ein Student Westeuropas kann sich keinen Begriff davon machen, wie wenig Annehmlichkeiten dem russischen Kommilitonen das Burscheuleben bietet. Alls Schritt und Tritt verfolgen den russischen Studenten Verordnungen, die seine persönliche Freiheit ein¬ schränken, in der ihn überall als Studenten kennzeichnenden Uniform fühlt er jeder¬ zeit das Auge des Gesetzes mit „besondern: Wohlwollen" ans sich ruhen, denn der russische Student steht im ganzen Reich unter Polizeiaufsicht! Ist er eine stille Natur, die sich nur ihren Studien und Arbeiten widmet, so kommt er nicht dazu, die ihm gezognen engen Grenzen zu überschreiten und dadurch in Konflikt mit der Obrigkeit zu geraten, hat er aber wie die Mehrzahl der jungen Leute das Bedürfnis, sich auszutoben oder sich die Hörner abzulaufen, dann wehe ihm! Jede Nation hat einen ihrer Art entsprechenden Blitzableiter für die über¬ schäumende Jngendkrnft der in dem neuen Gefühl der Freiheit schwelgenden Jünglingsseele. Nur die russische Hochschule erlaubt dem jungen Manne nichts der¬ gleichen, sondern erstickt noch mit Macht den sich hier und da regenden ungefähr¬ lichen Freiheitsdrang, während vielleicht gerade die russische Natur, eine impulsive, leicht für das Edle, rein Menschliche begeistrnngsfähige, mehr als andre Naturen einer Ablenkung in ein harmloses, ungefährliches Fahrwasser bedürfte. Sich zu Korporationen oder Vereinen zusammenzuthun verbietet das Universitätsstatut, ja sobald mehr als sechs junge Leute auf der Wohnung eines Kameraden zusammen sind, müssen sie der Polizei Meldung erstatten, widrigenfalls jeder Schutzmann das Recht und sogar die Pflicht hat, sie zum Anseinandergehn aufzufordern. Der Sport ist in Rußland noch wenig bekannt und beliebt, auch bringt er viele Aus¬ gaben mit sich, die der russische Student in den meisten Fällen nicht zu leisten im¬ stande ist. Dazu kommt, daß das Zusammenschließen zu Vereinen, Gesellschaften usw., -ein unbedingtes Erfordernis zur gedeihlichen Entwicklung des Sports, durch die Universitntsbehörde verboten wird. Viele Zeitschriften und Bücher sind in Nußland verboten. Bei „Verdächtigen" können durch die Gendarmerie zu jeder Tages- und Nachtzeit Haussuchungen vor¬ genommen werden. Dieser Zustand wird noch verschlimmert durch eine wachsende Denunzianten-und Spionenwirtschnft. So hatte sich z. B. jüngst ans einer geheimen Versammlung, die trotz des Verbots doch zustciude gekommen war, ein Angeber in der Uniform eines Studenten eingeschlichen; er hielt eine zündende Rede über Freiheit, Gleichheit usw.; die begeistrungsfcihigen Hörer wurden fortgerissen und ließen sich zu nhulichen unvorsichtigen Reden verleiten. Die Folge davon war, daß sie auf die Denunziation des Angebers zur Verantwortung gezogen wurden. Mau male sich aus, wie ein solcher Vorfall auf junge, empfängliche Gemüter wirken muß. Durch das Fehlen irgend einer Ablenkung während der Sturm- und Drang- periode der Jünglingsjahre, durch die ihm überall in den Weg tretenden Vorschriften und Verbote, durch das Mißtrauen, das der russische Student häufig seinen Kom-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/351>, abgerufen am 29.06.2024.