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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Bahn frei!

das waren, abgesehen von den nur gerüchtweise vorhandnen geheimen Stimu¬
lationen, die beiden Hauptpunkte des Vertrags. Er ist zwar gegen Deutsch¬
land gerichtet, und es wird, insoweit dabei französische Wünsche und Er¬
wartungen in Betracht kommen, auf das Fell des deutschen Büren gehofft,
aber es liegt uns fern, aus deutschpatriotischeu Gründen an einem Vertrage
mäkeln zu wollen, für dessen Beurteilung nur die Frage maßgebend sein kann,
ob er im Nutzen derer lag, die ihn abschlossen. Und diesem Erfordernis ent¬
sprach er offenbar durchaus. Nußland brauchte französisches Kapital, Frank¬
reich dem eignen Volk und dem Auslande gegenüber eine Erhöhung seines
Prestige. Beides konnte der eine dem andern gewähren, und die russische
Diplomatie, die keiner andern nachsteht, war vorsichtig genug gewesen, sich so
einzurichten, daß der russische Finanzminister das französische Geld vorgeschossen
erhielt, ohne daß sich der russische Kriegsminister mit einer Mobilmachung in
Unkosten zu stürzen brauchte.

Daß das Bündnis, insoweit dessen Bestimmungen veröffentlicht worden
sind, nur defensive, nicht auch offensive Zwecke verfolgt, ist in den Augen der
französischen Chauvinisten sein Hauptfehler, und wenn man den dem Kaiser
Nikolaus dein Zweiten in Frankreich zu teil gewordnen Empfang aufmerksam
beobachtet hat, so wird man bemerkt haben, daß das russische Bündnis in
Frankreich sehr populär ist, daß die französische Republik in jedem der beiden
Fälle an entgegenkommenden, bisweilen sogar etwas byzantinischen Aufmerk¬
samkeiten mindestens ebensoviel geleistet hat, als dies eine monarchische Re¬
gierung Hütte thun können, und daß mau franzvsischerseits uach Möglichkeit
bestrebt gewesen ist, die französische Armee und die französische Flotte als die
Teile des Staatskörpers in den Vordergrund zu stellen, die das Bündnis vor
allen andern angehe, was man doch offenbar nicht hätte zu thun brauchen,
wenn es sich, wie behauptet wurde, nur um die Förderung und die Sicherung
des europäischen Friedens und Gleichgewichts gehandelt Hütte.

Der Leser muß uns hier auf einem Abstecher zum Se. Petersburger Hof
begleiten, da ein kurzer Überblick über die dortigen Verhültnisse für die Be¬
urteilung der durch den Vertrag geschaffnen Lage wimschenswert, und es uns
auch darum zu thun ist, dem einen oder dem andern Leser, der vielleicht den
Verhältnissen ferner stehn könnte, einen Maßstab dafür an die Hand zu geben,
wieviel nach unsrer Meinung der deutschen Regierung über etwaige geheime
Separatbestimmuugen des Vertrags bekannt sein könnte.

Die Romanows unsrer Tage sind, um es mit drei Worten zu sagen, alle
noble Charaktere gewesen, und nach dem, was man in wohlunterrichteten
Kreisen über Nikolaus II. hört, dürfte er ein pflichttreuer, gewissenhafter, durch
seinen Charakter den Thron in jeder Weise zierender Monarch sein. Wenn
es weiterhin wahr ist, daß er einen scharfen, richtigen Blick für Menschen hat
und denen seiner Berater, die sein Vertrauen genießen, ziemlich weiten Spiel¬
raum läßt, so kaun sich das rassische Volk zu diesem kaum vierunddreißigjührigen
Herrscher wohl gratulieren.

Deutschfreundlich, wie er es in den drei ersten Vierteln des vorigen Jahr¬
hunderts war, ist der russische Hof nicht mehr: was von Zeit zu Zeit geschieht,


Bahn frei!

das waren, abgesehen von den nur gerüchtweise vorhandnen geheimen Stimu¬
lationen, die beiden Hauptpunkte des Vertrags. Er ist zwar gegen Deutsch¬
land gerichtet, und es wird, insoweit dabei französische Wünsche und Er¬
wartungen in Betracht kommen, auf das Fell des deutschen Büren gehofft,
aber es liegt uns fern, aus deutschpatriotischeu Gründen an einem Vertrage
mäkeln zu wollen, für dessen Beurteilung nur die Frage maßgebend sein kann,
ob er im Nutzen derer lag, die ihn abschlossen. Und diesem Erfordernis ent¬
sprach er offenbar durchaus. Nußland brauchte französisches Kapital, Frank¬
reich dem eignen Volk und dem Auslande gegenüber eine Erhöhung seines
Prestige. Beides konnte der eine dem andern gewähren, und die russische
Diplomatie, die keiner andern nachsteht, war vorsichtig genug gewesen, sich so
einzurichten, daß der russische Finanzminister das französische Geld vorgeschossen
erhielt, ohne daß sich der russische Kriegsminister mit einer Mobilmachung in
Unkosten zu stürzen brauchte.

Daß das Bündnis, insoweit dessen Bestimmungen veröffentlicht worden
sind, nur defensive, nicht auch offensive Zwecke verfolgt, ist in den Augen der
französischen Chauvinisten sein Hauptfehler, und wenn man den dem Kaiser
Nikolaus dein Zweiten in Frankreich zu teil gewordnen Empfang aufmerksam
beobachtet hat, so wird man bemerkt haben, daß das russische Bündnis in
Frankreich sehr populär ist, daß die französische Republik in jedem der beiden
Fälle an entgegenkommenden, bisweilen sogar etwas byzantinischen Aufmerk¬
samkeiten mindestens ebensoviel geleistet hat, als dies eine monarchische Re¬
gierung Hütte thun können, und daß mau franzvsischerseits uach Möglichkeit
bestrebt gewesen ist, die französische Armee und die französische Flotte als die
Teile des Staatskörpers in den Vordergrund zu stellen, die das Bündnis vor
allen andern angehe, was man doch offenbar nicht hätte zu thun brauchen,
wenn es sich, wie behauptet wurde, nur um die Förderung und die Sicherung
des europäischen Friedens und Gleichgewichts gehandelt Hütte.

Der Leser muß uns hier auf einem Abstecher zum Se. Petersburger Hof
begleiten, da ein kurzer Überblick über die dortigen Verhültnisse für die Be¬
urteilung der durch den Vertrag geschaffnen Lage wimschenswert, und es uns
auch darum zu thun ist, dem einen oder dem andern Leser, der vielleicht den
Verhältnissen ferner stehn könnte, einen Maßstab dafür an die Hand zu geben,
wieviel nach unsrer Meinung der deutschen Regierung über etwaige geheime
Separatbestimmuugen des Vertrags bekannt sein könnte.

Die Romanows unsrer Tage sind, um es mit drei Worten zu sagen, alle
noble Charaktere gewesen, und nach dem, was man in wohlunterrichteten
Kreisen über Nikolaus II. hört, dürfte er ein pflichttreuer, gewissenhafter, durch
seinen Charakter den Thron in jeder Weise zierender Monarch sein. Wenn
es weiterhin wahr ist, daß er einen scharfen, richtigen Blick für Menschen hat
und denen seiner Berater, die sein Vertrauen genießen, ziemlich weiten Spiel¬
raum läßt, so kaun sich das rassische Volk zu diesem kaum vierunddreißigjührigen
Herrscher wohl gratulieren.

Deutschfreundlich, wie er es in den drei ersten Vierteln des vorigen Jahr¬
hunderts war, ist der russische Hof nicht mehr: was von Zeit zu Zeit geschieht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/242>, abgerufen am 22.07.2024.