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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Geistige Strömungen im Katholizismus

rissen ganz und gar von Europa abhängig waren, hat sich darin in den letzten
Jahrzehnten ein völliger Umschwung vollzogen. Die asketische und apologe¬
tische Litteratur hat sich selbständig ausgebildet, Darstellungen der systematischen
Theologie beginnen aufzutauchen, die Tageslitteratur hat sich machtvoll ent¬
wickelt, und die Belletristik einen erfreulichen Aufschwung genommen. Die
kritische Arbeit, soweit Archäologie, Patristik und Kirchengeschichte in Frage
kommen, die eigentliche Forschung auf dem Gebiete der Kunstgeschichte im
Dienste der Kirche ist dagegen über spärliche Anfänge noch nicht hinaus¬
gekommen; Europa muß hierfür noch alles liefern.

Während der Kampf gegen den offnen und den latenten Amerikanismus
ständig weitergeführt wird, sind zwei neue große Ideen in den Aktionsradius
der nordamerikanischen Katholiken eingetreten: ans der einen Seite das Ver¬
langen, die gesamte katholische Vereinsthätigkeit, soweit sie nicht ausschließlich
religiöser Natur ist, zu einem großen Bunde und so zu einer großen Macht
zusammenzuschließen, und auf der andern Seite das Bestreben, eine große
soziale Vereinigung zu schassen zur Abwehr sozialistischer Ideen und zur Ver¬
breitung gesunder Anschauungen auf dem Gebiete der praktischen Hilfsbereit¬
schaft für alle möglichen Lagen und Abstufungen. Wenn auch der erste Versuch,
die Vereine zusammenzuschließen, nicht gleich geglückt ist, und zwar hauptsächlich
Wege" der Abneigung der irischen gegenüber den fremdsprachigen Katholiken,
so wird man den Gedanken deswegen nicht fallen lassen. Wie es mit der
Verwirklichung des zweiten Gedankens gehn wird, läßt sich augenblicklich noch
nicht absehen.

Sieht man die Zustände im Katholizismus der Vereinigten Staaten in
ihrer Gesamtheit an, so muß man zu dem Schlüsse kommen, daß trotz der
großen Hierarchie noch sehr vieles im Fluß ist, daß noch reichlich Gärungs¬
stoffe vorhanden sind, und die heilsamen Beschlüsse der drei Plenarkonzilien
sür weite Striche nur auf dem Papiere vorhanden sind. Der solideste Ausbau
^'r kirchlichen Einrichtungen ist im allgemeinen in den deutschen Gemeinden
^'folgt, und bei den deutsch-amerikanischen Katholiken ist anch die größte
Summe gesund konservativen Geistes aufgehäuft. Diese Thatsache wird auch
den Kreisen anerkannt, die sonst den Deutschen durchaus nicht gewogen
sind. Eine unmittelbare Gefahr, daß eine tiefer gehende Krisis im katholischen
^"ger ausbrechen könnte, besteht zur Zeit uicht, obschon, wie angedeutet worden
^>t, lokale Gärungen ans dem Gebiete der Disziplin und allgemeine Dissonanzen
der Handhabung der Bibelkritik in Zukunft nicht ausbleiben werden, wie
si^ auch in der Vergangenheit vorhanden gewesen sind.




Obgleich es von Interesse sein könnte, von Kanada. Mittel- und Süd¬
amerika sowie Ostindien noch einige Einzelheiten zu berichten, so sei doch
hiermit die Übersicht abgeschlossen. Das Ergebnis unsrer Betrachtungen tann
^rz dahin zusammengefaßt werden, daß eine aufsehenerregende Regsauckell um
Katholizismus des zwanzigsten Jahrhunderts vorhanden ist. und daß aller¬
orten an einer Vertiefung der geistigen Probleme mit Macht gearbeitet mürb.


Grenzboten II 1302
Geistige Strömungen im Katholizismus

rissen ganz und gar von Europa abhängig waren, hat sich darin in den letzten
Jahrzehnten ein völliger Umschwung vollzogen. Die asketische und apologe¬
tische Litteratur hat sich selbständig ausgebildet, Darstellungen der systematischen
Theologie beginnen aufzutauchen, die Tageslitteratur hat sich machtvoll ent¬
wickelt, und die Belletristik einen erfreulichen Aufschwung genommen. Die
kritische Arbeit, soweit Archäologie, Patristik und Kirchengeschichte in Frage
kommen, die eigentliche Forschung auf dem Gebiete der Kunstgeschichte im
Dienste der Kirche ist dagegen über spärliche Anfänge noch nicht hinaus¬
gekommen; Europa muß hierfür noch alles liefern.

Während der Kampf gegen den offnen und den latenten Amerikanismus
ständig weitergeführt wird, sind zwei neue große Ideen in den Aktionsradius
der nordamerikanischen Katholiken eingetreten: ans der einen Seite das Ver¬
langen, die gesamte katholische Vereinsthätigkeit, soweit sie nicht ausschließlich
religiöser Natur ist, zu einem großen Bunde und so zu einer großen Macht
zusammenzuschließen, und auf der andern Seite das Bestreben, eine große
soziale Vereinigung zu schassen zur Abwehr sozialistischer Ideen und zur Ver¬
breitung gesunder Anschauungen auf dem Gebiete der praktischen Hilfsbereit¬
schaft für alle möglichen Lagen und Abstufungen. Wenn auch der erste Versuch,
die Vereine zusammenzuschließen, nicht gleich geglückt ist, und zwar hauptsächlich
Wege» der Abneigung der irischen gegenüber den fremdsprachigen Katholiken,
so wird man den Gedanken deswegen nicht fallen lassen. Wie es mit der
Verwirklichung des zweiten Gedankens gehn wird, läßt sich augenblicklich noch
nicht absehen.

Sieht man die Zustände im Katholizismus der Vereinigten Staaten in
ihrer Gesamtheit an, so muß man zu dem Schlüsse kommen, daß trotz der
großen Hierarchie noch sehr vieles im Fluß ist, daß noch reichlich Gärungs¬
stoffe vorhanden sind, und die heilsamen Beschlüsse der drei Plenarkonzilien
sür weite Striche nur auf dem Papiere vorhanden sind. Der solideste Ausbau
^'r kirchlichen Einrichtungen ist im allgemeinen in den deutschen Gemeinden
^'folgt, und bei den deutsch-amerikanischen Katholiken ist anch die größte
Summe gesund konservativen Geistes aufgehäuft. Diese Thatsache wird auch
den Kreisen anerkannt, die sonst den Deutschen durchaus nicht gewogen
sind. Eine unmittelbare Gefahr, daß eine tiefer gehende Krisis im katholischen
^"ger ausbrechen könnte, besteht zur Zeit uicht, obschon, wie angedeutet worden
^>t, lokale Gärungen ans dem Gebiete der Disziplin und allgemeine Dissonanzen
der Handhabung der Bibelkritik in Zukunft nicht ausbleiben werden, wie
si^ auch in der Vergangenheit vorhanden gewesen sind.




Obgleich es von Interesse sein könnte, von Kanada. Mittel- und Süd¬
amerika sowie Ostindien noch einige Einzelheiten zu berichten, so sei doch
hiermit die Übersicht abgeschlossen. Das Ergebnis unsrer Betrachtungen tann
^rz dahin zusammengefaßt werden, daß eine aufsehenerregende Regsauckell um
Katholizismus des zwanzigsten Jahrhunderts vorhanden ist. und daß aller¬
orten an einer Vertiefung der geistigen Probleme mit Macht gearbeitet mürb.


Grenzboten II 1302
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[0201] Geistige Strömungen im Katholizismus rissen ganz und gar von Europa abhängig waren, hat sich darin in den letzten Jahrzehnten ein völliger Umschwung vollzogen. Die asketische und apologe¬ tische Litteratur hat sich selbständig ausgebildet, Darstellungen der systematischen Theologie beginnen aufzutauchen, die Tageslitteratur hat sich machtvoll ent¬ wickelt, und die Belletristik einen erfreulichen Aufschwung genommen. Die kritische Arbeit, soweit Archäologie, Patristik und Kirchengeschichte in Frage kommen, die eigentliche Forschung auf dem Gebiete der Kunstgeschichte im Dienste der Kirche ist dagegen über spärliche Anfänge noch nicht hinaus¬ gekommen; Europa muß hierfür noch alles liefern. Während der Kampf gegen den offnen und den latenten Amerikanismus ständig weitergeführt wird, sind zwei neue große Ideen in den Aktionsradius der nordamerikanischen Katholiken eingetreten: ans der einen Seite das Ver¬ langen, die gesamte katholische Vereinsthätigkeit, soweit sie nicht ausschließlich religiöser Natur ist, zu einem großen Bunde und so zu einer großen Macht zusammenzuschließen, und auf der andern Seite das Bestreben, eine große soziale Vereinigung zu schassen zur Abwehr sozialistischer Ideen und zur Ver¬ breitung gesunder Anschauungen auf dem Gebiete der praktischen Hilfsbereit¬ schaft für alle möglichen Lagen und Abstufungen. Wenn auch der erste Versuch, die Vereine zusammenzuschließen, nicht gleich geglückt ist, und zwar hauptsächlich Wege» der Abneigung der irischen gegenüber den fremdsprachigen Katholiken, so wird man den Gedanken deswegen nicht fallen lassen. Wie es mit der Verwirklichung des zweiten Gedankens gehn wird, läßt sich augenblicklich noch nicht absehen. Sieht man die Zustände im Katholizismus der Vereinigten Staaten in ihrer Gesamtheit an, so muß man zu dem Schlüsse kommen, daß trotz der großen Hierarchie noch sehr vieles im Fluß ist, daß noch reichlich Gärungs¬ stoffe vorhanden sind, und die heilsamen Beschlüsse der drei Plenarkonzilien sür weite Striche nur auf dem Papiere vorhanden sind. Der solideste Ausbau ^'r kirchlichen Einrichtungen ist im allgemeinen in den deutschen Gemeinden ^'folgt, und bei den deutsch-amerikanischen Katholiken ist anch die größte Summe gesund konservativen Geistes aufgehäuft. Diese Thatsache wird auch den Kreisen anerkannt, die sonst den Deutschen durchaus nicht gewogen sind. Eine unmittelbare Gefahr, daß eine tiefer gehende Krisis im katholischen ^"ger ausbrechen könnte, besteht zur Zeit uicht, obschon, wie angedeutet worden ^>t, lokale Gärungen ans dem Gebiete der Disziplin und allgemeine Dissonanzen der Handhabung der Bibelkritik in Zukunft nicht ausbleiben werden, wie si^ auch in der Vergangenheit vorhanden gewesen sind. Obgleich es von Interesse sein könnte, von Kanada. Mittel- und Süd¬ amerika sowie Ostindien noch einige Einzelheiten zu berichten, so sei doch hiermit die Übersicht abgeschlossen. Das Ergebnis unsrer Betrachtungen tann ^rz dahin zusammengefaßt werden, daß eine aufsehenerregende Regsauckell um Katholizismus des zwanzigsten Jahrhunderts vorhanden ist. und daß aller¬ orten an einer Vertiefung der geistigen Probleme mit Macht gearbeitet mürb. Grenzboten II 1302

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/201>, abgerufen am 26.06.2024.