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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Rnrsächsische Streifzüge

die rechte Schwester der Universitätsstadt Wittenberg; beide benannte er gern
mit griechischen Kosenamen, Wittenberg als Lenkoris, Torgau als Argelia, und
führte den Ursprung der gebildeten "Meißner" gern auf die griechischen Mysier
zurück, daher seine Verse:

Im Lande zu Meißen wol bekümt
Eine alte Stadt Torga genant

Ist vor Zeiten Griechisch fein
Argelia genant, Deutzsch Sonnenschein.
Und daß es doch nicht wunder nehm,
Wo sie zu diesen: Namen kein:
Der Griechen Nachbarn seind gewest
Die Meißner, so Hieher gereist
Aus Mühlen in Joula.

So zog der humanistische Geist allmählich von Wittenberg auch in die süd¬
liche Nachbarstadt ein: ein Beweis dafür liegt w der Veränderung der in
Torgau vom Mittelalter her üblichen dramatischen Aufführungen. Noch 1535
waren nach altem Brauche "die Historien von Joseph" gespielt worden. Aber
noch in demselben Jahre wurde die vou Johann Agricola verfaßte Tragödie
"Husz" vor dem Rate von Torgau, 1538 auch vor dem Hofe Johann Friedrichs
aufgeführt. Ein Jahrzehnt später (1549) führte der Rektor der Lateinschule,
Crodel, mit seinen Zöglingen ein Lustspiel des Terenz vor dem Rate in der
Trinkstube auf, und im Jahre 1553 spielten gar die Wittenberger Studenten,
da die Universität wegen der Pest nach Torgau verlegt worden war, ein Stück
des Plautus vor der Bürgerschaft. Diesem Stück ging ein besondrer Akt
Korans, worin Leukoris (Wittenberg) und Argelia (Torgau) auftraten. Leukoris
ist zu Argelia gekommen, ihre Söhne von ihr zurückzufordern, da sich der
"Pater Albis," der sie heimführen sollte, wegen des Eisgangs und des Kriegs¬
geschreis als taub gegen alle Bitten der Leukoris erwiesen hatte. Nun aber
wohnt er der Aufführung bei und freut sich der innigen Verbindung der
beiden Schwesterstädtc.

Übrigens sind nicht nur die kirchlichen und die humanistischen Erinnerungen
Torgaus interessant, sondern es hat auch bemerkenswerte rechtliche und soziale
Entwicklungen durchgemacht. An die nächst der Burg auf dem Felsen liegende
deutsche Altstadt -- die slawische "alte Stadt" lag außerhalb ihres Bezirks,
aber unter dem Schutze der Mauer -- wuchs im Laufe der Zeit nach Westen
zu die Neustadt an. Sie wurde insbesondre der Sitz der iruzro^ores (Kauf¬
leute), ne^vti^torös (Krämer), oxiüoes (Handwerker), moouaiüei (Schiffs- und
Hafenarbeiter), die eine Urkunde von 1343 als ihre Einwohner im Gegensatz
zu den Bürgern der Altstadt nennt. Der Verkehrsmittelpunkt der Neustadt
war der jetzige Markt, der kirchliche Mittelpunkt die jetzt als Gefängnis be¬
nutzte Kirche des Se. Nikolaus (hinter dem Rathause), der auch anderwärts
als Patron bürgerlicher Gewerbe, besonders der Kaufleute, Schiffer und Fischer
erscheint. Es vollzieht sich nun ein doppelter Rechtskampf. Einmal streben
die Bürger der Altstadt, die allein ratsfähig sind und sich als "Gefreundte"
des Rats zu einer Art Patriziat emporgeschwungen haben, die Gerichtshoheit


Grenzboten I 1902 77
Rnrsächsische Streifzüge

die rechte Schwester der Universitätsstadt Wittenberg; beide benannte er gern
mit griechischen Kosenamen, Wittenberg als Lenkoris, Torgau als Argelia, und
führte den Ursprung der gebildeten „Meißner" gern auf die griechischen Mysier
zurück, daher seine Verse:

Im Lande zu Meißen wol bekümt
Eine alte Stadt Torga genant

Ist vor Zeiten Griechisch fein
Argelia genant, Deutzsch Sonnenschein.
Und daß es doch nicht wunder nehm,
Wo sie zu diesen: Namen kein:
Der Griechen Nachbarn seind gewest
Die Meißner, so Hieher gereist
Aus Mühlen in Joula.

So zog der humanistische Geist allmählich von Wittenberg auch in die süd¬
liche Nachbarstadt ein: ein Beweis dafür liegt w der Veränderung der in
Torgau vom Mittelalter her üblichen dramatischen Aufführungen. Noch 1535
waren nach altem Brauche „die Historien von Joseph" gespielt worden. Aber
noch in demselben Jahre wurde die vou Johann Agricola verfaßte Tragödie
„Husz" vor dem Rate von Torgau, 1538 auch vor dem Hofe Johann Friedrichs
aufgeführt. Ein Jahrzehnt später (1549) führte der Rektor der Lateinschule,
Crodel, mit seinen Zöglingen ein Lustspiel des Terenz vor dem Rate in der
Trinkstube auf, und im Jahre 1553 spielten gar die Wittenberger Studenten,
da die Universität wegen der Pest nach Torgau verlegt worden war, ein Stück
des Plautus vor der Bürgerschaft. Diesem Stück ging ein besondrer Akt
Korans, worin Leukoris (Wittenberg) und Argelia (Torgau) auftraten. Leukoris
ist zu Argelia gekommen, ihre Söhne von ihr zurückzufordern, da sich der
"Pater Albis," der sie heimführen sollte, wegen des Eisgangs und des Kriegs¬
geschreis als taub gegen alle Bitten der Leukoris erwiesen hatte. Nun aber
wohnt er der Aufführung bei und freut sich der innigen Verbindung der
beiden Schwesterstädtc.

Übrigens sind nicht nur die kirchlichen und die humanistischen Erinnerungen
Torgaus interessant, sondern es hat auch bemerkenswerte rechtliche und soziale
Entwicklungen durchgemacht. An die nächst der Burg auf dem Felsen liegende
deutsche Altstadt — die slawische „alte Stadt" lag außerhalb ihres Bezirks,
aber unter dem Schutze der Mauer — wuchs im Laufe der Zeit nach Westen
zu die Neustadt an. Sie wurde insbesondre der Sitz der iruzro^ores (Kauf¬
leute), ne^vti^torös (Krämer), oxiüoes (Handwerker), moouaiüei (Schiffs- und
Hafenarbeiter), die eine Urkunde von 1343 als ihre Einwohner im Gegensatz
zu den Bürgern der Altstadt nennt. Der Verkehrsmittelpunkt der Neustadt
war der jetzige Markt, der kirchliche Mittelpunkt die jetzt als Gefängnis be¬
nutzte Kirche des Se. Nikolaus (hinter dem Rathause), der auch anderwärts
als Patron bürgerlicher Gewerbe, besonders der Kaufleute, Schiffer und Fischer
erscheint. Es vollzieht sich nun ein doppelter Rechtskampf. Einmal streben
die Bürger der Altstadt, die allein ratsfähig sind und sich als „Gefreundte"
des Rats zu einer Art Patriziat emporgeschwungen haben, die Gerichtshoheit


Grenzboten I 1902 77
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[0617] Rnrsächsische Streifzüge die rechte Schwester der Universitätsstadt Wittenberg; beide benannte er gern mit griechischen Kosenamen, Wittenberg als Lenkoris, Torgau als Argelia, und führte den Ursprung der gebildeten „Meißner" gern auf die griechischen Mysier zurück, daher seine Verse: Im Lande zu Meißen wol bekümt Eine alte Stadt Torga genant Ist vor Zeiten Griechisch fein Argelia genant, Deutzsch Sonnenschein. Und daß es doch nicht wunder nehm, Wo sie zu diesen: Namen kein: Der Griechen Nachbarn seind gewest Die Meißner, so Hieher gereist Aus Mühlen in Joula. So zog der humanistische Geist allmählich von Wittenberg auch in die süd¬ liche Nachbarstadt ein: ein Beweis dafür liegt w der Veränderung der in Torgau vom Mittelalter her üblichen dramatischen Aufführungen. Noch 1535 waren nach altem Brauche „die Historien von Joseph" gespielt worden. Aber noch in demselben Jahre wurde die vou Johann Agricola verfaßte Tragödie „Husz" vor dem Rate von Torgau, 1538 auch vor dem Hofe Johann Friedrichs aufgeführt. Ein Jahrzehnt später (1549) führte der Rektor der Lateinschule, Crodel, mit seinen Zöglingen ein Lustspiel des Terenz vor dem Rate in der Trinkstube auf, und im Jahre 1553 spielten gar die Wittenberger Studenten, da die Universität wegen der Pest nach Torgau verlegt worden war, ein Stück des Plautus vor der Bürgerschaft. Diesem Stück ging ein besondrer Akt Korans, worin Leukoris (Wittenberg) und Argelia (Torgau) auftraten. Leukoris ist zu Argelia gekommen, ihre Söhne von ihr zurückzufordern, da sich der "Pater Albis," der sie heimführen sollte, wegen des Eisgangs und des Kriegs¬ geschreis als taub gegen alle Bitten der Leukoris erwiesen hatte. Nun aber wohnt er der Aufführung bei und freut sich der innigen Verbindung der beiden Schwesterstädtc. Übrigens sind nicht nur die kirchlichen und die humanistischen Erinnerungen Torgaus interessant, sondern es hat auch bemerkenswerte rechtliche und soziale Entwicklungen durchgemacht. An die nächst der Burg auf dem Felsen liegende deutsche Altstadt — die slawische „alte Stadt" lag außerhalb ihres Bezirks, aber unter dem Schutze der Mauer — wuchs im Laufe der Zeit nach Westen zu die Neustadt an. Sie wurde insbesondre der Sitz der iruzro^ores (Kauf¬ leute), ne^vti^torös (Krämer), oxiüoes (Handwerker), moouaiüei (Schiffs- und Hafenarbeiter), die eine Urkunde von 1343 als ihre Einwohner im Gegensatz zu den Bürgern der Altstadt nennt. Der Verkehrsmittelpunkt der Neustadt war der jetzige Markt, der kirchliche Mittelpunkt die jetzt als Gefängnis be¬ nutzte Kirche des Se. Nikolaus (hinter dem Rathause), der auch anderwärts als Patron bürgerlicher Gewerbe, besonders der Kaufleute, Schiffer und Fischer erscheint. Es vollzieht sich nun ein doppelter Rechtskampf. Einmal streben die Bürger der Altstadt, die allein ratsfähig sind und sich als „Gefreundte" des Rats zu einer Art Patriziat emporgeschwungen haben, die Gerichtshoheit Grenzboten I 1902 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/617>, abgerufen am 20.10.2024.