Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.Lhile und Argentinien Argentinien andrerseits will von einer derartigen hydrographischen, nach¬ Eine Einigung über diese sich entgegenstehenden Auffassungen des Vertrags Mag man augenblicklich zwar, trotz des schon außerordentlich boshaften Von der Entscheidung des englischen Schiedsgerichts dürfte nach allem Lhile und Argentinien Argentinien andrerseits will von einer derartigen hydrographischen, nach¬ Eine Einigung über diese sich entgegenstehenden Auffassungen des Vertrags Mag man augenblicklich zwar, trotz des schon außerordentlich boshaften Von der Entscheidung des englischen Schiedsgerichts dürfte nach allem <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0594" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/237118"/> <fw type="header" place="top"> Lhile und Argentinien</fw><lb/> <p xml:id="ID_2468"> Argentinien andrerseits will von einer derartigen hydrographischen, nach¬<lb/> weislich veränderlichen Grenzlinie nichts wissen; eine solche müsse orographisch<lb/> bestimmt sein, ganz entsprechend dem Vertrage, der von den höchsten Gipfeln<lb/> der Cordillera de los Andes spreche und den natürlichen Grenzwall zwischen<lb/> beiden Ländern in erster Reihe als Grundlage für die Grenze hingestellt habe.</p><lb/> <p xml:id="ID_2469"> Eine Einigung über diese sich entgegenstehenden Auffassungen des Vertrags<lb/> erscheint, geographisch betrachtet, unmöglich, denn Kordillere und kontinentale<lb/> Wasserscheide fallen auseinander und verschieben sich immer mehr gegeneinander.<lb/> Nun haben zwar die beiden Länder den Austrag der Differenzen einem englischen<lb/> Schiedsgericht anheimgestellt, das nicht politisch, sondern nach geographischen<lb/> und diplomatischen Grundsätzen eine Lösung versuchen soll. Der Erfolg ist<lb/> vorauszusehen. Das Schiedsgericht wird ein Kompromiß zwischen den Ex¬<lb/> tremen der beiderseitigen Auffassungen vorschlagen, das aber keinen der beiden<lb/> Teile recht befriedigen wird. Das reiche, ausgedehnte Argentinien könnte zwar,<lb/> wirtschaftlich betrachtet, die Seelandschaft am Osthang der Kordillere ohne<lb/> schwere Beeinträchtigung entbehren, während Chile allerdings durch die Ver¬<lb/> dopplung seines Schmallandes um ein so günstiges Anbaugebiet in den Kon¬<lb/> tinent hinein ungeheuer gewinnen würde. Aber Argentinien wird sich aus<lb/> politischen Gründen nur in der äußersten Notlage zur Abtretung dieses Grenz¬<lb/> landes bequemen. Es ist angesichts der starken Rivalität zwischen den beiden<lb/> Staaten für die patagonische Republik ein Elsaß-Lothringen; einmal ist es<lb/> strategisch vom allerhöchsten Werte; den Besitz der bequemen östlichen Anden-<lb/> zugänge bis zu den Gipfeln hinauf kann es nicht leichter Hand dem Gegner<lb/> überlassen. Sodann aber drängt der- innere politische Zustand Argentiniens<lb/> mit seinen Unruhe» und Revolten die Regierung, sofern sie sich halten will,<lb/> zu energischem militärischem Auftreten in den die Parteien wieder vereinenden<lb/> nationalen Fragen und zu einer Ableitung der Volksleidenschaften nach außen<lb/> hin. In Chile liegen die politischen Zustände ähnlich. Zudem besteht dort,<lb/> genährt durch die günstigen Erfolge im Kampf mit Peru und Bolivin, eine<lb/> ausgesprochne kriegerische Stimmung, die der Präsident Errazuriz keineswegs<lb/> zu dämpfen geneigt scheint. Das in der neusten Zeit gemeldete Säbelgerassel<lb/> auf beiden Seiten bedeutet darum mehr als die übliche Methode, dem diplo¬<lb/> matischen Notenwechsel einen Nachdruck zu verleihn.</p><lb/> <p xml:id="ID_2470"> Mag man augenblicklich zwar, trotz des schon außerordentlich boshaften<lb/> Sperrens und Drängens der verantwortlichen politischen Vertreter, aus ge¬<lb/> wissen, überwiegend finanziellen Gründen, noch einmal auf beiden Seiten den<lb/> Rückzug anzutreten für geraten erachtet haben, friedlich wird man sich über<lb/> diese verzwickte, geographisch wandelbare und unlösbare Grenzfrage nicht einigen<lb/> können.</p><lb/> <p xml:id="ID_2471"> Von der Entscheidung des englischen Schiedsgerichts dürfte nach allem<lb/> kein Heil zu erhoffen sein, und bemerkenswerterweise hat ja auch die eng¬<lb/> lische Regierung jüngst, als sich der Grenzkonflikt zu einem kriegerischen Zu¬<lb/> sammenstoß zuzuspitzen drohte, den beiden Staaten nicht als Klienten des<lb/> Schiedsgerichts dessen Entscheid abzuwarten empfohlen, sondern vielmehr vor¬<lb/> gezogen, ihnen seine diplomatisch-politische Vermittlung anzubieten.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0594]
Lhile und Argentinien
Argentinien andrerseits will von einer derartigen hydrographischen, nach¬
weislich veränderlichen Grenzlinie nichts wissen; eine solche müsse orographisch
bestimmt sein, ganz entsprechend dem Vertrage, der von den höchsten Gipfeln
der Cordillera de los Andes spreche und den natürlichen Grenzwall zwischen
beiden Ländern in erster Reihe als Grundlage für die Grenze hingestellt habe.
Eine Einigung über diese sich entgegenstehenden Auffassungen des Vertrags
erscheint, geographisch betrachtet, unmöglich, denn Kordillere und kontinentale
Wasserscheide fallen auseinander und verschieben sich immer mehr gegeneinander.
Nun haben zwar die beiden Länder den Austrag der Differenzen einem englischen
Schiedsgericht anheimgestellt, das nicht politisch, sondern nach geographischen
und diplomatischen Grundsätzen eine Lösung versuchen soll. Der Erfolg ist
vorauszusehen. Das Schiedsgericht wird ein Kompromiß zwischen den Ex¬
tremen der beiderseitigen Auffassungen vorschlagen, das aber keinen der beiden
Teile recht befriedigen wird. Das reiche, ausgedehnte Argentinien könnte zwar,
wirtschaftlich betrachtet, die Seelandschaft am Osthang der Kordillere ohne
schwere Beeinträchtigung entbehren, während Chile allerdings durch die Ver¬
dopplung seines Schmallandes um ein so günstiges Anbaugebiet in den Kon¬
tinent hinein ungeheuer gewinnen würde. Aber Argentinien wird sich aus
politischen Gründen nur in der äußersten Notlage zur Abtretung dieses Grenz¬
landes bequemen. Es ist angesichts der starken Rivalität zwischen den beiden
Staaten für die patagonische Republik ein Elsaß-Lothringen; einmal ist es
strategisch vom allerhöchsten Werte; den Besitz der bequemen östlichen Anden-
zugänge bis zu den Gipfeln hinauf kann es nicht leichter Hand dem Gegner
überlassen. Sodann aber drängt der- innere politische Zustand Argentiniens
mit seinen Unruhe» und Revolten die Regierung, sofern sie sich halten will,
zu energischem militärischem Auftreten in den die Parteien wieder vereinenden
nationalen Fragen und zu einer Ableitung der Volksleidenschaften nach außen
hin. In Chile liegen die politischen Zustände ähnlich. Zudem besteht dort,
genährt durch die günstigen Erfolge im Kampf mit Peru und Bolivin, eine
ausgesprochne kriegerische Stimmung, die der Präsident Errazuriz keineswegs
zu dämpfen geneigt scheint. Das in der neusten Zeit gemeldete Säbelgerassel
auf beiden Seiten bedeutet darum mehr als die übliche Methode, dem diplo¬
matischen Notenwechsel einen Nachdruck zu verleihn.
Mag man augenblicklich zwar, trotz des schon außerordentlich boshaften
Sperrens und Drängens der verantwortlichen politischen Vertreter, aus ge¬
wissen, überwiegend finanziellen Gründen, noch einmal auf beiden Seiten den
Rückzug anzutreten für geraten erachtet haben, friedlich wird man sich über
diese verzwickte, geographisch wandelbare und unlösbare Grenzfrage nicht einigen
können.
Von der Entscheidung des englischen Schiedsgerichts dürfte nach allem
kein Heil zu erhoffen sein, und bemerkenswerterweise hat ja auch die eng¬
lische Regierung jüngst, als sich der Grenzkonflikt zu einem kriegerischen Zu¬
sammenstoß zuzuspitzen drohte, den beiden Staaten nicht als Klienten des
Schiedsgerichts dessen Entscheid abzuwarten empfohlen, sondern vielmehr vor¬
gezogen, ihnen seine diplomatisch-politische Vermittlung anzubieten.
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