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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Auch darüber steht das militärische Urteil jetzt fest, beiß es trotz aller wirklich
vorhandnen Schwierigkeiten möglich gewesen wäre, die Übergabe vier bis
fünf Wochen früher zu erzwingen, und dadurch möglicherweise den Krieg zu
beendigen, wenn von vornherein die Vorbereitungen entschlossener betrieben
worden wären. Wie die Belagerung am besten zu führen gewesen wäre,
darüber gehn die Ansichten noch etwas auseinander. Im Generalstab meint
man, daß nur eine förmliche Belagerung zum Erfolg geführt hätte; man steht
dabei wohl noch unter dem Banne der Ansichten von 1870 und verfüllt in
denselben Fehler wie damals, die wirkliche Leistungsfähigkeit der schweren
Geschütze zu unterschätzen. In den Kreisen, wo man diese voll zu würdigen
weiß, ist man zwar auch der Ansicht, daß die förmliche Belagerung der am
sichersten zum Ziele führende Weg war; wenn aber die dazu erforderliche
Infanterie nicht herbeizuschaffen war, so beweisen die großen Erfolge, die
namentlich im Osten und Norden erzielt wurden, daß auch eine Beschießung,
verbunden mit der Erstürmung von Se. Denis, zur Kapitulation geführt
hätte, wenn sie nur von vornherein mit der Kraft ausgeführt wurde, wie
der Nordangriff in der That eingeleitet worden ist.

Dagegen herrscht darüber ein einstimmiges Urteil, daß bei einer solchen
Belagerung die Verluste nicht nur nicht größer, sondern im Gegenteil kleiner
gewesen wären, wie sie thatsächlich waren, da dann die großen Ausfallschlachten
nicht stattgefunden hätten, zu deren Ausführung die Franzosen erst durch die
lange Unthätigkeit auf deutscher Seite den Mut und die innere Kraft ge¬
funden haben; auch die großen Verluste bei den Vorposten wären vermieden
worden.

Gegenüber diesem jetzt feststehenden militärischen Urteil ist es nicht ohne
Interesse, anch die letzte Äußerung eines unsrer Historiker darüber zu hören.
Professor Delbrück behauptet im Oktoberheft 1901 der Preußischen Jahrbücher,
daß der König, der Kronprinz und alle maßgebenden Generale, mit Ausnahme
von Roon, der Ansicht gewesen seien, "daß sowohl eine förmliche Belagerung
wie ein Bombardement eine ganz zwecklose Kraftverschwendung sein würde,"
und nennt das wirklich eingeschlague Verfahren "eine traurige Halbheit von
Bombardement und Belagerung, die uns viele brave Leute und unsägliche
Anstrengungen gekostet hat, ohne etwas zu nützen." Der sonst so belesene
Professor hat doch offenbar die schon 1899 veröffentlichte amtliche Korrespondenz
nicht gekannt, die die Ansicht des Königs klar ergiebt, sonst würde er den
direkt den König treffenden Vorwurf gewiß nicht ausgesprochen haben, noch
dazu ohne alle Begründung und im Gegensatz zu allen militärischen Urteilen.
In dem erwähnten Aufsatz findet sich über Bismarck, der ja auch die Be-
schießung wollte, folgendes Urteil: " Fürst Bismarck, dessen eindringender Ver¬
stand sonst eigentlich alle Gebiete beherrschte, verstand gerade von militärischen
Dingen sehr wenig." Ob dem Professor Delbrück denn nicht der Gedanke ge¬
kommen ist, daß dieser Satz anch ans ihn angewandt werden könne, da in der
That die Kriegführung eine Kunst ist, zu deren völliger Beherrschung positive
Fachkenntnisse gehören, wie sie nur durch längere Berufsthätigkeit erworben
werden können.


Auch darüber steht das militärische Urteil jetzt fest, beiß es trotz aller wirklich
vorhandnen Schwierigkeiten möglich gewesen wäre, die Übergabe vier bis
fünf Wochen früher zu erzwingen, und dadurch möglicherweise den Krieg zu
beendigen, wenn von vornherein die Vorbereitungen entschlossener betrieben
worden wären. Wie die Belagerung am besten zu führen gewesen wäre,
darüber gehn die Ansichten noch etwas auseinander. Im Generalstab meint
man, daß nur eine förmliche Belagerung zum Erfolg geführt hätte; man steht
dabei wohl noch unter dem Banne der Ansichten von 1870 und verfüllt in
denselben Fehler wie damals, die wirkliche Leistungsfähigkeit der schweren
Geschütze zu unterschätzen. In den Kreisen, wo man diese voll zu würdigen
weiß, ist man zwar auch der Ansicht, daß die förmliche Belagerung der am
sichersten zum Ziele führende Weg war; wenn aber die dazu erforderliche
Infanterie nicht herbeizuschaffen war, so beweisen die großen Erfolge, die
namentlich im Osten und Norden erzielt wurden, daß auch eine Beschießung,
verbunden mit der Erstürmung von Se. Denis, zur Kapitulation geführt
hätte, wenn sie nur von vornherein mit der Kraft ausgeführt wurde, wie
der Nordangriff in der That eingeleitet worden ist.

Dagegen herrscht darüber ein einstimmiges Urteil, daß bei einer solchen
Belagerung die Verluste nicht nur nicht größer, sondern im Gegenteil kleiner
gewesen wären, wie sie thatsächlich waren, da dann die großen Ausfallschlachten
nicht stattgefunden hätten, zu deren Ausführung die Franzosen erst durch die
lange Unthätigkeit auf deutscher Seite den Mut und die innere Kraft ge¬
funden haben; auch die großen Verluste bei den Vorposten wären vermieden
worden.

Gegenüber diesem jetzt feststehenden militärischen Urteil ist es nicht ohne
Interesse, anch die letzte Äußerung eines unsrer Historiker darüber zu hören.
Professor Delbrück behauptet im Oktoberheft 1901 der Preußischen Jahrbücher,
daß der König, der Kronprinz und alle maßgebenden Generale, mit Ausnahme
von Roon, der Ansicht gewesen seien, „daß sowohl eine förmliche Belagerung
wie ein Bombardement eine ganz zwecklose Kraftverschwendung sein würde,"
und nennt das wirklich eingeschlague Verfahren „eine traurige Halbheit von
Bombardement und Belagerung, die uns viele brave Leute und unsägliche
Anstrengungen gekostet hat, ohne etwas zu nützen." Der sonst so belesene
Professor hat doch offenbar die schon 1899 veröffentlichte amtliche Korrespondenz
nicht gekannt, die die Ansicht des Königs klar ergiebt, sonst würde er den
direkt den König treffenden Vorwurf gewiß nicht ausgesprochen haben, noch
dazu ohne alle Begründung und im Gegensatz zu allen militärischen Urteilen.
In dem erwähnten Aufsatz findet sich über Bismarck, der ja auch die Be-
schießung wollte, folgendes Urteil: „ Fürst Bismarck, dessen eindringender Ver¬
stand sonst eigentlich alle Gebiete beherrschte, verstand gerade von militärischen
Dingen sehr wenig." Ob dem Professor Delbrück denn nicht der Gedanke ge¬
kommen ist, daß dieser Satz anch ans ihn angewandt werden könne, da in der
That die Kriegführung eine Kunst ist, zu deren völliger Beherrschung positive
Fachkenntnisse gehören, wie sie nur durch längere Berufsthätigkeit erworben
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/196>, abgerufen am 06.02.2025.