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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Mont Se. Michel und der Michaelskultus

regelmäßigen Fluthöhen, der höchsten Europas, denen nur die im englischen
Golf von Bristol gleichkommen. Wie in der romantischen felsenumgrenzten Bucht
von Se. Malo, so betrügt in der flacher auslaufenden Bai von Cancale oder
Se. Michel der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser gegen 15 Meter.
Schroffe Gegensätze sind die Folge. An derselben Stelle, wo stolze Dampfer
den Verkehr vermittelten, sucht wenig Stunden später bei Se. Malo der Fischer
den taugbewachseneu felsigen Meeresboden nach zahlreichen Muscheln, Krebsen
und Polypen ab; bei Se. Michel überrascht die reißende Schnelligkeit, mit
der sich, dem Auge deutlich sichtbar, die Gezeiten umsetzen. In der flachen Bai
weicht das Wasser zur Ebbezeit 15 Kilometer weit nördlich vom Berge zurück,
dringt aber zur Flutzeit um ebensoviel darüber hinaus nach Süden in die
Bucht vou Se'lune vor. Der vom Wasser in sechs Stunden zurückgelegte Weg
beträgt also 30 Kilometer, die mittlere Geschwindigkeit 5 Kilometer in der
Stunde, die sich jedoch bei Wind ans derselben Richtung gewaltig steigern
kann. Daun, wenn der sogenannte ing.8czg.r6ti oder die l>g.rr"z zur Springflut
wird, nahen die Wogen nicht nur mit der Schnelligkeit eiues rüstigen Wandrers,
sondern mit der eines galoppierenden Pferdes. Wehe dem, der sich beim
Muschelfang oder bei lockender Wandrung auf dem feinen kalkigen Sande des
Watts verspätet hat! Schon die gewöhnliche Flut rückt schneller vor, als er
auf dem durchweichten Boden zurückweiche" könnte. Und zahlreich sind hier
vou jeher die Opfer des Meeres gewesen.

Aus diesem breiten, zweimal täglich überfluteten Küstenstreifen erhebt sich
beherrschend der Granitfels des Mont Se. Michel. Auch er gehört somit
halb dem Meere, halb dem Lande an. Ehe Aufschüttuugeu und ein
1500 Meter langer chaussiertcr Damm ihn seit 1879 dauernd mit dem Lande
verbanden, wurde er zweimal täglich zur unnahbaren Insel, und zweimal
täglich landfest war er über den Meeresgrund trocknen Fußes zu erreichen.
Wie ein Naturwunder erschien so der Berg, und erscheint er noch hente, wenn
er bald über blauen Fluten, bald über grünlichgelben, fenchtschimmernden
Sandflächen zwischen den Pappeln des Wegs dem ihm nahenden entgegeu-
leuchtet, schou von fern deutlich sichtbar und doch in dem eigentümlich zarten,
blanvioletten Dunst des Sommers wie verschleiert und unerreichbar gleich
einer Fata Morgana. Und steht man vor ihm, so bannt den Blick der
trotzige Hüter des Thals, die Seiten umpauzert mit starken Mauern und
Türmen, das Haupt gekrönt mit der "Merveille," der Abtei. Natur und
Kunst, innig verschmolzen, machten diese Klosterfestuug zu dem merkwürdigsten
Bauwerk Nordfrankreichs, dem, wie in einem frühern Artikel dieser Zeitschrift
über Mont Se. Michel schon hervorgehoben worden ist,in Deutschland kaum
die Marienburg zur Seite gesetzt werden kann. Seine Bedeutung rechtfertigt
wohl ein genaueres Eingehn auf die Geschichte des Bergs und die Entwick¬
lung des Michaelskultus überhaupt, sowie auf die Einzelheiten des Baus.



S. Ur. 16 vom 18. Avnl t90l .
Mont Se. Michel und der Michaelskultus

regelmäßigen Fluthöhen, der höchsten Europas, denen nur die im englischen
Golf von Bristol gleichkommen. Wie in der romantischen felsenumgrenzten Bucht
von Se. Malo, so betrügt in der flacher auslaufenden Bai von Cancale oder
Se. Michel der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser gegen 15 Meter.
Schroffe Gegensätze sind die Folge. An derselben Stelle, wo stolze Dampfer
den Verkehr vermittelten, sucht wenig Stunden später bei Se. Malo der Fischer
den taugbewachseneu felsigen Meeresboden nach zahlreichen Muscheln, Krebsen
und Polypen ab; bei Se. Michel überrascht die reißende Schnelligkeit, mit
der sich, dem Auge deutlich sichtbar, die Gezeiten umsetzen. In der flachen Bai
weicht das Wasser zur Ebbezeit 15 Kilometer weit nördlich vom Berge zurück,
dringt aber zur Flutzeit um ebensoviel darüber hinaus nach Süden in die
Bucht vou Se'lune vor. Der vom Wasser in sechs Stunden zurückgelegte Weg
beträgt also 30 Kilometer, die mittlere Geschwindigkeit 5 Kilometer in der
Stunde, die sich jedoch bei Wind ans derselben Richtung gewaltig steigern
kann. Daun, wenn der sogenannte ing.8czg.r6ti oder die l>g.rr«z zur Springflut
wird, nahen die Wogen nicht nur mit der Schnelligkeit eiues rüstigen Wandrers,
sondern mit der eines galoppierenden Pferdes. Wehe dem, der sich beim
Muschelfang oder bei lockender Wandrung auf dem feinen kalkigen Sande des
Watts verspätet hat! Schon die gewöhnliche Flut rückt schneller vor, als er
auf dem durchweichten Boden zurückweiche» könnte. Und zahlreich sind hier
vou jeher die Opfer des Meeres gewesen.

Aus diesem breiten, zweimal täglich überfluteten Küstenstreifen erhebt sich
beherrschend der Granitfels des Mont Se. Michel. Auch er gehört somit
halb dem Meere, halb dem Lande an. Ehe Aufschüttuugeu und ein
1500 Meter langer chaussiertcr Damm ihn seit 1879 dauernd mit dem Lande
verbanden, wurde er zweimal täglich zur unnahbaren Insel, und zweimal
täglich landfest war er über den Meeresgrund trocknen Fußes zu erreichen.
Wie ein Naturwunder erschien so der Berg, und erscheint er noch hente, wenn
er bald über blauen Fluten, bald über grünlichgelben, fenchtschimmernden
Sandflächen zwischen den Pappeln des Wegs dem ihm nahenden entgegeu-
leuchtet, schou von fern deutlich sichtbar und doch in dem eigentümlich zarten,
blanvioletten Dunst des Sommers wie verschleiert und unerreichbar gleich
einer Fata Morgana. Und steht man vor ihm, so bannt den Blick der
trotzige Hüter des Thals, die Seiten umpauzert mit starken Mauern und
Türmen, das Haupt gekrönt mit der „Merveille," der Abtei. Natur und
Kunst, innig verschmolzen, machten diese Klosterfestuug zu dem merkwürdigsten
Bauwerk Nordfrankreichs, dem, wie in einem frühern Artikel dieser Zeitschrift
über Mont Se. Michel schon hervorgehoben worden ist,in Deutschland kaum
die Marienburg zur Seite gesetzt werden kann. Seine Bedeutung rechtfertigt
wohl ein genaueres Eingehn auf die Geschichte des Bergs und die Entwick¬
lung des Michaelskultus überhaupt, sowie auf die Einzelheiten des Baus.



S. Ur. 16 vom 18. Avnl t90l .
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/90>, abgerufen am 27.07.2024.