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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Der Oiktaturxaragrcixh In Llfaß - Lothringen

einer einzigen Gesetzesbestimmung. Bon der Aufhebung des Diktaturpara-
graphen wird eine neue Ära des Glückes und der Freiheit erwartet, die Licht
und Luft, Leben und Bewegung in das angeblich unterdrückte und geknechtete
Land bringen soll, die mit einem Schlage aus unfreien "Heloten" freie Spar¬
taner, aus "Kettenhunden" Menschen machen soll.

Was ist nun der Grund für diese starke und einmütige Volksbewegung?
Was ist geschehn, daß alle Parteien eines ganzen Landes -- Franzosen und
Deutsche, Katholiken und Protestanten, Klerikale, Liberale und Sozialdemo-
kraten -- sich unter einer Fahne versammelt haben nud mit vereinten Kräften
ein gemeinsames Ziel erstreben? Welche Opfer muß der Diktaturparagraph
schon gefordert haben, daß er so viel Haß und Erbitterung hervorrufen konnte!

Ans diese Fragen erhalten u>ir die überraschende Antwort, daß im Laufe
von dreißig Jahren im ganzen sieben Deutsche - darunter zwei altdeutsche
Sozialdemokraten -- ans Elsaß-Lothringen ausgewiesen und neun unbedeutende
Lokalblätter unterdrückt worden sind. Die letzte Ausweisung ist im Jahre
1887 geschehn; die letzte Unterdrückung von Zeitungen ist im Jahre 1897
erfolgt. Diese wenigen Fülle, die zum größten Teil schon einer entfernte"
Vergangenheit angehören, reichen allein nicht ans, die Stärke und Nachhaltig¬
keit der gegen den Diktatnrparagraphen gerichteten Agitation zu erklären. Die
UnPopularität des Paragraphen beruht weniger auf dem, was geschehn ist,
als auf dem, was möglicherweise geschehn konnte nud uoch geschehn kann.
Nicht die praktische Handhabung, sondern die theoretische Bedeutung des
Diktatnrparagraphen ist es, was die Elsaß-Lothringer in Aufregung versetzt.
Nach der im Reichslande herrschenden Ansicht, die sogar in juristische Lehr¬
bücher Eingang gefunden hat, soll H 10 des Gesetzes vom 30. Dezember 1871
dem Statthalter eine unbegrenzte Gewalt verleihen. Weder Landesgesetze noch
Reichsgesetze, ja nicht einmal die Reichsverfassung sollen eine Schranke für
seine Machtvollkommenheit sein. Der Statthalter soll berechtigt sein, durch
einfache Verfügung jeden Bewohner von Elsaß-Lothringen seines Vermögens
zu berauben, ihn auf unbestimmte Zeit oder auf Lebenszeit einzusperren, ja
sogar ihn köpfen, hängen oder erschießen zu lassen. Wenn Uhland seinen
"Nachruf" nicht schon im Jahre 1817, sondern zwei Menschennlter später ge¬
dichtet hätte, so hätte er nach Ansicht der Elsaß-Lothringer singen müssen:
"Es ist ein Fürst so hochgefürstet usw." Dieser Fürst, der auf Grund des
Diktatnrparagraphen angeblich den Reichtum alles Rechtes in den Händen
hält, soll nicht etwa der Kaiser sein, sondern ein Unterthan, ein abhängiger,
jederzeit absetzbarer Beamter: der Oberpräsident von Elsaß-Lothringen und sein
Rechtsnachfolger, der kaiserliche Statthalter!

Die herrschende Auslegung des Diktaturparagraphen beruht auf einem
merkwürdigen Mißverständnis, auf einer interessanten Verwechslung deutscher
und französischer Rechtsbegriffe, auf der irrtümlichen Gleichstellung einer harm¬
losen preußischen Einrichtung mit einer der schlimmsten und gefährlichsten Institu¬
tionen des napoleonischen Polizeistaats.


Der Oiktaturxaragrcixh In Llfaß - Lothringen

einer einzigen Gesetzesbestimmung. Bon der Aufhebung des Diktaturpara-
graphen wird eine neue Ära des Glückes und der Freiheit erwartet, die Licht
und Luft, Leben und Bewegung in das angeblich unterdrückte und geknechtete
Land bringen soll, die mit einem Schlage aus unfreien „Heloten" freie Spar¬
taner, aus „Kettenhunden" Menschen machen soll.

Was ist nun der Grund für diese starke und einmütige Volksbewegung?
Was ist geschehn, daß alle Parteien eines ganzen Landes — Franzosen und
Deutsche, Katholiken und Protestanten, Klerikale, Liberale und Sozialdemo-
kraten — sich unter einer Fahne versammelt haben nud mit vereinten Kräften
ein gemeinsames Ziel erstreben? Welche Opfer muß der Diktaturparagraph
schon gefordert haben, daß er so viel Haß und Erbitterung hervorrufen konnte!

Ans diese Fragen erhalten u>ir die überraschende Antwort, daß im Laufe
von dreißig Jahren im ganzen sieben Deutsche - darunter zwei altdeutsche
Sozialdemokraten — ans Elsaß-Lothringen ausgewiesen und neun unbedeutende
Lokalblätter unterdrückt worden sind. Die letzte Ausweisung ist im Jahre
1887 geschehn; die letzte Unterdrückung von Zeitungen ist im Jahre 1897
erfolgt. Diese wenigen Fülle, die zum größten Teil schon einer entfernte»
Vergangenheit angehören, reichen allein nicht ans, die Stärke und Nachhaltig¬
keit der gegen den Diktatnrparagraphen gerichteten Agitation zu erklären. Die
UnPopularität des Paragraphen beruht weniger auf dem, was geschehn ist,
als auf dem, was möglicherweise geschehn konnte nud uoch geschehn kann.
Nicht die praktische Handhabung, sondern die theoretische Bedeutung des
Diktatnrparagraphen ist es, was die Elsaß-Lothringer in Aufregung versetzt.
Nach der im Reichslande herrschenden Ansicht, die sogar in juristische Lehr¬
bücher Eingang gefunden hat, soll H 10 des Gesetzes vom 30. Dezember 1871
dem Statthalter eine unbegrenzte Gewalt verleihen. Weder Landesgesetze noch
Reichsgesetze, ja nicht einmal die Reichsverfassung sollen eine Schranke für
seine Machtvollkommenheit sein. Der Statthalter soll berechtigt sein, durch
einfache Verfügung jeden Bewohner von Elsaß-Lothringen seines Vermögens
zu berauben, ihn auf unbestimmte Zeit oder auf Lebenszeit einzusperren, ja
sogar ihn köpfen, hängen oder erschießen zu lassen. Wenn Uhland seinen
„Nachruf" nicht schon im Jahre 1817, sondern zwei Menschennlter später ge¬
dichtet hätte, so hätte er nach Ansicht der Elsaß-Lothringer singen müssen:
„Es ist ein Fürst so hochgefürstet usw." Dieser Fürst, der auf Grund des
Diktatnrparagraphen angeblich den Reichtum alles Rechtes in den Händen
hält, soll nicht etwa der Kaiser sein, sondern ein Unterthan, ein abhängiger,
jederzeit absetzbarer Beamter: der Oberpräsident von Elsaß-Lothringen und sein
Rechtsnachfolger, der kaiserliche Statthalter!

Die herrschende Auslegung des Diktaturparagraphen beruht auf einem
merkwürdigen Mißverständnis, auf einer interessanten Verwechslung deutscher
und französischer Rechtsbegriffe, auf der irrtümlichen Gleichstellung einer harm¬
losen preußischen Einrichtung mit einer der schlimmsten und gefährlichsten Institu¬
tionen des napoleonischen Polizeistaats.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/76>, abgerufen am 27.07.2024.