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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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kühlem Kopf noch einmal von Fall zu Fall, Bild für Bild durchzuprüfen.
Mehrere Jahre habe ich mit dieser Selbstkritik zugebracht, aber das Ergebnis
blieb dasselbe: der Psendvgrünewald war Hans Cranach." Dieser "kühle
Kopf," die klare, nüchterne Beweisführung, die sich niemals selber täuscht, nie
ein Argument für stärker auszugeben versucht, als es wirklich ist, jeden Ein¬
wand, den ein denkender und urteilsfähiger Leser machen könnte, sich selber
macht, um ihn sofort zu entkräften -- sie gehen durch das ganze Buch. Sollte
auch durch weitere Forschungen Flechsigs selbst oder andrer das eine oder andre
Glied aus der Kette seiner Beweisführung ausgeschieden werden, die Kette als
Ganzes würde dadurch nichts von ihrer Kraft und Dauerhaftigkeit verlieren. Es
giebt aber auch in der Wissenschaft eine Art von sittlicher Lauterkeit, der aller
Schein, alles Geflunker, alle Eitelkeit, alles Geistreichthun zuwider ist, die
nur ein Ziel vor Angen hat: die Wahrheit. Auch von dieser Lauterkeit ist
Flechsigs Buch erfüllt. Kein Wunder, daß er sich dessen bewußt ist und in
dem Gefühl der Überlegenheit manch offnes und kräftiges Wort über Leicht¬
fertigkeit, Oberflächlichkeit, Kritiklosigkeit ausspricht.

Und noch ein andres Bewußtsein hat er und darf er haben. Wo er das
lateinische Trauergedicht Stigels bespricht, nennt er Schuchardts Übersetzung
"eine Vergewaltigung unsrer Muttersprache" und verspricht, in dem nächsten
Bande seiner "Cranachstudien," der sich namentlich mit Hans Cranach be¬
schäftigen soll, eine Übersetzung dieses Gedichts in "wirklichem Deutsch" zu geben.
So etwas kann nur einer versprechen, der weiß, was wirkliches Deutsch ist; und
Flechsig weiß es, sein Buch ist vortrefflich geschrieben, in so gutem Deutsch,
wie man es in fachwissenschaftlichen Werken leider nur ganz selten findet.


5^"


Auf der Alm

>le saß auf dem Bock neben dem Kutscher. Der blaue Schleier
flatterte bei der raschen Fahrt ein dem kecken Hütchen, das sie auf
dem Blondkopf trug, und das Gewirr des goldnen Haars, das unier
dem Hute hervorquoll, wehte ihr um das Geficht und die pracht¬
vollen Zöpfe wie ein leuchtender Schein im Sonnenglanz. Innen
um offnen Wagen saß Er auf dem Vordersitz, gegenüber seiner Mutter
und dem Geheimrat, der sich behaglich in die Ecke zurückkehrte, die Augen ver¬
gnügt über die wundervolle Natur rechts und links am Wege schweifen ließ und
o>e Reisegenossen auf den und jenen ihm schon vertrauten Punkt aufmerksam machte
u"o ihnen die Berge nannte. Die alte Dame folgte aufmerksam und mit freund¬
ete s ^'"^ Unterhaltung, aber von Zeit zu Zeit warf sie verstohlen einen
G< ^kümmerten Blick auf ihren Sohn, der halb zurückgewandt zu der schlanken
' "Malt auf dem Bock hinausschaute.


kühlem Kopf noch einmal von Fall zu Fall, Bild für Bild durchzuprüfen.
Mehrere Jahre habe ich mit dieser Selbstkritik zugebracht, aber das Ergebnis
blieb dasselbe: der Psendvgrünewald war Hans Cranach." Dieser „kühle
Kopf," die klare, nüchterne Beweisführung, die sich niemals selber täuscht, nie
ein Argument für stärker auszugeben versucht, als es wirklich ist, jeden Ein¬
wand, den ein denkender und urteilsfähiger Leser machen könnte, sich selber
macht, um ihn sofort zu entkräften — sie gehen durch das ganze Buch. Sollte
auch durch weitere Forschungen Flechsigs selbst oder andrer das eine oder andre
Glied aus der Kette seiner Beweisführung ausgeschieden werden, die Kette als
Ganzes würde dadurch nichts von ihrer Kraft und Dauerhaftigkeit verlieren. Es
giebt aber auch in der Wissenschaft eine Art von sittlicher Lauterkeit, der aller
Schein, alles Geflunker, alle Eitelkeit, alles Geistreichthun zuwider ist, die
nur ein Ziel vor Angen hat: die Wahrheit. Auch von dieser Lauterkeit ist
Flechsigs Buch erfüllt. Kein Wunder, daß er sich dessen bewußt ist und in
dem Gefühl der Überlegenheit manch offnes und kräftiges Wort über Leicht¬
fertigkeit, Oberflächlichkeit, Kritiklosigkeit ausspricht.

Und noch ein andres Bewußtsein hat er und darf er haben. Wo er das
lateinische Trauergedicht Stigels bespricht, nennt er Schuchardts Übersetzung
„eine Vergewaltigung unsrer Muttersprache" und verspricht, in dem nächsten
Bande seiner „Cranachstudien," der sich namentlich mit Hans Cranach be¬
schäftigen soll, eine Übersetzung dieses Gedichts in „wirklichem Deutsch" zu geben.
So etwas kann nur einer versprechen, der weiß, was wirkliches Deutsch ist; und
Flechsig weiß es, sein Buch ist vortrefflich geschrieben, in so gutem Deutsch,
wie man es in fachwissenschaftlichen Werken leider nur ganz selten findet.


5^»


Auf der Alm

>le saß auf dem Bock neben dem Kutscher. Der blaue Schleier
flatterte bei der raschen Fahrt ein dem kecken Hütchen, das sie auf
dem Blondkopf trug, und das Gewirr des goldnen Haars, das unier
dem Hute hervorquoll, wehte ihr um das Geficht und die pracht¬
vollen Zöpfe wie ein leuchtender Schein im Sonnenglanz. Innen
um offnen Wagen saß Er auf dem Vordersitz, gegenüber seiner Mutter
und dem Geheimrat, der sich behaglich in die Ecke zurückkehrte, die Augen ver¬
gnügt über die wundervolle Natur rechts und links am Wege schweifen ließ und
o>e Reisegenossen auf den und jenen ihm schon vertrauten Punkt aufmerksam machte
u"o ihnen die Berge nannte. Die alte Dame folgte aufmerksam und mit freund¬
ete s ^'"^ Unterhaltung, aber von Zeit zu Zeit warf sie verstohlen einen
G< ^kümmerten Blick auf ihren Sohn, der halb zurückgewandt zu der schlanken
' «Malt auf dem Bock hinausschaute.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/53>, abgerufen am 01.09.2024.