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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Der ältere jüngere Lranach

Flechsig ist gegenwärtig unstreitig der gründlichste Kenner der ältern
sächsischen Kunst, obwohl ihn seine amtliche Stellung -- er ist Beamter am
herzoglichen Museum in Braunschweig -- deu größten Teil des Jahres von
Sachsen fernhält. Aber er ist auch einer der gediegensten Forscher ans diesem
Gebiete, nicht einer von denen, die sich damit begnügen, alte Hof- oder Stadt¬
rechnungen durchzustöbern, unbekannte Künstler- und Handwerkernamen aus-
zugraben und diese mit erhaltnen oder auch verschollnen Kunstwerken in zweifel¬
haften Zusammenhang zu bringen, sondern einer von denen, die die Wissenschaft
wirklich fördern, indem sie in jahrelanger mühevoller methodischer Arbeit die
Autwort suchen auf ungelöste Fragen der Wissenschaft, Seine Hauptthätigkeit
hat er seit Jahren dem Studium Cranachs gewidmet, dem Meister, von dem
wir bis jetzt wohl die ungenügendste Kenntnis gehabt haben. Cranach war
1472 geboren, war also 1522 fünfzig Jahre alt. Wie viele Bilder mag er
bis dahin gemalt haben! Und wie wenige sind uns bekannt! Etwa zwanzig
Bilder unsrer Sammlungen sind es bis zum Jahre 1522, die unbestritten für
Werke Cranachs gelten. Diesen stehn etwa dreihundert gegenüber, die jenseits
seines funfzigsten Lebensjahres fallen, natürlich nicht alles Werke seiner Hand,
aber doch alle aus seiner Werkstatt hervorgegangen. So kommt es, daß die
meisten Kunstfreunde nur den alternden Cranach kennen, von dem werdenden
und gewordnen so gut wie nichts wissen. Und wie viel oder wie wenig von
jenen dreihundert Bildern des alternden Cranach stammen denn nun wirklich
von seiner Hand? Und was von andern Händen ? Und von welchen Händen?
An diese Fragen hat die Forschung bisher kaum gerührt.

Flechsigs Buch besteht in der Hauptsache aus drei Kapiteln. Das erste
behandelt die Holzschnitte und die Kupferstiche Cranachs bis zu seinem funfzigsten
Lebensjahre (1522), das zweite seine Tafelbilder aus derselben Zeit. In beiden
Kapiteln ist es dem Verfasser gelungen, die bisher bekannte Reihe von Werken
noch um ein paar weiter zurückliegende zu vervollständigen, in beide" ist er
bemüht, sie mit Hilfe innerer und äußerer Kennzeichen -- namentlich mit Hilfe
einer genauen Scheidung der verschiednen Monogramme und Künstlerzeichen,
deren sich Cranach bedient hat (der bekannten geflügelten Schlange in ihren
verschiednen Formen) -- in die richtige Reihenfolge ihrer Entstehung zu bringen
und so die Stilentwicklung des Künstlers zu zeigen. Dabei hat er auch
gründlich mit der Verwirrung aufgeräumt, die der gedankenlose Gebrauch der
Wörter "Jugend" und "Frühzeit" in der Litteratur über Cranach angerichtet
hat. Man scheint das Geburtsjahr Cranachs bisweilen geradezu vergessen
zu haben.

Diese beiden ersten Kapitel sind aber nur Vorarbeiten zu dem dritten,
dem eigentlichen Hauptkapitel des Buches, das die Überschrift trügt: "Die
Pseudvgrüuewaldfrage und ihre Lösung," und das uns auch den Anlaß giebt,
Flechsigs Buch hier attsführlich zu besprechen. Die sogenannte Pseudvgrünewald-
frage ist es, in der sich gleichsam die ganze Geschichte der modernen Kunst¬
wissenschaft von den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bis zur


Der ältere jüngere Lranach

Flechsig ist gegenwärtig unstreitig der gründlichste Kenner der ältern
sächsischen Kunst, obwohl ihn seine amtliche Stellung — er ist Beamter am
herzoglichen Museum in Braunschweig — deu größten Teil des Jahres von
Sachsen fernhält. Aber er ist auch einer der gediegensten Forscher ans diesem
Gebiete, nicht einer von denen, die sich damit begnügen, alte Hof- oder Stadt¬
rechnungen durchzustöbern, unbekannte Künstler- und Handwerkernamen aus-
zugraben und diese mit erhaltnen oder auch verschollnen Kunstwerken in zweifel¬
haften Zusammenhang zu bringen, sondern einer von denen, die die Wissenschaft
wirklich fördern, indem sie in jahrelanger mühevoller methodischer Arbeit die
Autwort suchen auf ungelöste Fragen der Wissenschaft, Seine Hauptthätigkeit
hat er seit Jahren dem Studium Cranachs gewidmet, dem Meister, von dem
wir bis jetzt wohl die ungenügendste Kenntnis gehabt haben. Cranach war
1472 geboren, war also 1522 fünfzig Jahre alt. Wie viele Bilder mag er
bis dahin gemalt haben! Und wie wenige sind uns bekannt! Etwa zwanzig
Bilder unsrer Sammlungen sind es bis zum Jahre 1522, die unbestritten für
Werke Cranachs gelten. Diesen stehn etwa dreihundert gegenüber, die jenseits
seines funfzigsten Lebensjahres fallen, natürlich nicht alles Werke seiner Hand,
aber doch alle aus seiner Werkstatt hervorgegangen. So kommt es, daß die
meisten Kunstfreunde nur den alternden Cranach kennen, von dem werdenden
und gewordnen so gut wie nichts wissen. Und wie viel oder wie wenig von
jenen dreihundert Bildern des alternden Cranach stammen denn nun wirklich
von seiner Hand? Und was von andern Händen ? Und von welchen Händen?
An diese Fragen hat die Forschung bisher kaum gerührt.

Flechsigs Buch besteht in der Hauptsache aus drei Kapiteln. Das erste
behandelt die Holzschnitte und die Kupferstiche Cranachs bis zu seinem funfzigsten
Lebensjahre (1522), das zweite seine Tafelbilder aus derselben Zeit. In beiden
Kapiteln ist es dem Verfasser gelungen, die bisher bekannte Reihe von Werken
noch um ein paar weiter zurückliegende zu vervollständigen, in beide» ist er
bemüht, sie mit Hilfe innerer und äußerer Kennzeichen — namentlich mit Hilfe
einer genauen Scheidung der verschiednen Monogramme und Künstlerzeichen,
deren sich Cranach bedient hat (der bekannten geflügelten Schlange in ihren
verschiednen Formen) — in die richtige Reihenfolge ihrer Entstehung zu bringen
und so die Stilentwicklung des Künstlers zu zeigen. Dabei hat er auch
gründlich mit der Verwirrung aufgeräumt, die der gedankenlose Gebrauch der
Wörter „Jugend" und „Frühzeit" in der Litteratur über Cranach angerichtet
hat. Man scheint das Geburtsjahr Cranachs bisweilen geradezu vergessen
zu haben.

Diese beiden ersten Kapitel sind aber nur Vorarbeiten zu dem dritten,
dem eigentlichen Hauptkapitel des Buches, das die Überschrift trügt: „Die
Pseudvgrüuewaldfrage und ihre Lösung," und das uns auch den Anlaß giebt,
Flechsigs Buch hier attsführlich zu besprechen. Die sogenannte Pseudvgrünewald-
frage ist es, in der sich gleichsam die ganze Geschichte der modernen Kunst¬
wissenschaft von den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bis zur


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[0042] Der ältere jüngere Lranach Flechsig ist gegenwärtig unstreitig der gründlichste Kenner der ältern sächsischen Kunst, obwohl ihn seine amtliche Stellung — er ist Beamter am herzoglichen Museum in Braunschweig — deu größten Teil des Jahres von Sachsen fernhält. Aber er ist auch einer der gediegensten Forscher ans diesem Gebiete, nicht einer von denen, die sich damit begnügen, alte Hof- oder Stadt¬ rechnungen durchzustöbern, unbekannte Künstler- und Handwerkernamen aus- zugraben und diese mit erhaltnen oder auch verschollnen Kunstwerken in zweifel¬ haften Zusammenhang zu bringen, sondern einer von denen, die die Wissenschaft wirklich fördern, indem sie in jahrelanger mühevoller methodischer Arbeit die Autwort suchen auf ungelöste Fragen der Wissenschaft, Seine Hauptthätigkeit hat er seit Jahren dem Studium Cranachs gewidmet, dem Meister, von dem wir bis jetzt wohl die ungenügendste Kenntnis gehabt haben. Cranach war 1472 geboren, war also 1522 fünfzig Jahre alt. Wie viele Bilder mag er bis dahin gemalt haben! Und wie wenige sind uns bekannt! Etwa zwanzig Bilder unsrer Sammlungen sind es bis zum Jahre 1522, die unbestritten für Werke Cranachs gelten. Diesen stehn etwa dreihundert gegenüber, die jenseits seines funfzigsten Lebensjahres fallen, natürlich nicht alles Werke seiner Hand, aber doch alle aus seiner Werkstatt hervorgegangen. So kommt es, daß die meisten Kunstfreunde nur den alternden Cranach kennen, von dem werdenden und gewordnen so gut wie nichts wissen. Und wie viel oder wie wenig von jenen dreihundert Bildern des alternden Cranach stammen denn nun wirklich von seiner Hand? Und was von andern Händen ? Und von welchen Händen? An diese Fragen hat die Forschung bisher kaum gerührt. Flechsigs Buch besteht in der Hauptsache aus drei Kapiteln. Das erste behandelt die Holzschnitte und die Kupferstiche Cranachs bis zu seinem funfzigsten Lebensjahre (1522), das zweite seine Tafelbilder aus derselben Zeit. In beiden Kapiteln ist es dem Verfasser gelungen, die bisher bekannte Reihe von Werken noch um ein paar weiter zurückliegende zu vervollständigen, in beide» ist er bemüht, sie mit Hilfe innerer und äußerer Kennzeichen — namentlich mit Hilfe einer genauen Scheidung der verschiednen Monogramme und Künstlerzeichen, deren sich Cranach bedient hat (der bekannten geflügelten Schlange in ihren verschiednen Formen) — in die richtige Reihenfolge ihrer Entstehung zu bringen und so die Stilentwicklung des Künstlers zu zeigen. Dabei hat er auch gründlich mit der Verwirrung aufgeräumt, die der gedankenlose Gebrauch der Wörter „Jugend" und „Frühzeit" in der Litteratur über Cranach angerichtet hat. Man scheint das Geburtsjahr Cranachs bisweilen geradezu vergessen zu haben. Diese beiden ersten Kapitel sind aber nur Vorarbeiten zu dem dritten, dem eigentlichen Hauptkapitel des Buches, das die Überschrift trügt: „Die Pseudvgrüuewaldfrage und ihre Lösung," und das uns auch den Anlaß giebt, Flechsigs Buch hier attsführlich zu besprechen. Die sogenannte Pseudvgrünewald- frage ist es, in der sich gleichsam die ganze Geschichte der modernen Kunst¬ wissenschaft von den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bis zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/42>, abgerufen am 28.07.2024.