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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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l^ellenentum und Christentum

es die Paläste und die Städte des Menelaus, des Alkinons und des Odysseus.
Darauf ist zu erwidern: Wenn schon die Götterwelt Homers nichts andres ist
und gar nichts andres sein kann als ein Spiegelbild der Welt, die er um sich
sah, so kann seine Menschenwelt erst recht nichts andres sein. Kein Dichter kann
die Geschöpfe seiner Phantasie anderswoher nehmen als aus der Wirklichkeit,
die er kennt, und dem Griechen des neunten oder des achten Jahrhunderts vor
Christus mit seinem beschränkten Gesichtskreise standen nicht, wie einem heutigen
Dichter, alle Völker der Erde, alle Zeiten und Kulturstufen zur Verfügung.
Idealisiert hat er natürlich; er ist ja nicht Chronist, sondern Dichter. Weder
sind alle Menschen so schon, noch alle Paläste so glänzend und reich ausge¬
stattet gewesen, wie er sie schildert (obwohl die Altertumsforscher aufgehört
haben, über den Aufschneider und Phnntasteu zu lachen, seitdem Schliemann
und seine Nachfolger so große Schätze an Gold und Kunstwerken zu Tage
gefordert haben). Kein Held jener Zeit hat so übermenschliche Heldenthaten
verrichtet, wie die Ilias von Achilleus erzählt, und keine noch so große Mägde
schar Hütte den durch eine förmliche Schlacht verwüsteten Mannersaal des
Odysseus in ein paar Stunden blitzblank zu putzen vermocht. Auch siud sicherlich
nicht alle Eheu ohne Ausnahme Mustereheu, nicht alle Jünglinge so rein wie
Telemcich gewesen, und es wird in Häusern, wo fünfzig ledige Mägde mit
ebensoviel Knechten zusammenlebten, oft liederlich genug zugegangen sein, die
Herren aber werden sich gehütet haben, durch ein Strafgericht, wie das von
Odysseus und Telemach vollstreckte, einen großen Teil ihres Vermögens zu
vernichten. Die alten Hellenen sind eben doch auch nur Menschen gewesen.
Aber es waren Menschen, die reines, geordnetes und schönes Leben kannten,
es liebten und erstrebten; hätten sie es nicht gekannt, so Hütten sie es nicht
erstreben können, denn iguoti nulla <zuMc>. Das Ideal ist niemals Wirklich¬
keit, aber ans den Idealen eines Menschen, eines Volkes kann man mit
Sicherheit auf seine Wirklichkeit schließen. Man halte das Alte Testament
gegen die homerischen Gedichte! Nach der Überzeugung der neuern Forscher
enthalten auch dessen historische Bücher mehr Sage lind Dichtung als wirkliche
Geschichte, und die Hofhistoriographen und die höchst patriotischen Propheten,
die diese Bücher geschrieben haben, hatten sicherlich nicht die Absicht, ihre
Könige und ihre Vorfahren schlecht zu machen, sondern wollten sie vielmehr
verherrlichen. Wenn sie uns nun weder so liebenswürdige und achtungswerte
Charaktere zeigen, wie Homer, noch ein so reines, würdiges und schönes
Familienleben, dafür aber viel scheußliche Greuelthaten, so kauu der Unterschied
doch nnr daher kommen, daß beide ganz verschiedne Vorbilder vor Augen
hatte".'')



-) Man sage nicht: Die Verfasser der alttestamentlichen Bücher erzählen zwar wahrheits¬
getreu das Arge, das vorgefallen ist, aber sie stellen es als verwerflich dar, Sie thun das
durchaus nicht mit allem, was wir Heutigen verwerflich finden. Um nur ihre Ausfassung der
Sexualmoral zu erwähnen, so wird in den altern Büchern die Polygamie mit keinem Worte
gemißbilligt, der außereheliche Geschlechtsverkehr nur in Fällen, wo er eine Gefahr für die
l^ellenentum und Christentum

es die Paläste und die Städte des Menelaus, des Alkinons und des Odysseus.
Darauf ist zu erwidern: Wenn schon die Götterwelt Homers nichts andres ist
und gar nichts andres sein kann als ein Spiegelbild der Welt, die er um sich
sah, so kann seine Menschenwelt erst recht nichts andres sein. Kein Dichter kann
die Geschöpfe seiner Phantasie anderswoher nehmen als aus der Wirklichkeit,
die er kennt, und dem Griechen des neunten oder des achten Jahrhunderts vor
Christus mit seinem beschränkten Gesichtskreise standen nicht, wie einem heutigen
Dichter, alle Völker der Erde, alle Zeiten und Kulturstufen zur Verfügung.
Idealisiert hat er natürlich; er ist ja nicht Chronist, sondern Dichter. Weder
sind alle Menschen so schon, noch alle Paläste so glänzend und reich ausge¬
stattet gewesen, wie er sie schildert (obwohl die Altertumsforscher aufgehört
haben, über den Aufschneider und Phnntasteu zu lachen, seitdem Schliemann
und seine Nachfolger so große Schätze an Gold und Kunstwerken zu Tage
gefordert haben). Kein Held jener Zeit hat so übermenschliche Heldenthaten
verrichtet, wie die Ilias von Achilleus erzählt, und keine noch so große Mägde
schar Hütte den durch eine förmliche Schlacht verwüsteten Mannersaal des
Odysseus in ein paar Stunden blitzblank zu putzen vermocht. Auch siud sicherlich
nicht alle Eheu ohne Ausnahme Mustereheu, nicht alle Jünglinge so rein wie
Telemcich gewesen, und es wird in Häusern, wo fünfzig ledige Mägde mit
ebensoviel Knechten zusammenlebten, oft liederlich genug zugegangen sein, die
Herren aber werden sich gehütet haben, durch ein Strafgericht, wie das von
Odysseus und Telemach vollstreckte, einen großen Teil ihres Vermögens zu
vernichten. Die alten Hellenen sind eben doch auch nur Menschen gewesen.
Aber es waren Menschen, die reines, geordnetes und schönes Leben kannten,
es liebten und erstrebten; hätten sie es nicht gekannt, so Hütten sie es nicht
erstreben können, denn iguoti nulla <zuMc>. Das Ideal ist niemals Wirklich¬
keit, aber ans den Idealen eines Menschen, eines Volkes kann man mit
Sicherheit auf seine Wirklichkeit schließen. Man halte das Alte Testament
gegen die homerischen Gedichte! Nach der Überzeugung der neuern Forscher
enthalten auch dessen historische Bücher mehr Sage lind Dichtung als wirkliche
Geschichte, und die Hofhistoriographen und die höchst patriotischen Propheten,
die diese Bücher geschrieben haben, hatten sicherlich nicht die Absicht, ihre
Könige und ihre Vorfahren schlecht zu machen, sondern wollten sie vielmehr
verherrlichen. Wenn sie uns nun weder so liebenswürdige und achtungswerte
Charaktere zeigen, wie Homer, noch ein so reines, würdiges und schönes
Familienleben, dafür aber viel scheußliche Greuelthaten, so kauu der Unterschied
doch nnr daher kommen, daß beide ganz verschiedne Vorbilder vor Augen
hatte».'')



-) Man sage nicht: Die Verfasser der alttestamentlichen Bücher erzählen zwar wahrheits¬
getreu das Arge, das vorgefallen ist, aber sie stellen es als verwerflich dar, Sie thun das
durchaus nicht mit allem, was wir Heutigen verwerflich finden. Um nur ihre Ausfassung der
Sexualmoral zu erwähnen, so wird in den altern Büchern die Polygamie mit keinem Worte
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/355>, abgerufen am 01.09.2024.