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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Disziplin und Socialdemokratie

ils eine Erscheinung, die nicht nur die Aufmerksamkeit militärischer
Kreise verdient, ist es zu bezeichnen, daß am Schluß der dies¬
jährigen Herbstübnngen in Frankreich sowohl wie in der Schweiz
grobe Vergehn gegen die militärische Disziplin bei den ein-
!l>ernfncn Reservisten vorgekommen sind. In Se. Etienne (De¬
partement Loire) ist es bei einem aus Reservisten zusammengestellten Bataillon
des 38. Infanterieregiments zu einer vollständigen Meuterei gekommen wegen
angeblicher Überanstrengung während der Manöver, und weil der Regiments¬
kommandeur die Leute den Unbilden der Witterung zu sehr ausgesetzt hätte.
Französische Zeitungen berichten, daß ein Mann infolgedessen im Hospital ge¬
storben sei, Hunderte aber krank in den Lazaretten lügen. Während eines Halts
nach einem längern Marsche sei ein heftiges Gewitter mit starkem Regen aus¬
gebrochen, die Offiziere hätten in einer Scheune Unterkunft gesucht, während
die Mannschaften dem Unwetter ausgesetzt gewesen seien ohne jeden Schutz.
Darauf habe sich lautes Murren erhoben, dann Schimpfen auf den Oberst und
die Offiziere, und schließlich sei der Oberst sogar thätlich bedroht worden, als
er erschienen sei, um die Ordnung herzustellen. Die Leute hätten dann die
Carmagnole und die Arbeitermarseillaise gesungen, wobei sie von der zu¬
geströmten Bevölkerung -- meist sozialdemokratischer Fabrikbevölkerung --
kräftig unterstützt worden seien. Die Offiziere hätten nichts ausrichten können,
sondern seien wieder in ihre Scheune zurückgekehrt, während sich die Mann¬
schaft in die nächstliegenden Ortschaften und Wirtschaften zerstreute. Das ge¬
samte Bataillon von 750 Manu löste sich auf diese Weise auf und ließ Offiziere,
Gewehre und Gepäck im Stich. Welche Rolle die Unteroffiziere dabei gespielt
haben, wird nicht berichtet, doch scheint es, als hätten sie gemeinsame Sache
mit den Soldaten gemacht.

Über andre Vorkommnisse bei den im Südosten Frankreichs abgehaltnen


Gronzboten IV 1901 40


Disziplin und Socialdemokratie

ils eine Erscheinung, die nicht nur die Aufmerksamkeit militärischer
Kreise verdient, ist es zu bezeichnen, daß am Schluß der dies¬
jährigen Herbstübnngen in Frankreich sowohl wie in der Schweiz
grobe Vergehn gegen die militärische Disziplin bei den ein-
!l>ernfncn Reservisten vorgekommen sind. In Se. Etienne (De¬
partement Loire) ist es bei einem aus Reservisten zusammengestellten Bataillon
des 38. Infanterieregiments zu einer vollständigen Meuterei gekommen wegen
angeblicher Überanstrengung während der Manöver, und weil der Regiments¬
kommandeur die Leute den Unbilden der Witterung zu sehr ausgesetzt hätte.
Französische Zeitungen berichten, daß ein Mann infolgedessen im Hospital ge¬
storben sei, Hunderte aber krank in den Lazaretten lügen. Während eines Halts
nach einem längern Marsche sei ein heftiges Gewitter mit starkem Regen aus¬
gebrochen, die Offiziere hätten in einer Scheune Unterkunft gesucht, während
die Mannschaften dem Unwetter ausgesetzt gewesen seien ohne jeden Schutz.
Darauf habe sich lautes Murren erhoben, dann Schimpfen auf den Oberst und
die Offiziere, und schließlich sei der Oberst sogar thätlich bedroht worden, als
er erschienen sei, um die Ordnung herzustellen. Die Leute hätten dann die
Carmagnole und die Arbeitermarseillaise gesungen, wobei sie von der zu¬
geströmten Bevölkerung — meist sozialdemokratischer Fabrikbevölkerung —
kräftig unterstützt worden seien. Die Offiziere hätten nichts ausrichten können,
sondern seien wieder in ihre Scheune zurückgekehrt, während sich die Mann¬
schaft in die nächstliegenden Ortschaften und Wirtschaften zerstreute. Das ge¬
samte Bataillon von 750 Manu löste sich auf diese Weise auf und ließ Offiziere,
Gewehre und Gepäck im Stich. Welche Rolle die Unteroffiziere dabei gespielt
haben, wird nicht berichtet, doch scheint es, als hätten sie gemeinsame Sache
mit den Soldaten gemacht.

Über andre Vorkommnisse bei den im Südosten Frankreichs abgehaltnen


Gronzboten IV 1901 40
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[0321] [Abbildung] Disziplin und Socialdemokratie ils eine Erscheinung, die nicht nur die Aufmerksamkeit militärischer Kreise verdient, ist es zu bezeichnen, daß am Schluß der dies¬ jährigen Herbstübnngen in Frankreich sowohl wie in der Schweiz grobe Vergehn gegen die militärische Disziplin bei den ein- !l>ernfncn Reservisten vorgekommen sind. In Se. Etienne (De¬ partement Loire) ist es bei einem aus Reservisten zusammengestellten Bataillon des 38. Infanterieregiments zu einer vollständigen Meuterei gekommen wegen angeblicher Überanstrengung während der Manöver, und weil der Regiments¬ kommandeur die Leute den Unbilden der Witterung zu sehr ausgesetzt hätte. Französische Zeitungen berichten, daß ein Mann infolgedessen im Hospital ge¬ storben sei, Hunderte aber krank in den Lazaretten lügen. Während eines Halts nach einem längern Marsche sei ein heftiges Gewitter mit starkem Regen aus¬ gebrochen, die Offiziere hätten in einer Scheune Unterkunft gesucht, während die Mannschaften dem Unwetter ausgesetzt gewesen seien ohne jeden Schutz. Darauf habe sich lautes Murren erhoben, dann Schimpfen auf den Oberst und die Offiziere, und schließlich sei der Oberst sogar thätlich bedroht worden, als er erschienen sei, um die Ordnung herzustellen. Die Leute hätten dann die Carmagnole und die Arbeitermarseillaise gesungen, wobei sie von der zu¬ geströmten Bevölkerung — meist sozialdemokratischer Fabrikbevölkerung — kräftig unterstützt worden seien. Die Offiziere hätten nichts ausrichten können, sondern seien wieder in ihre Scheune zurückgekehrt, während sich die Mann¬ schaft in die nächstliegenden Ortschaften und Wirtschaften zerstreute. Das ge¬ samte Bataillon von 750 Manu löste sich auf diese Weise auf und ließ Offiziere, Gewehre und Gepäck im Stich. Welche Rolle die Unteroffiziere dabei gespielt haben, wird nicht berichtet, doch scheint es, als hätten sie gemeinsame Sache mit den Soldaten gemacht. Über andre Vorkommnisse bei den im Südosten Frankreichs abgehaltnen Gronzboten IV 1901 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/321>, abgerufen am 01.09.2024.