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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Helleneutum und Christentum

Dem kindlichen Menschen ist die ganze Natur belebt, wie heute noch dem
Kinde des Kulturmenschen sogar sein Spielzeug, und sofern man die Furcht
und die Hoffnung, die ihn beim Anblick seiner Umgebung und im Verkehr mit
ihr bewegen, Religion nennen darf, kann seine Religion Animismus oder
Pandämouismus genannt werden. Der Pandämonismus ist Polydämvnismus,
weil die Tiere, Pflanzen, Wolken, Himmelskörper einzelne Erscheinungen sind,
deren Zurückführung auf einen gemeinsamen Ursprung oder Träger erst später
von der erwachten und entwickelten Vernunft versucht wird. Dn auch solche
Wirkungen gespürt werden wie die Stürme, deren Urheber nicht in sichtbarer
und greifbarer Körperlichkeit erscheinen, so entsteht unter Mithilfe der Traum¬
gestalten die Vorstellung von Geistern als Urhebern dieser Wirkungen. In
diesem schreckhaften Gespenster- und Dämonenglauben bleiben die niedern Nassen
befangen. Die Völker der Weißen Nasse haben einerseits die großen all¬
beherrschender Nntnrerscheinuugen von den Einzelwesen gesondert und entweder
nur jene vergöttlicht oder wenigstens nur sie als große und Hauptgötter ver¬
ehrt, andrerseits diese Hauptgötter vermenschlicht und ihre Personen und
Wirkungen zu Lehrgebäuden geordnet.

Die Vermenschlichung ist nun am vollkommensten deu Hellenen gelungen,
die ja, wie es Chamberlain gut bezeichnet, den Menschen selbst entdeckt haben.
Homer*) hat die alten Naturgottheiten mit Worten so anschaulich gemalt und
gemeißelt, daß später, nachdem die Technik weit genug fortgeschritten war, seine
Bilder als Typen benutzt werden konnten, nach denen sich die Künstler ihre
menschlichen Modelle aufzusuchen hatten. Nicht in dem Sinne hat Homer
den Griechen ihre Götter gegeben, daß er den Zeus und die übrigen Olympier
geschaffen Hütte; der Prozeß der Vermenschlichung hat sich in den Seelen der
Weißen in allen Ländern vom Indus bis zum Tiber und am Tigris wie am
Nil lange vor Homer vollzogen -- nnr anschaulicher gemacht hat er die Volks¬
götter und deu Menschen näher gebracht. Ihre ursprüngliche Bedeutung ist
noch zu erkennen, tritt aber hinter ihrer menschenähnlichen Persönlichkeit mehr
oder weniger zurück. Sie sind nicht mehr Himmel, Wasser, Luft und Erde,
sondern Urheber der Himmelserscheinungen, Ordner der Dinge, die sich in Luft
und Wasser und auf der Erde ereignen. Bei einigen hat die Loslösung von
der Naturerscheinung einen Ersatz notwendig gemacht. Apollo hat ans der
Erde und im Olymp so viel zu thun, daß er unmöglich den Sonnenwagen
lenken kann, dessen wichtige Bestimmung keine Unterbrechung des Laufs und
keine Entgleisung duldet; dieses Geschäft wird darum dem Helios übertragen.
Überhaupt aber konnte dem Dichter so wenig wie der Volksphantasie die
Lösung der an sich unlösbaren Aufgabe gelingen, die Götter in ganz feste
Beziehungen zu den Naturerscheinungen und Naturereignissen zu bringen und



Es hieße die Hefte mit einem unnützen Ballast beschweren, wollte ich bei jedem
Sätzchen die zahlreichen Stellen angeben, ans die eS sich stützt; der Homerkenner hat sie im
Kopf, und sollte es Leser geben, die den Homer nicht kennen, so würden sie sie nicht nach¬
schlagen.
Helleneutum und Christentum

Dem kindlichen Menschen ist die ganze Natur belebt, wie heute noch dem
Kinde des Kulturmenschen sogar sein Spielzeug, und sofern man die Furcht
und die Hoffnung, die ihn beim Anblick seiner Umgebung und im Verkehr mit
ihr bewegen, Religion nennen darf, kann seine Religion Animismus oder
Pandämouismus genannt werden. Der Pandämonismus ist Polydämvnismus,
weil die Tiere, Pflanzen, Wolken, Himmelskörper einzelne Erscheinungen sind,
deren Zurückführung auf einen gemeinsamen Ursprung oder Träger erst später
von der erwachten und entwickelten Vernunft versucht wird. Dn auch solche
Wirkungen gespürt werden wie die Stürme, deren Urheber nicht in sichtbarer
und greifbarer Körperlichkeit erscheinen, so entsteht unter Mithilfe der Traum¬
gestalten die Vorstellung von Geistern als Urhebern dieser Wirkungen. In
diesem schreckhaften Gespenster- und Dämonenglauben bleiben die niedern Nassen
befangen. Die Völker der Weißen Nasse haben einerseits die großen all¬
beherrschender Nntnrerscheinuugen von den Einzelwesen gesondert und entweder
nur jene vergöttlicht oder wenigstens nur sie als große und Hauptgötter ver¬
ehrt, andrerseits diese Hauptgötter vermenschlicht und ihre Personen und
Wirkungen zu Lehrgebäuden geordnet.

Die Vermenschlichung ist nun am vollkommensten deu Hellenen gelungen,
die ja, wie es Chamberlain gut bezeichnet, den Menschen selbst entdeckt haben.
Homer*) hat die alten Naturgottheiten mit Worten so anschaulich gemalt und
gemeißelt, daß später, nachdem die Technik weit genug fortgeschritten war, seine
Bilder als Typen benutzt werden konnten, nach denen sich die Künstler ihre
menschlichen Modelle aufzusuchen hatten. Nicht in dem Sinne hat Homer
den Griechen ihre Götter gegeben, daß er den Zeus und die übrigen Olympier
geschaffen Hütte; der Prozeß der Vermenschlichung hat sich in den Seelen der
Weißen in allen Ländern vom Indus bis zum Tiber und am Tigris wie am
Nil lange vor Homer vollzogen — nnr anschaulicher gemacht hat er die Volks¬
götter und deu Menschen näher gebracht. Ihre ursprüngliche Bedeutung ist
noch zu erkennen, tritt aber hinter ihrer menschenähnlichen Persönlichkeit mehr
oder weniger zurück. Sie sind nicht mehr Himmel, Wasser, Luft und Erde,
sondern Urheber der Himmelserscheinungen, Ordner der Dinge, die sich in Luft
und Wasser und auf der Erde ereignen. Bei einigen hat die Loslösung von
der Naturerscheinung einen Ersatz notwendig gemacht. Apollo hat ans der
Erde und im Olymp so viel zu thun, daß er unmöglich den Sonnenwagen
lenken kann, dessen wichtige Bestimmung keine Unterbrechung des Laufs und
keine Entgleisung duldet; dieses Geschäft wird darum dem Helios übertragen.
Überhaupt aber konnte dem Dichter so wenig wie der Volksphantasie die
Lösung der an sich unlösbaren Aufgabe gelingen, die Götter in ganz feste
Beziehungen zu den Naturerscheinungen und Naturereignissen zu bringen und



Es hieße die Hefte mit einem unnützen Ballast beschweren, wollte ich bei jedem
Sätzchen die zahlreichen Stellen angeben, ans die eS sich stützt; der Homerkenner hat sie im
Kopf, und sollte es Leser geben, die den Homer nicht kennen, so würden sie sie nicht nach¬
schlagen.
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[0294] Helleneutum und Christentum Dem kindlichen Menschen ist die ganze Natur belebt, wie heute noch dem Kinde des Kulturmenschen sogar sein Spielzeug, und sofern man die Furcht und die Hoffnung, die ihn beim Anblick seiner Umgebung und im Verkehr mit ihr bewegen, Religion nennen darf, kann seine Religion Animismus oder Pandämouismus genannt werden. Der Pandämonismus ist Polydämvnismus, weil die Tiere, Pflanzen, Wolken, Himmelskörper einzelne Erscheinungen sind, deren Zurückführung auf einen gemeinsamen Ursprung oder Träger erst später von der erwachten und entwickelten Vernunft versucht wird. Dn auch solche Wirkungen gespürt werden wie die Stürme, deren Urheber nicht in sichtbarer und greifbarer Körperlichkeit erscheinen, so entsteht unter Mithilfe der Traum¬ gestalten die Vorstellung von Geistern als Urhebern dieser Wirkungen. In diesem schreckhaften Gespenster- und Dämonenglauben bleiben die niedern Nassen befangen. Die Völker der Weißen Nasse haben einerseits die großen all¬ beherrschender Nntnrerscheinuugen von den Einzelwesen gesondert und entweder nur jene vergöttlicht oder wenigstens nur sie als große und Hauptgötter ver¬ ehrt, andrerseits diese Hauptgötter vermenschlicht und ihre Personen und Wirkungen zu Lehrgebäuden geordnet. Die Vermenschlichung ist nun am vollkommensten deu Hellenen gelungen, die ja, wie es Chamberlain gut bezeichnet, den Menschen selbst entdeckt haben. Homer*) hat die alten Naturgottheiten mit Worten so anschaulich gemalt und gemeißelt, daß später, nachdem die Technik weit genug fortgeschritten war, seine Bilder als Typen benutzt werden konnten, nach denen sich die Künstler ihre menschlichen Modelle aufzusuchen hatten. Nicht in dem Sinne hat Homer den Griechen ihre Götter gegeben, daß er den Zeus und die übrigen Olympier geschaffen Hütte; der Prozeß der Vermenschlichung hat sich in den Seelen der Weißen in allen Ländern vom Indus bis zum Tiber und am Tigris wie am Nil lange vor Homer vollzogen — nnr anschaulicher gemacht hat er die Volks¬ götter und deu Menschen näher gebracht. Ihre ursprüngliche Bedeutung ist noch zu erkennen, tritt aber hinter ihrer menschenähnlichen Persönlichkeit mehr oder weniger zurück. Sie sind nicht mehr Himmel, Wasser, Luft und Erde, sondern Urheber der Himmelserscheinungen, Ordner der Dinge, die sich in Luft und Wasser und auf der Erde ereignen. Bei einigen hat die Loslösung von der Naturerscheinung einen Ersatz notwendig gemacht. Apollo hat ans der Erde und im Olymp so viel zu thun, daß er unmöglich den Sonnenwagen lenken kann, dessen wichtige Bestimmung keine Unterbrechung des Laufs und keine Entgleisung duldet; dieses Geschäft wird darum dem Helios übertragen. Überhaupt aber konnte dem Dichter so wenig wie der Volksphantasie die Lösung der an sich unlösbaren Aufgabe gelingen, die Götter in ganz feste Beziehungen zu den Naturerscheinungen und Naturereignissen zu bringen und Es hieße die Hefte mit einem unnützen Ballast beschweren, wollte ich bei jedem Sätzchen die zahlreichen Stellen angeben, ans die eS sich stützt; der Homerkenner hat sie im Kopf, und sollte es Leser geben, die den Homer nicht kennen, so würden sie sie nicht nach¬ schlagen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/294>, abgerufen am 27.07.2024.