Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.Hände -- erraten Aufsehe", und die Siamesen konnten wochenlang Vor¬ Grenzboten IV 1901 82
Hände — erraten Aufsehe», und die Siamesen konnten wochenlang Vor¬ Grenzboten IV 1901 82
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Hände — erraten Aufsehe», und die Siamesen konnten wochenlang Vor¬
stellungen geben. Stumpf benutzte das und hörte nicht bloß alles, was sie
öffentlich in allabendlichen Wiederholungen boten, sondern gewann mich die
Jnstrnmcntisten zu einer Reihe von Privataufführuugeu und für eingehende
Untersuchungen. Die Frucht dieser Studien bringt sein Buch in bisher un-
gedruckten siamesischen Musikstücke,, — ein vollständiger Jnstrnmentnlsatz in
ncuustimmiger Partitur, sieben größere Fragmente und eine beträchtliche Zahl
kleinerer Beispiele — und in einer Theorie von den Hauptsachen der siame¬
sischen Musik, durch Noten und Text die Kenntnis des Gegenstands wesentlich
fördernd. Erst durch Stumpf lerne» wir die Siamesische Kunst wirklich kennen;
seine Vormäuner haben von ihr nnr das an, leichtesten Faßliche und noch dazu
in europäischer Bearbeitung und Entstellung mitgeteilt. Bor allem ist sie viel,
viel sinnlicher und beweglicher, als die alten Proben sie zeigten. Kein Ton
fast ohne Triller, Vorschläge und sonstige Verzierung; wird auch uur eine
einfache Tonleiter gespielt, so geht doch jeden, Ton mindestens ein Pralltriller
voraus. Etwas der siamesischen Musik ähnliches muß Lucrez im Ange ge¬
habt haben, als er den Vogelgesang für die Quelle der Musik überhaupt er¬
klärte; das Siamesische Ideal ist er sicher. Jeder Gedanke, jede Stimmung
wird den, siamesischen Tonkünstler schnell zur Schwärmerei; alle festen und
tragenden Musikelemcute verschwinden hinter den Ornamenten. Auf Zierat
und Flitter ist die ganze Technik und der Bau der Instrumente gerichtet. Die
Flöten z. B. werden durch eine kleine Öffnung in, Deckel angeblasen, die
Flötisten brauche» infolgedessen nur mit der Nase zu atmen und können lange,
pausenlose Stücke ohne jegliches Absetzen blasen. Auch in, Siamesische»
Orchester kommt die Vereinigung der Kräfte in erster Linie den, Verzierungs-
wcsen zu gute, der Hcinptreiz an, Gesamtspicl der Instrumente liegt für den
Siamesen darin, daß mit der Grundmelodie zugleich ihre hurtiger, von den
Spielern wohl improvisierten, jede Wiederholung zu einem Neuen gestaltenden
Varianten erklingen. Wenn diese Anspielungen zuweilen nu eignen Motiven
festhalten, der Hauptstimme selbständige Nebcnstimmcn gegenüberstellen, so kann
von einer einstimmigen „»begleiteten Musik eigentlich nicht mehr die Rede sein,
sondern ,vir haben an solchen Stellen die Anfänge des siamesischen Kontra¬
punkts, wir habe» gelegentliche Abstecher in Formgebiete vor uns, die dein
Organ»»,, den Fnuxbourdvns und dem Diseantns der europäische» Musik
entspreche!,. Es scheint demnach, daß die Siamesische Musik in einen Prozeß
eingetreten ist, den die europäische schon im Zeitalter der Kreuzzüge durch¬
gemacht hat. Die Stumpfschc Partitur bringt davon die erste Kunde; die
frühern Berichterstatter hatte» die Thatsache durch ihre magern, ans eine einzige
Stimme reduzierten Auszüge siamesischer Orchestermusik unterschlagen. Wie
lange sie schon auf diesem Wege ist, kann vielleicht ohne Mühe festgestellt
werden. Ob sie ans ihn, ganz europäisch wird, ob andre Asiaten folgen, ob
es bei der Musik bewerbe», oder ob sie »«eitere fremde Kultur »ach sich zieh«,
wie diese Entwicklung ans die europäische K»»se zurückwirke» wird — alle
Grenzboten IV 1901 82
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