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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen?

durch die Irrlehre einer allgemeinen Wohlfahrt und ihrer gesetzgebenden Ge¬
walt nasführen zu lassen, wird der ernste Volksfreund ihm lieber die alte
Lehre vom unendlichen Wert der Menschenseele und der Pflicht gegen sie ein¬
prägen lassen, und statt der materialistischen Vnrbiergesellenphilosophie wird er
ihn: gewiß lieber den geistigen Sinn der Welt und des Lebens predigen lassen.
Schade, daß die Sozialdemokratie, die um die Überführung des Rechtsstaats
in den Kulturstaat, des Klassenstaats in die sittliche Staatsgemeinschaft so un¬
bestreitbare Verdienste hat, dem sittlichen Gehalt des Christentums so wenig
gerecht zu werden vermag und sich neuerdings sogar unter Preisgebung des
Grundsatzes "Religion ist Privatsache" zur Bekämpfung von Christentum und
Religion fortreißen läßt. Schade freilich auch, daß die Staatskirche durch
ihre zweideutige Stellung in diesem Überfiihrungsprozeß alles gethan hat, sich
das Vertrauen des um seine Rechte und um seine Ideale kämpfenden Volks
zu verscherzen.

Damit Lehrer und Prediger da sind, Mündige, die Unmündigen zu leiten,
bedarf es selbstverständlich auch einer gewissen Reform der höhern Schulen,
einschließlich der Lehrerbildungsanstalten, denen der subalterne Charakter ge¬
nommen und Zusanunenhang mit Hochschulbildung und Wissenschaft in jeder
Hinsicht gegeben werden muß. Wir haben heute auf allen Gebieten leider
viel zu viele blinde Blindenleiter, geistig Unmündige in leitenden Stellungen.
Es wird die Aufgabe der hohem Schulen sein, die oft sehr pedantische und
schablonenhafte Beurteilung ihrer Zöglinge auszugeben; Sache des Staats
muß es dann sein, beschränkte Menschen, die nicht zur Freiheit und zur Führung
bestimmt sind, von der Universität und den höhern Ämtern fernzuhalten. Nur
dann können wir hoffen, statt der Dutzendmenschen, die sich bei uns überall
breit macheu und oft genug ihre erbärmliche Unzulänglichkeit auch noch als
"eigenartige Persönlichkeit" proklamieren, wieder führende Geister erstehn zu
sehen, an denen es uns jetzt leider überall fehlt.

Damit das geschehe, ist freilich auch nötig, daß die Hochschuljugend wieder
etwas mehr lernt, als mit dem Berufshaudwerkzeug hantieren. Sie muß
wieder selbst denken lernen, statt sich bloß Fachkenntnisse anzueignen. Die
-Fähigkeit des Selbstdenkens war früher der segensreiche Erfolg des philo¬
sophischen Studiums an den Universitäten. Man wird eines Tages einsehen,
daß das neu heranwachsende Bcamtengeschlecht zur Leitung des Volks im
sozialpädagogischen Sinne viel weniger ausgerüstet, daß es überhaupt geistig
ärmer ist als das altpreußische Beamtentum. Oder sieht man es schon? Und
wenn man es sieht, wird man die Folgerungen ziehn? Denn es bleibt wahr,
was Plato lehrt, daß wenn der Staat gedeihen soll, Philosophen an seiner
Spitze stehn müssen.




Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen?

durch die Irrlehre einer allgemeinen Wohlfahrt und ihrer gesetzgebenden Ge¬
walt nasführen zu lassen, wird der ernste Volksfreund ihm lieber die alte
Lehre vom unendlichen Wert der Menschenseele und der Pflicht gegen sie ein¬
prägen lassen, und statt der materialistischen Vnrbiergesellenphilosophie wird er
ihn: gewiß lieber den geistigen Sinn der Welt und des Lebens predigen lassen.
Schade, daß die Sozialdemokratie, die um die Überführung des Rechtsstaats
in den Kulturstaat, des Klassenstaats in die sittliche Staatsgemeinschaft so un¬
bestreitbare Verdienste hat, dem sittlichen Gehalt des Christentums so wenig
gerecht zu werden vermag und sich neuerdings sogar unter Preisgebung des
Grundsatzes „Religion ist Privatsache" zur Bekämpfung von Christentum und
Religion fortreißen läßt. Schade freilich auch, daß die Staatskirche durch
ihre zweideutige Stellung in diesem Überfiihrungsprozeß alles gethan hat, sich
das Vertrauen des um seine Rechte und um seine Ideale kämpfenden Volks
zu verscherzen.

Damit Lehrer und Prediger da sind, Mündige, die Unmündigen zu leiten,
bedarf es selbstverständlich auch einer gewissen Reform der höhern Schulen,
einschließlich der Lehrerbildungsanstalten, denen der subalterne Charakter ge¬
nommen und Zusanunenhang mit Hochschulbildung und Wissenschaft in jeder
Hinsicht gegeben werden muß. Wir haben heute auf allen Gebieten leider
viel zu viele blinde Blindenleiter, geistig Unmündige in leitenden Stellungen.
Es wird die Aufgabe der hohem Schulen sein, die oft sehr pedantische und
schablonenhafte Beurteilung ihrer Zöglinge auszugeben; Sache des Staats
muß es dann sein, beschränkte Menschen, die nicht zur Freiheit und zur Führung
bestimmt sind, von der Universität und den höhern Ämtern fernzuhalten. Nur
dann können wir hoffen, statt der Dutzendmenschen, die sich bei uns überall
breit macheu und oft genug ihre erbärmliche Unzulänglichkeit auch noch als
„eigenartige Persönlichkeit" proklamieren, wieder führende Geister erstehn zu
sehen, an denen es uns jetzt leider überall fehlt.

Damit das geschehe, ist freilich auch nötig, daß die Hochschuljugend wieder
etwas mehr lernt, als mit dem Berufshaudwerkzeug hantieren. Sie muß
wieder selbst denken lernen, statt sich bloß Fachkenntnisse anzueignen. Die
-Fähigkeit des Selbstdenkens war früher der segensreiche Erfolg des philo¬
sophischen Studiums an den Universitäten. Man wird eines Tages einsehen,
daß das neu heranwachsende Bcamtengeschlecht zur Leitung des Volks im
sozialpädagogischen Sinne viel weniger ausgerüstet, daß es überhaupt geistig
ärmer ist als das altpreußische Beamtentum. Oder sieht man es schon? Und
wenn man es sieht, wird man die Folgerungen ziehn? Denn es bleibt wahr,
was Plato lehrt, daß wenn der Staat gedeihen soll, Philosophen an seiner
Spitze stehn müssen.




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[0242] Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen? durch die Irrlehre einer allgemeinen Wohlfahrt und ihrer gesetzgebenden Ge¬ walt nasführen zu lassen, wird der ernste Volksfreund ihm lieber die alte Lehre vom unendlichen Wert der Menschenseele und der Pflicht gegen sie ein¬ prägen lassen, und statt der materialistischen Vnrbiergesellenphilosophie wird er ihn: gewiß lieber den geistigen Sinn der Welt und des Lebens predigen lassen. Schade, daß die Sozialdemokratie, die um die Überführung des Rechtsstaats in den Kulturstaat, des Klassenstaats in die sittliche Staatsgemeinschaft so un¬ bestreitbare Verdienste hat, dem sittlichen Gehalt des Christentums so wenig gerecht zu werden vermag und sich neuerdings sogar unter Preisgebung des Grundsatzes „Religion ist Privatsache" zur Bekämpfung von Christentum und Religion fortreißen läßt. Schade freilich auch, daß die Staatskirche durch ihre zweideutige Stellung in diesem Überfiihrungsprozeß alles gethan hat, sich das Vertrauen des um seine Rechte und um seine Ideale kämpfenden Volks zu verscherzen. Damit Lehrer und Prediger da sind, Mündige, die Unmündigen zu leiten, bedarf es selbstverständlich auch einer gewissen Reform der höhern Schulen, einschließlich der Lehrerbildungsanstalten, denen der subalterne Charakter ge¬ nommen und Zusanunenhang mit Hochschulbildung und Wissenschaft in jeder Hinsicht gegeben werden muß. Wir haben heute auf allen Gebieten leider viel zu viele blinde Blindenleiter, geistig Unmündige in leitenden Stellungen. Es wird die Aufgabe der hohem Schulen sein, die oft sehr pedantische und schablonenhafte Beurteilung ihrer Zöglinge auszugeben; Sache des Staats muß es dann sein, beschränkte Menschen, die nicht zur Freiheit und zur Führung bestimmt sind, von der Universität und den höhern Ämtern fernzuhalten. Nur dann können wir hoffen, statt der Dutzendmenschen, die sich bei uns überall breit macheu und oft genug ihre erbärmliche Unzulänglichkeit auch noch als „eigenartige Persönlichkeit" proklamieren, wieder führende Geister erstehn zu sehen, an denen es uns jetzt leider überall fehlt. Damit das geschehe, ist freilich auch nötig, daß die Hochschuljugend wieder etwas mehr lernt, als mit dem Berufshaudwerkzeug hantieren. Sie muß wieder selbst denken lernen, statt sich bloß Fachkenntnisse anzueignen. Die -Fähigkeit des Selbstdenkens war früher der segensreiche Erfolg des philo¬ sophischen Studiums an den Universitäten. Man wird eines Tages einsehen, daß das neu heranwachsende Bcamtengeschlecht zur Leitung des Volks im sozialpädagogischen Sinne viel weniger ausgerüstet, daß es überhaupt geistig ärmer ist als das altpreußische Beamtentum. Oder sieht man es schon? Und wenn man es sieht, wird man die Folgerungen ziehn? Denn es bleibt wahr, was Plato lehrt, daß wenn der Staat gedeihen soll, Philosophen an seiner Spitze stehn müssen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/242>, abgerufen am 01.09.2024.