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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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geistigen Mündigkeit zu erziehn, dann muß sie ihren Unterricht von vornherein
den Grundsätzen einer bevormundenden Leitung anpassen.

Es ergiebt sich aus der Vorherrschaft des protestantischen Grundsatzes als
selbstverständliche Forderung, daß niemand der Weg zur Geistesmündigkeit
und Geistesfreiheit verlegt wird. Ich halte es für eine sozialethischc Pflicht,
die noch lange nicht genug gewürdigt wird, dem nach dem Urteil der Lehrer
hochbegabten Schüler der Volksschule den Weg zu einer höhern Bildung
irgendwie frei zu macheu. Es ist auch nicht die Meinung, daß die Volks¬
schule mit Rücksicht auf die zur Unmündigkeit Bestimmter ihren Lehrstoff ver¬
mindern und das Bildungsmaß verringern sollte. Vielmehr handelt es sich
nur darum, daß dem, der den festen Halt seines Lebens voraussichtlich nicht
in sich selbst finden wird, die Hilfe von außen beizeiten geboten wird. Der
Unterricht der Volksschule muß -- das ist keine reaktionäre Phrase -- von
religiösem Geist beherrscht sein.

Das Mißtrauen unsrer Volksschullehrer vor reaktionären und bildungs¬
feindlichen Neigungen ist verständlich. Die Klagen, daß das Volk zuviel lerne,
die in der That ein bedauerlich geringes Maß von pädagogischer Einsicht und
sozialethischer Bildung verraten, geben ihnen Grund genug zur Erbitterung.
Aber gerade weil die Masse unsers Volks zu wenig lernt, muß der einsichtige
Pädagoge, muß der selbst mündige Volksbildncr die Forderung unterstützen,
daß den Unmündigen der feste Halt in der Religion gegeben werde. Denn
es bleibt bei der tiefen Wahrheit des Goethischen Worts:


Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
Hat auch Religion;
Wer jene beiden nicht besitzt,
Der habe Religion!

Es ist durchaus nicht nötig, den Religionsunterricht der Volksschule
quantitativ zu verstärken. Eine andre Frage ist, ob er nicht in seiner Wirkung
gesteigert werdeu kann. Ich meine, es ist möglich -- man erschrecke nicht --,
wenn man ihn vor allem auf der Oberstufe in geistliche Hände legt. Es wird
ohnehin eine pädagogisch selbstverständliche Forderung sein, daß man die vor¬
mundschaftliche Arbeit der Kirche in jeder Weise in der Schule vorbereitet und
erleichtert. Es dürfte kein wirksameres Mittel dazu geben, als daß man dein
Geistlichen selbst die Möglichkeit in die Hand giebt, die Kinder in das Ge-
meindcleben hineinznerziehn. Dem Lehrgeschick der geistlichen Herren darf man
auf ihrem eigensten Gebiet schon einiges Vertrauen entgegenbringen, da sie
doch auch sonst von Berufs wegen Lehrer des Volks sind.

Man wird nicht geneigt sein, in einer Zeit, wo die Volksschule anfängt,
sich aus den Fesseln der Kirche, auch der geistlichen Schulaufsicht zu befreien,
dem Geistlichen einen Platz im Unterricht selbst einzuräumen. Aber man mi߬
verstehe mich nicht: irgend eine Abhängigkeit der Schule von der Kirche befür¬
worte ich nicht; über die Notwendigkeit einer fachmännischer Schulaufsicht lohnt
es kaum noch Worte zu verlieren. Aber ich meine, wenn sie durchweg ein-


geistigen Mündigkeit zu erziehn, dann muß sie ihren Unterricht von vornherein
den Grundsätzen einer bevormundenden Leitung anpassen.

Es ergiebt sich aus der Vorherrschaft des protestantischen Grundsatzes als
selbstverständliche Forderung, daß niemand der Weg zur Geistesmündigkeit
und Geistesfreiheit verlegt wird. Ich halte es für eine sozialethischc Pflicht,
die noch lange nicht genug gewürdigt wird, dem nach dem Urteil der Lehrer
hochbegabten Schüler der Volksschule den Weg zu einer höhern Bildung
irgendwie frei zu macheu. Es ist auch nicht die Meinung, daß die Volks¬
schule mit Rücksicht auf die zur Unmündigkeit Bestimmter ihren Lehrstoff ver¬
mindern und das Bildungsmaß verringern sollte. Vielmehr handelt es sich
nur darum, daß dem, der den festen Halt seines Lebens voraussichtlich nicht
in sich selbst finden wird, die Hilfe von außen beizeiten geboten wird. Der
Unterricht der Volksschule muß — das ist keine reaktionäre Phrase — von
religiösem Geist beherrscht sein.

Das Mißtrauen unsrer Volksschullehrer vor reaktionären und bildungs¬
feindlichen Neigungen ist verständlich. Die Klagen, daß das Volk zuviel lerne,
die in der That ein bedauerlich geringes Maß von pädagogischer Einsicht und
sozialethischer Bildung verraten, geben ihnen Grund genug zur Erbitterung.
Aber gerade weil die Masse unsers Volks zu wenig lernt, muß der einsichtige
Pädagoge, muß der selbst mündige Volksbildncr die Forderung unterstützen,
daß den Unmündigen der feste Halt in der Religion gegeben werde. Denn
es bleibt bei der tiefen Wahrheit des Goethischen Worts:


Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
Hat auch Religion;
Wer jene beiden nicht besitzt,
Der habe Religion!

Es ist durchaus nicht nötig, den Religionsunterricht der Volksschule
quantitativ zu verstärken. Eine andre Frage ist, ob er nicht in seiner Wirkung
gesteigert werdeu kann. Ich meine, es ist möglich — man erschrecke nicht —,
wenn man ihn vor allem auf der Oberstufe in geistliche Hände legt. Es wird
ohnehin eine pädagogisch selbstverständliche Forderung sein, daß man die vor¬
mundschaftliche Arbeit der Kirche in jeder Weise in der Schule vorbereitet und
erleichtert. Es dürfte kein wirksameres Mittel dazu geben, als daß man dein
Geistlichen selbst die Möglichkeit in die Hand giebt, die Kinder in das Ge-
meindcleben hineinznerziehn. Dem Lehrgeschick der geistlichen Herren darf man
auf ihrem eigensten Gebiet schon einiges Vertrauen entgegenbringen, da sie
doch auch sonst von Berufs wegen Lehrer des Volks sind.

Man wird nicht geneigt sein, in einer Zeit, wo die Volksschule anfängt,
sich aus den Fesseln der Kirche, auch der geistlichen Schulaufsicht zu befreien,
dem Geistlichen einen Platz im Unterricht selbst einzuräumen. Aber man mi߬
verstehe mich nicht: irgend eine Abhängigkeit der Schule von der Kirche befür¬
worte ich nicht; über die Notwendigkeit einer fachmännischer Schulaufsicht lohnt
es kaum noch Worte zu verlieren. Aber ich meine, wenn sie durchweg ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/240>, abgerufen am 01.09.2024.