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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Die Ergebnisse der Aalevalaforschmig

Zu den Vielen Bestandteilen der Kalevaladichtung, die von Lönnrot selbst
herrühren, gehört auch vor allein der Name der Dichtung: Kalevala. Kalevala
bedeutet soviel als Wohnung oder Land des Kaleva. Das Wort ist an all
den Stellen, wo es in der Dichtung vorkommt, von Lönnrot selbst eingesetzt.
In den ans dem Volksmund geschöpften Runen kommt das Wort nur in einer
Ballade, in einer Beschwörung nud einigemale in Hvchzeitsliedern vor. Ur¬
sprünglich bedeutete das Wort "Schmied."

Unendlich viel wurde geschrieben und gestritten über den Entstehungsort
der Kalevala. Über diesen braucht um nicht mehr gestritten zu werden; denn
er liegt auf Lönnrots Schreibtisch. Die Kalevalaforschuug hat also nach¬
gewiesen, daß die Kalevala nicht unmittelbar ein Werk des finnischen Volks
ist. Man kann auch nicht sagen, daß Lönnrot das vorgefundne Material auf
die ihm passendste Weise "zusammengestellt" hat. Der Wahrheit am nächsten
kommt man, wenn man sagt, daß er mit Hilfe einer Menge Volkslieder, die
nach Form und Inhalt stark variierte!,, das Epos verfaßt habe. Der Faden
der Erzählung ist Lönnrots Werk, das Volk kannte nnr einzelne Episoden.
Manche dieser Episoden hat er ohne wesentliche Verändrungen aufgenommen,
andre hingegen bis zur Unkenntlichkeit umgebildet.

Nachdem nun erwiesen ist, daß die Kalevala kein reines Volksepos ist,
muß auch über den litterarischen Wert der Dichtung anders geurteilt werdeu
als ehemals. Der nun bekannte Verfasser gehörte nicht den breiten Schichten
des Volkes, sondern der gebildeten Klasse an, deshalb müssen anch die An¬
forderungen an sein Werk bedeutend erhöht und die Mängel hervorgehoben
werden-

Unangenehm bemerkbar machen sich zunächst viele langatmige Schilde¬
rungen, die mit der Haupthandlung gar nichts zu thun haben und zu deren
Wetterführung nicht das geringste beitragen. Dasselbe gilt von den Runen über
Kullervo und Lemminkäinen, die erste sechs, die letzte zehn Runen umfassend,
die nur in ganz losem Zusammenhang mit der Handlung der Kalevala stehn.
Allerdings sind diese Runen gerade die schönsten und interessantesten, doch zur
Fortführung der Handlung tragen sie nichts bei. Auch die Beschreibung der
Hochzeit in Pohjola, die durch ganze sechs Runen geht, steht in einem schlechten
Verhältnisse zum Umfang des Gedichts. Die beständig vorkommenden langen
und gleichartige" Zauber- und Beschwörungsformeln sind auch "tote Punkte,"
die das Interesse lähmen und den Leser ermüden. Überdies fragt es sich, ob
sich ein moderner Leser für den Haupthelden, einen weisen Zauberer oder
Schamanen, auf die Länge begeistern kann. Bon den eigentlichen Haupt¬
personen der Dichtung sind nur Kullervo und Lemminkäinen keine professio¬
nellen Schamanen. Im ganzen genommen ist die Kalevaladichtnng überhaupt
recht langweilig und einförmig, wenn anch viele berühmte Männer bei deren
Erscheinen von ihr ganz begeistert waren. Hingegen läßt sich nicht leugnen, daß
viele einzelne Episoden, insbesondre in den Runen über Amo und Kullervo
(Rune 3 bis 5 und 31 bis 36) von großer poetischer Schönheit sind. Diese und


Die Ergebnisse der Aalevalaforschmig

Zu den Vielen Bestandteilen der Kalevaladichtung, die von Lönnrot selbst
herrühren, gehört auch vor allein der Name der Dichtung: Kalevala. Kalevala
bedeutet soviel als Wohnung oder Land des Kaleva. Das Wort ist an all
den Stellen, wo es in der Dichtung vorkommt, von Lönnrot selbst eingesetzt.
In den ans dem Volksmund geschöpften Runen kommt das Wort nur in einer
Ballade, in einer Beschwörung nud einigemale in Hvchzeitsliedern vor. Ur¬
sprünglich bedeutete das Wort „Schmied."

Unendlich viel wurde geschrieben und gestritten über den Entstehungsort
der Kalevala. Über diesen braucht um nicht mehr gestritten zu werden; denn
er liegt auf Lönnrots Schreibtisch. Die Kalevalaforschuug hat also nach¬
gewiesen, daß die Kalevala nicht unmittelbar ein Werk des finnischen Volks
ist. Man kann auch nicht sagen, daß Lönnrot das vorgefundne Material auf
die ihm passendste Weise „zusammengestellt" hat. Der Wahrheit am nächsten
kommt man, wenn man sagt, daß er mit Hilfe einer Menge Volkslieder, die
nach Form und Inhalt stark variierte!,, das Epos verfaßt habe. Der Faden
der Erzählung ist Lönnrots Werk, das Volk kannte nnr einzelne Episoden.
Manche dieser Episoden hat er ohne wesentliche Verändrungen aufgenommen,
andre hingegen bis zur Unkenntlichkeit umgebildet.

Nachdem nun erwiesen ist, daß die Kalevala kein reines Volksepos ist,
muß auch über den litterarischen Wert der Dichtung anders geurteilt werdeu
als ehemals. Der nun bekannte Verfasser gehörte nicht den breiten Schichten
des Volkes, sondern der gebildeten Klasse an, deshalb müssen anch die An¬
forderungen an sein Werk bedeutend erhöht und die Mängel hervorgehoben
werden-

Unangenehm bemerkbar machen sich zunächst viele langatmige Schilde¬
rungen, die mit der Haupthandlung gar nichts zu thun haben und zu deren
Wetterführung nicht das geringste beitragen. Dasselbe gilt von den Runen über
Kullervo und Lemminkäinen, die erste sechs, die letzte zehn Runen umfassend,
die nur in ganz losem Zusammenhang mit der Handlung der Kalevala stehn.
Allerdings sind diese Runen gerade die schönsten und interessantesten, doch zur
Fortführung der Handlung tragen sie nichts bei. Auch die Beschreibung der
Hochzeit in Pohjola, die durch ganze sechs Runen geht, steht in einem schlechten
Verhältnisse zum Umfang des Gedichts. Die beständig vorkommenden langen
und gleichartige» Zauber- und Beschwörungsformeln sind auch „tote Punkte,"
die das Interesse lähmen und den Leser ermüden. Überdies fragt es sich, ob
sich ein moderner Leser für den Haupthelden, einen weisen Zauberer oder
Schamanen, auf die Länge begeistern kann. Bon den eigentlichen Haupt¬
personen der Dichtung sind nur Kullervo und Lemminkäinen keine professio¬
nellen Schamanen. Im ganzen genommen ist die Kalevaladichtnng überhaupt
recht langweilig und einförmig, wenn anch viele berühmte Männer bei deren
Erscheinen von ihr ganz begeistert waren. Hingegen läßt sich nicht leugnen, daß
viele einzelne Episoden, insbesondre in den Runen über Amo und Kullervo
(Rune 3 bis 5 und 31 bis 36) von großer poetischer Schönheit sind. Diese und


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[0196] Die Ergebnisse der Aalevalaforschmig Zu den Vielen Bestandteilen der Kalevaladichtung, die von Lönnrot selbst herrühren, gehört auch vor allein der Name der Dichtung: Kalevala. Kalevala bedeutet soviel als Wohnung oder Land des Kaleva. Das Wort ist an all den Stellen, wo es in der Dichtung vorkommt, von Lönnrot selbst eingesetzt. In den ans dem Volksmund geschöpften Runen kommt das Wort nur in einer Ballade, in einer Beschwörung nud einigemale in Hvchzeitsliedern vor. Ur¬ sprünglich bedeutete das Wort „Schmied." Unendlich viel wurde geschrieben und gestritten über den Entstehungsort der Kalevala. Über diesen braucht um nicht mehr gestritten zu werden; denn er liegt auf Lönnrots Schreibtisch. Die Kalevalaforschuug hat also nach¬ gewiesen, daß die Kalevala nicht unmittelbar ein Werk des finnischen Volks ist. Man kann auch nicht sagen, daß Lönnrot das vorgefundne Material auf die ihm passendste Weise „zusammengestellt" hat. Der Wahrheit am nächsten kommt man, wenn man sagt, daß er mit Hilfe einer Menge Volkslieder, die nach Form und Inhalt stark variierte!,, das Epos verfaßt habe. Der Faden der Erzählung ist Lönnrots Werk, das Volk kannte nnr einzelne Episoden. Manche dieser Episoden hat er ohne wesentliche Verändrungen aufgenommen, andre hingegen bis zur Unkenntlichkeit umgebildet. Nachdem nun erwiesen ist, daß die Kalevala kein reines Volksepos ist, muß auch über den litterarischen Wert der Dichtung anders geurteilt werdeu als ehemals. Der nun bekannte Verfasser gehörte nicht den breiten Schichten des Volkes, sondern der gebildeten Klasse an, deshalb müssen anch die An¬ forderungen an sein Werk bedeutend erhöht und die Mängel hervorgehoben werden- Unangenehm bemerkbar machen sich zunächst viele langatmige Schilde¬ rungen, die mit der Haupthandlung gar nichts zu thun haben und zu deren Wetterführung nicht das geringste beitragen. Dasselbe gilt von den Runen über Kullervo und Lemminkäinen, die erste sechs, die letzte zehn Runen umfassend, die nur in ganz losem Zusammenhang mit der Handlung der Kalevala stehn. Allerdings sind diese Runen gerade die schönsten und interessantesten, doch zur Fortführung der Handlung tragen sie nichts bei. Auch die Beschreibung der Hochzeit in Pohjola, die durch ganze sechs Runen geht, steht in einem schlechten Verhältnisse zum Umfang des Gedichts. Die beständig vorkommenden langen und gleichartige» Zauber- und Beschwörungsformeln sind auch „tote Punkte," die das Interesse lähmen und den Leser ermüden. Überdies fragt es sich, ob sich ein moderner Leser für den Haupthelden, einen weisen Zauberer oder Schamanen, auf die Länge begeistern kann. Bon den eigentlichen Haupt¬ personen der Dichtung sind nur Kullervo und Lemminkäinen keine professio¬ nellen Schamanen. Im ganzen genommen ist die Kalevaladichtnng überhaupt recht langweilig und einförmig, wenn anch viele berühmte Männer bei deren Erscheinen von ihr ganz begeistert waren. Hingegen läßt sich nicht leugnen, daß viele einzelne Episoden, insbesondre in den Runen über Amo und Kullervo (Rune 3 bis 5 und 31 bis 36) von großer poetischer Schönheit sind. Diese und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/196>, abgerufen am 28.07.2024.