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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Die Ergebnisse der Acilevalaforschnng

lich. Anders ausgedrückt: der Protestantismus muß seiner Idee uach auf dem
Gebiet der organisierten Kirche und der kirchlichen Institution in demselben
Maße an Kraft verlieren, wie er als geistige Gemeinschaft gewinnt.

(Schluß folgt)




Die Ergebnisse der Kalevalasorschung
Anton Wels-Ulmenried von

mi finnischen Volke, dem das Schicksal schon wiederholt nud
insbesondre in jüngster Zeit, wo es seiner uralte" freiheitlichen
Privilegien beraubt wurde, schwere Prüfungen auferlegt hat, ist
abermals bitteres Leid widerfahren. Die seit ungefähr einen:
Vierteljahrhundert wissenschaftlich betriebne Kalevalnforschung hat
nämlich nachgewiesen, daß die seltsame phantastische Sagendichtung, die unter
dem Namen Kcllevala als uraltes finnisches Volksepos galt und als solches
gewissermaßen eine nationale Wiedergeburt des finnischen Volks herbeigeführt
hatte, eine Mystifikation, ein nationales Luftschloß sei, das zwar in herrlichen
Farben schimmere, dessen stolzer Van aber gebrechlich und vergänglich sei.
Mit blutendem Herzen sind die Finnen daran gegangen, dieses Lustschloß
niederzureißen, das in den breiten Schichten des Volks als unantastbares
Nationalheiligtnm galt und noch gilt.

Welcher Sturm untioualer Begeisterung hatte das finnische Volk ergriffen,
als im November 1835 Elias Lönnrot seine Kalevale erscheinen ließ! Das
in der Welt bisher nahezu unbekannte, gering geschätzte, zurückgesetzte finnische
Volk, dessen Nationalitätsbelvnßtsein geradezu erstorben war, war mit einemmal
in den Besitz eines großen Nationalepos gelangt, das den Nachweis lieferte,
daß anch die Finnen eine Vergangenheit hatten, auf die sie stolz sein können!
Man erfreute, ja begeisterte sich an der lyrischen Schönheit der Kalevalndichtnng
und studierte in ihr die religiösen Vorstellungen der alten Finnen, ihr Leben
und ihre Sitten. Allsländische Gelehrte überboten einander in Lobpreisungen
dieses "wunderbaren Nationalepos," das in kurzer Zeit in die verschiedensten
Sprachen übersetzt wurde, und dessen Einfluß ans so manches hervorragende
Werk ausländischer Dichter häufig zu erkennen ist, so z. B. in Lougfellows
Hiawatha. In Finnland stellte man die Kalevala ohne weiteres der Ilias
und der Odyssee, dem Nibelungenliede und der Edda gleich und betrachtete
sie als ein inonuinönwm agre xorvnniu8, das man zum Ausgangspunkt der
nationalen Wiedergeburt nehmen und auf dessen Grnndlnge man eine neue
rein finnische Litteratur aufbauen könne. Die Gelehrtenwelt sowie das
große Publikum hielten die Kalevaln für ein gewaltiges Volksepos, das seit


Die Ergebnisse der Acilevalaforschnng

lich. Anders ausgedrückt: der Protestantismus muß seiner Idee uach auf dem
Gebiet der organisierten Kirche und der kirchlichen Institution in demselben
Maße an Kraft verlieren, wie er als geistige Gemeinschaft gewinnt.

(Schluß folgt)




Die Ergebnisse der Kalevalasorschung
Anton Wels-Ulmenried von

mi finnischen Volke, dem das Schicksal schon wiederholt nud
insbesondre in jüngster Zeit, wo es seiner uralte» freiheitlichen
Privilegien beraubt wurde, schwere Prüfungen auferlegt hat, ist
abermals bitteres Leid widerfahren. Die seit ungefähr einen:
Vierteljahrhundert wissenschaftlich betriebne Kalevalnforschung hat
nämlich nachgewiesen, daß die seltsame phantastische Sagendichtung, die unter
dem Namen Kcllevala als uraltes finnisches Volksepos galt und als solches
gewissermaßen eine nationale Wiedergeburt des finnischen Volks herbeigeführt
hatte, eine Mystifikation, ein nationales Luftschloß sei, das zwar in herrlichen
Farben schimmere, dessen stolzer Van aber gebrechlich und vergänglich sei.
Mit blutendem Herzen sind die Finnen daran gegangen, dieses Lustschloß
niederzureißen, das in den breiten Schichten des Volks als unantastbares
Nationalheiligtnm galt und noch gilt.

Welcher Sturm untioualer Begeisterung hatte das finnische Volk ergriffen,
als im November 1835 Elias Lönnrot seine Kalevale erscheinen ließ! Das
in der Welt bisher nahezu unbekannte, gering geschätzte, zurückgesetzte finnische
Volk, dessen Nationalitätsbelvnßtsein geradezu erstorben war, war mit einemmal
in den Besitz eines großen Nationalepos gelangt, das den Nachweis lieferte,
daß anch die Finnen eine Vergangenheit hatten, auf die sie stolz sein können!
Man erfreute, ja begeisterte sich an der lyrischen Schönheit der Kalevalndichtnng
und studierte in ihr die religiösen Vorstellungen der alten Finnen, ihr Leben
und ihre Sitten. Allsländische Gelehrte überboten einander in Lobpreisungen
dieses „wunderbaren Nationalepos," das in kurzer Zeit in die verschiedensten
Sprachen übersetzt wurde, und dessen Einfluß ans so manches hervorragende
Werk ausländischer Dichter häufig zu erkennen ist, so z. B. in Lougfellows
Hiawatha. In Finnland stellte man die Kalevala ohne weiteres der Ilias
und der Odyssee, dem Nibelungenliede und der Edda gleich und betrachtete
sie als ein inonuinönwm agre xorvnniu8, das man zum Ausgangspunkt der
nationalen Wiedergeburt nehmen und auf dessen Grnndlnge man eine neue
rein finnische Litteratur aufbauen könne. Die Gelehrtenwelt sowie das
große Publikum hielten die Kalevaln für ein gewaltiges Volksepos, das seit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/188>, abgerufen am 28.07.2024.