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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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mir insofern Bedeutung zu, mis sie Fortschritt sei; Ziel des Fortschritts aber sei
die Entwicklung der Persönlichkeit in physischer, intellektueller und sittlicher Be¬
ziehung und die Verkörperung der Wahrheit und Gerechtigkeit in den gesellschaft¬
lichen Formen. Ju eiuer gesunden Gesellschaft würde die Gerechtigkeit mit dein
persönlichen Nutzen aller einzelnen zusammenfallen. Daß wir von diesem Zustande
noch sehr weit entfernt seien, lehre jeder Blick auf unsre Umgebung. Denen, die
behaupten, daß es jetzt schon gerecht sei, den eignen Vorteil zu verfolgen, ruft er
zu: Entweder die Identität von Gerechtigkeit und Vorteil ist eine Redensart ohne
Sinn, oder die gegenwärtige Gesellschaft ist krank, unvollkommen und der Ver¬
besserung bedürftig. Mit der Verbesserung, mit dem Fortschritt gehe es nun un¬
gemein langsam, weil aller Fortschritt von einzelnen Personen getragen werde, die
zunächst das Geschäft der Erforschung der Natur und der Entwicklung der Ideen
zu besorgen hatten, die Verbreitung der mühsam erworbnen Errungenschaften in
der Masse aber um so schwieriger sei, da die Masse versklavt werdeu mußte, damit
die Wenigen forschen konnten. Da nun die Herrschaft angenehm ist, wird sie ge¬
wöhnlich nicht zu dem angewandt, wofür sie der Idee nach das Mittel ist, sondern
um ihrer selbst Wille" gesucht, aufrecht erhalten und dazu benutzt, die geistige" und
die materiellen Güter zu monopolisieren, die zu verbreiten sie bestimmt war. Der
Fortschritt kostet darum in Wirklichkeit weit mehr Opfer, als er kosten würde, wenn
seine Träger gewissenhaft waren; in diesem Falle würde die Zahl der Verlornen
Leben und Leistungen bei weitem nicht so groß sein, wie sie ist. Da nun in jeder
Generation diese Monopolisierung wiederkehrt, die Träger des Fortschritts sich in
dlZAti xoWiclMtss verwandeln, die den weitern Fortschritt hemmen, so beruht dessen
Möglichkeit ausschließlich auf der Zahl und der Energie der kritischen Geister, die
das Bestehende auflösen und den Fortschritt wieder in Fluß bringen; Stabilität
irgend einer Gesellschaftsform bedeutet den Verzicht auf Fortschritt. Ist die Zahl
der kritischen Geister so gering, daß sie keine Aussicht haben, gegen die Übermacht
etwas auszurichten, so mögen sie sich ans die philosophische Betrachtung der Welt
beschränken; wo immer sich aber die geringste Aussicht auf Erfolg öffnet, da sind
sie verpflichtet, das bestehende Böse zu bekämpfen. Der Fortschritt wird anch noch
durch den Umstand erschwert, daß es falsche Fortschrittsfreunde giebt, und daß von
all den vielen Parteien eine jede große und schöne Worte auf ihre Fahne schreibt.
Das komme vou dem allgemein verbreiteten Hang zum "Idealisieren," von der
Gewohnheit, jedes Laster in eine Tugend umzülügen und jeden selbstsüchtigen Zweck
mit dem Schein eines allgemeinen Nutzens zu maskieren. Als wahres Ideal dürfe
man nur die Befriedigung der wirklichen Bedürfnisse aller gelten lassen jäher diese
wirklichen Bedürfnisse zu ermitteln, darin liegt eben bei der großen Dehnbarkeit
des Begriffs "Bedürfnis" die fast unüberwindliche Schwierigkeit! j. Da die Ver¬
wirklichung der Gerechtigkeit ebenso wie die Bedürfnisbefriedigung nur in der
organisierten Gesellschaft möglich ist, so nimmt der Fortschritt die Gestalt der poli¬
tischen Entwicklung an. Diese ist nun gegenwärtig auf der Stufe des Rechtsstaats
angelangt, worin die Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse durch scheinbar freie
Verträge verschleiert werden. Diese Vertrage sind sowohl im wirtschaftlichen wie
im politischen Gebiete größtenteils unsittlich, weil sie in Wirklichkeit nicht frei ein¬
gegangen, sondern erzwungen werden, und weil gerade die wichtigsten nicht nur
den schwächern Kontrahenten ans Lebenszeit, sondern anch noch seine Nachkommen
binden. Das nächste Ziel des Fortschritts ist darum die Befreiung von diesem
Zwang und von dieser UnWahrhaftigkeit, die Entstaatlichung der Gesellschaft. An¬
zustreben ist ein Zustand, wo alle Mitglieder einer Gemeinschaft wirklich freie
Kontrahenten sind, das Gemeinwesen, so wie es ist, von jedem einzelnen Mitgliede
gewollt wird. Das ist natürlich nur in kleinen Gemeinwesen möglich, weil nur in


mir insofern Bedeutung zu, mis sie Fortschritt sei; Ziel des Fortschritts aber sei
die Entwicklung der Persönlichkeit in physischer, intellektueller und sittlicher Be¬
ziehung und die Verkörperung der Wahrheit und Gerechtigkeit in den gesellschaft¬
lichen Formen. Ju eiuer gesunden Gesellschaft würde die Gerechtigkeit mit dein
persönlichen Nutzen aller einzelnen zusammenfallen. Daß wir von diesem Zustande
noch sehr weit entfernt seien, lehre jeder Blick auf unsre Umgebung. Denen, die
behaupten, daß es jetzt schon gerecht sei, den eignen Vorteil zu verfolgen, ruft er
zu: Entweder die Identität von Gerechtigkeit und Vorteil ist eine Redensart ohne
Sinn, oder die gegenwärtige Gesellschaft ist krank, unvollkommen und der Ver¬
besserung bedürftig. Mit der Verbesserung, mit dem Fortschritt gehe es nun un¬
gemein langsam, weil aller Fortschritt von einzelnen Personen getragen werde, die
zunächst das Geschäft der Erforschung der Natur und der Entwicklung der Ideen
zu besorgen hatten, die Verbreitung der mühsam erworbnen Errungenschaften in
der Masse aber um so schwieriger sei, da die Masse versklavt werdeu mußte, damit
die Wenigen forschen konnten. Da nun die Herrschaft angenehm ist, wird sie ge¬
wöhnlich nicht zu dem angewandt, wofür sie der Idee nach das Mittel ist, sondern
um ihrer selbst Wille» gesucht, aufrecht erhalten und dazu benutzt, die geistige» und
die materiellen Güter zu monopolisieren, die zu verbreiten sie bestimmt war. Der
Fortschritt kostet darum in Wirklichkeit weit mehr Opfer, als er kosten würde, wenn
seine Träger gewissenhaft waren; in diesem Falle würde die Zahl der Verlornen
Leben und Leistungen bei weitem nicht so groß sein, wie sie ist. Da nun in jeder
Generation diese Monopolisierung wiederkehrt, die Träger des Fortschritts sich in
dlZAti xoWiclMtss verwandeln, die den weitern Fortschritt hemmen, so beruht dessen
Möglichkeit ausschließlich auf der Zahl und der Energie der kritischen Geister, die
das Bestehende auflösen und den Fortschritt wieder in Fluß bringen; Stabilität
irgend einer Gesellschaftsform bedeutet den Verzicht auf Fortschritt. Ist die Zahl
der kritischen Geister so gering, daß sie keine Aussicht haben, gegen die Übermacht
etwas auszurichten, so mögen sie sich ans die philosophische Betrachtung der Welt
beschränken; wo immer sich aber die geringste Aussicht auf Erfolg öffnet, da sind
sie verpflichtet, das bestehende Böse zu bekämpfen. Der Fortschritt wird anch noch
durch den Umstand erschwert, daß es falsche Fortschrittsfreunde giebt, und daß von
all den vielen Parteien eine jede große und schöne Worte auf ihre Fahne schreibt.
Das komme vou dem allgemein verbreiteten Hang zum „Idealisieren," von der
Gewohnheit, jedes Laster in eine Tugend umzülügen und jeden selbstsüchtigen Zweck
mit dem Schein eines allgemeinen Nutzens zu maskieren. Als wahres Ideal dürfe
man nur die Befriedigung der wirklichen Bedürfnisse aller gelten lassen jäher diese
wirklichen Bedürfnisse zu ermitteln, darin liegt eben bei der großen Dehnbarkeit
des Begriffs „Bedürfnis" die fast unüberwindliche Schwierigkeit! j. Da die Ver¬
wirklichung der Gerechtigkeit ebenso wie die Bedürfnisbefriedigung nur in der
organisierten Gesellschaft möglich ist, so nimmt der Fortschritt die Gestalt der poli¬
tischen Entwicklung an. Diese ist nun gegenwärtig auf der Stufe des Rechtsstaats
angelangt, worin die Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse durch scheinbar freie
Verträge verschleiert werden. Diese Vertrage sind sowohl im wirtschaftlichen wie
im politischen Gebiete größtenteils unsittlich, weil sie in Wirklichkeit nicht frei ein¬
gegangen, sondern erzwungen werden, und weil gerade die wichtigsten nicht nur
den schwächern Kontrahenten ans Lebenszeit, sondern anch noch seine Nachkommen
binden. Das nächste Ziel des Fortschritts ist darum die Befreiung von diesem
Zwang und von dieser UnWahrhaftigkeit, die Entstaatlichung der Gesellschaft. An¬
zustreben ist ein Zustand, wo alle Mitglieder einer Gemeinschaft wirklich freie
Kontrahenten sind, das Gemeinwesen, so wie es ist, von jedem einzelnen Mitgliede
gewollt wird. Das ist natürlich nur in kleinen Gemeinwesen möglich, weil nur in


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[0108] mir insofern Bedeutung zu, mis sie Fortschritt sei; Ziel des Fortschritts aber sei die Entwicklung der Persönlichkeit in physischer, intellektueller und sittlicher Be¬ ziehung und die Verkörperung der Wahrheit und Gerechtigkeit in den gesellschaft¬ lichen Formen. Ju eiuer gesunden Gesellschaft würde die Gerechtigkeit mit dein persönlichen Nutzen aller einzelnen zusammenfallen. Daß wir von diesem Zustande noch sehr weit entfernt seien, lehre jeder Blick auf unsre Umgebung. Denen, die behaupten, daß es jetzt schon gerecht sei, den eignen Vorteil zu verfolgen, ruft er zu: Entweder die Identität von Gerechtigkeit und Vorteil ist eine Redensart ohne Sinn, oder die gegenwärtige Gesellschaft ist krank, unvollkommen und der Ver¬ besserung bedürftig. Mit der Verbesserung, mit dem Fortschritt gehe es nun un¬ gemein langsam, weil aller Fortschritt von einzelnen Personen getragen werde, die zunächst das Geschäft der Erforschung der Natur und der Entwicklung der Ideen zu besorgen hatten, die Verbreitung der mühsam erworbnen Errungenschaften in der Masse aber um so schwieriger sei, da die Masse versklavt werdeu mußte, damit die Wenigen forschen konnten. Da nun die Herrschaft angenehm ist, wird sie ge¬ wöhnlich nicht zu dem angewandt, wofür sie der Idee nach das Mittel ist, sondern um ihrer selbst Wille» gesucht, aufrecht erhalten und dazu benutzt, die geistige» und die materiellen Güter zu monopolisieren, die zu verbreiten sie bestimmt war. Der Fortschritt kostet darum in Wirklichkeit weit mehr Opfer, als er kosten würde, wenn seine Träger gewissenhaft waren; in diesem Falle würde die Zahl der Verlornen Leben und Leistungen bei weitem nicht so groß sein, wie sie ist. Da nun in jeder Generation diese Monopolisierung wiederkehrt, die Träger des Fortschritts sich in dlZAti xoWiclMtss verwandeln, die den weitern Fortschritt hemmen, so beruht dessen Möglichkeit ausschließlich auf der Zahl und der Energie der kritischen Geister, die das Bestehende auflösen und den Fortschritt wieder in Fluß bringen; Stabilität irgend einer Gesellschaftsform bedeutet den Verzicht auf Fortschritt. Ist die Zahl der kritischen Geister so gering, daß sie keine Aussicht haben, gegen die Übermacht etwas auszurichten, so mögen sie sich ans die philosophische Betrachtung der Welt beschränken; wo immer sich aber die geringste Aussicht auf Erfolg öffnet, da sind sie verpflichtet, das bestehende Böse zu bekämpfen. Der Fortschritt wird anch noch durch den Umstand erschwert, daß es falsche Fortschrittsfreunde giebt, und daß von all den vielen Parteien eine jede große und schöne Worte auf ihre Fahne schreibt. Das komme vou dem allgemein verbreiteten Hang zum „Idealisieren," von der Gewohnheit, jedes Laster in eine Tugend umzülügen und jeden selbstsüchtigen Zweck mit dem Schein eines allgemeinen Nutzens zu maskieren. Als wahres Ideal dürfe man nur die Befriedigung der wirklichen Bedürfnisse aller gelten lassen jäher diese wirklichen Bedürfnisse zu ermitteln, darin liegt eben bei der großen Dehnbarkeit des Begriffs „Bedürfnis" die fast unüberwindliche Schwierigkeit! j. Da die Ver¬ wirklichung der Gerechtigkeit ebenso wie die Bedürfnisbefriedigung nur in der organisierten Gesellschaft möglich ist, so nimmt der Fortschritt die Gestalt der poli¬ tischen Entwicklung an. Diese ist nun gegenwärtig auf der Stufe des Rechtsstaats angelangt, worin die Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse durch scheinbar freie Verträge verschleiert werden. Diese Vertrage sind sowohl im wirtschaftlichen wie im politischen Gebiete größtenteils unsittlich, weil sie in Wirklichkeit nicht frei ein¬ gegangen, sondern erzwungen werden, und weil gerade die wichtigsten nicht nur den schwächern Kontrahenten ans Lebenszeit, sondern anch noch seine Nachkommen binden. Das nächste Ziel des Fortschritts ist darum die Befreiung von diesem Zwang und von dieser UnWahrhaftigkeit, die Entstaatlichung der Gesellschaft. An¬ zustreben ist ein Zustand, wo alle Mitglieder einer Gemeinschaft wirklich freie Kontrahenten sind, das Gemeinwesen, so wie es ist, von jedem einzelnen Mitgliede gewollt wird. Das ist natürlich nur in kleinen Gemeinwesen möglich, weil nur in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/108>, abgerufen am 27.07.2024.