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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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ob der große Rechtslehrer jemals in der Lage gewesen ist, einen Prozeß für
sich führen zu müssen, ist nicht bekannt; es ist dies auch nicht anzunehmen.
Aus seiner Berufsthätigkeit entstanden ihm vermögensrechtliche Ansprüche nur
gegen den Fiskus auf Gehalt und gegen die Studenten auf Borlesuugsgelder,
und daß ein Universitätslehrer Forderungen dieser Art einklagen muß, kommt
wohl nicht vor. Auch an der Klippe, an der die Friedensliebe der Fried¬
lichen so oft scheitert, dem Mietvertrag, wird der große Rechtslehrer ruhig
vorbeigesegelt sein, denn Professoren und Geheimräte pflegen ihre eignen, als
"Einfamilienhaus" eingerichteten schönen Villen zu besitzen; sie haben also mit
Vermietern, Mietern und Mitmietern nichts zu thun. Ob Jhering so ge¬
schrieben hätte, wenn er öfter einmal genötigt gewesen wäre, sein Recht zu
erkämpfen, oder wenn er je im Dienste der praktischen Rechtspflege gestanden
hätte, muß billig bezweifelt werden; denn bei Männern, bei denen die eine
oder die andre der eben gedachten Voraussetzungen vorliegt, findet man durch¬
weg eine der des großen Rechtslehrers entgegengesetzte Auffassung. Die bei
praktischen Juristen herrschende Anschauung wird sehr zutreffend von dem
Senatspräsidenten beim Reichsgericht Freiherrn von Bülow (Reform unsrer
Strafrechtspflege, 1893) wiedergegeben: "Die Langwierigkeit, der schwerfällige
Instanzenzug, die Kostspieligkeit und der oft verhängnisvolle Formalismus des
jetzige" Zivilprozesses, die unaufhörlichen .Kontroverse": und Finessen der ge¬
lehrten Juristen schrecken schon jetzt in immer stärkeren Maße von der Beschrei-
dung des Rechtsweges ab: immer häufiger wird in Kontraktsverhältnissen (bei
Verpachtungen, Gesellschaftsverträgen usw.) die Ausschließung des Rechtsweges
und die Vereinbarung eines Schiedsgerichts, das ohne alle Formalitäten sofort
und endgiltig etwaige Streitigkeiten nach Vernunft und Billigkeit entscheiden
soll. Wohl nirgends mehr als gerade in Juristentreisen herrscht eine so ent¬
schiedn" Abneigung gegen alle eigne Prozeßführung. Es erinnert um die Ab¬
neigung der Doktoren gegen ärztliche Behandlung. Tausende von Juristen
wird es geben, die mit der größten theoretischen und moralischen Zustinuunug
Iherings "Kampf ums Recht" gelesen haben, die aber doch, wenn sie selbst
übervorteilt oder in ihrem Recht gekränkt werden, vor den Mühen, Kosten und
Verdrießlichkeiten eines Prozesses zurückschenen und lieber Unrecht über sich
ergehn lassen als den Richter anrufen."

Man erzählt ferner von einem berühmten Rechtsanwalt, der in seinem
Beruf ein großes Vermögen erworben hatte und es letztwillig zur Gründung
einer Irrenanstalt aussetzte mit der Begründung: "Narren habe" es mir
zugebracht, Narren soll es auch wieder zu gute kommen." Dieser Rechts-
anwalt, zweifellos ein zuständiger Beurteiler, hielt also den Kampf uns Recht
geradezu für eine Narrheit. Weniger eine Beurteilung und Verurteilung unsrer
Rechtspflege, als eine anschauliche Schilderung des Kampfs uns Recht giebt
auch Stölzel, der Vorsitzende der preußischen Justizprüfungskommission, i"
seiner "Schulung für die zivilistische Praxis," indem er uns das Schicksal
eines Prozesses schildert, der unter dem Namen "Mantelprvzeß" in der Juristen^


ob der große Rechtslehrer jemals in der Lage gewesen ist, einen Prozeß für
sich führen zu müssen, ist nicht bekannt; es ist dies auch nicht anzunehmen.
Aus seiner Berufsthätigkeit entstanden ihm vermögensrechtliche Ansprüche nur
gegen den Fiskus auf Gehalt und gegen die Studenten auf Borlesuugsgelder,
und daß ein Universitätslehrer Forderungen dieser Art einklagen muß, kommt
wohl nicht vor. Auch an der Klippe, an der die Friedensliebe der Fried¬
lichen so oft scheitert, dem Mietvertrag, wird der große Rechtslehrer ruhig
vorbeigesegelt sein, denn Professoren und Geheimräte pflegen ihre eignen, als
„Einfamilienhaus" eingerichteten schönen Villen zu besitzen; sie haben also mit
Vermietern, Mietern und Mitmietern nichts zu thun. Ob Jhering so ge¬
schrieben hätte, wenn er öfter einmal genötigt gewesen wäre, sein Recht zu
erkämpfen, oder wenn er je im Dienste der praktischen Rechtspflege gestanden
hätte, muß billig bezweifelt werden; denn bei Männern, bei denen die eine
oder die andre der eben gedachten Voraussetzungen vorliegt, findet man durch¬
weg eine der des großen Rechtslehrers entgegengesetzte Auffassung. Die bei
praktischen Juristen herrschende Anschauung wird sehr zutreffend von dem
Senatspräsidenten beim Reichsgericht Freiherrn von Bülow (Reform unsrer
Strafrechtspflege, 1893) wiedergegeben: „Die Langwierigkeit, der schwerfällige
Instanzenzug, die Kostspieligkeit und der oft verhängnisvolle Formalismus des
jetzige» Zivilprozesses, die unaufhörlichen .Kontroverse«: und Finessen der ge¬
lehrten Juristen schrecken schon jetzt in immer stärkeren Maße von der Beschrei-
dung des Rechtsweges ab: immer häufiger wird in Kontraktsverhältnissen (bei
Verpachtungen, Gesellschaftsverträgen usw.) die Ausschließung des Rechtsweges
und die Vereinbarung eines Schiedsgerichts, das ohne alle Formalitäten sofort
und endgiltig etwaige Streitigkeiten nach Vernunft und Billigkeit entscheiden
soll. Wohl nirgends mehr als gerade in Juristentreisen herrscht eine so ent¬
schiedn« Abneigung gegen alle eigne Prozeßführung. Es erinnert um die Ab¬
neigung der Doktoren gegen ärztliche Behandlung. Tausende von Juristen
wird es geben, die mit der größten theoretischen und moralischen Zustinuunug
Iherings »Kampf ums Recht« gelesen haben, die aber doch, wenn sie selbst
übervorteilt oder in ihrem Recht gekränkt werden, vor den Mühen, Kosten und
Verdrießlichkeiten eines Prozesses zurückschenen und lieber Unrecht über sich
ergehn lassen als den Richter anrufen."

Man erzählt ferner von einem berühmten Rechtsanwalt, der in seinem
Beruf ein großes Vermögen erworben hatte und es letztwillig zur Gründung
einer Irrenanstalt aussetzte mit der Begründung: „Narren habe» es mir
zugebracht, Narren soll es auch wieder zu gute kommen." Dieser Rechts-
anwalt, zweifellos ein zuständiger Beurteiler, hielt also den Kampf uns Recht
geradezu für eine Narrheit. Weniger eine Beurteilung und Verurteilung unsrer
Rechtspflege, als eine anschauliche Schilderung des Kampfs uns Recht giebt
auch Stölzel, der Vorsitzende der preußischen Justizprüfungskommission, i»
seiner „Schulung für die zivilistische Praxis," indem er uns das Schicksal
eines Prozesses schildert, der unter dem Namen „Mantelprvzeß" in der Juristen^


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/74>, abgerufen am 22.07.2024.