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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die englische Lokalverwaltung

fällig mit der Greises in seinem Buche "Geschichte und heutige Gestalt der
Ämter in England" übereinstimme ("der vielmehr umgekehrt, denu Buchers
Schrift ist 1854, Greises 1857 erschienen), so komme das daher, daß beide aus
derselben Quelle, aus Smith geschöpft hätten. Für Deutschland sei die von
Gneist verbreitete Darstellung und Kritik der englischen Zustände verhängnis¬
voll geworden. Einerseits allerdings habe sie einen wirklichen Fortschritt
bewirkt, der sich in Preußen namentlich durch die neue Kreis- und Land-
gemeindeordnnng vollzogen habe; einen Fortschritt freilich, der nicht allgemein
und unbedingt als solcher anerkannt werde, denn Bismnrck z. B, habe in seinen
Gedanken und Erinnerungen gegen diese neue preußische Selbstverwaltung ganz
ähnliche Vorwürfe erhoben, wie Gneist gegen die neue englische. Andrerseits
aber habe Gneist den Liberalismus von seinem wahren Ziele abgelenkt und
die spezifisch preußische Monarchie gestärkt. Der Liberalismus habe lange vor
Gneist, von dem ältern Vincke und dem Freiherr" vom Stein an (man könnte
bis ans Justus Möser zurückgehn) die englische Selbstverwaltung als Ideal
angestrebt und ganz richtig einen Fortschritt zur politischen Freiheit darin ge¬
sehen, wenn lokale Verwaltungen von der Bureaukratie unabhängig gemacht
würden. Nun sei aber Gneist gekommen mit seiner Theorie, daß allerdings
England der Jdealstant, daß aber dort der Beamte der Selbstverwaltungs¬
körper Staatsbeamter sei. Das sei freilich wahr, aber das Verhängnisvolle
bestehe darin, daß dem englischen Staat der kontinentale untergeschoben werde,
worin die gesetzgebende Gewalt beim König ruht, die Volksvertretung bloß
mitwirke, die lokalen Verwaltungsbehörden nur ExPosituren der bureaukratisch
organisierten Regierung seien. So böte die Annahme von Greises Ideen die
Möglichkeit, in Verwaltungseinrichtungen dem Liberalismus weitgehende Kon¬
zessionen zu machen, "zugleich aber die zentralistisch-büreaukratische Struktur
der gesamten innern Verwaltung nicht nur im Prinzip streng festzuhalten,
sondern sogar thatsächlich zu stärken."

Der Staat ist eben nach Redlich in England von Haus aus etwas andres
als bei uns. Es giebt dort kein besondres Staatsrecht, sondern nur ein ein¬
ziges ungeteiltes Recht, das ebensowohl die Pflichten der Beamten wie die
Besitzverhältnisse regelt, die Strafe für Diebstnhl wie die für den Mißbrauch
irgend einer Amtsgewalt bestimmt, und dem alle ohne Ausnahme, auch der
König, zu gehorchen haben. Dieses Recht, oder das Gesetz, ist der wirkliche
Souverän, und der Vollstrecker des Gesetzes, der ordentliche Richter, ist die
einzige wirkliche Obrigkeit; von jeder andern Obrigkeit kann um den Richter
appelliert werden. Die festländische Königsgewalt, die Gewalt des Königs,
allein oder mit seinen Räten Verordnungen zu erlassen, denen Gesetzeskraft
beiwohnt, haben die Tudors und Stuarts angestrebt, aber die puritanische
Sturmflut hat den LimZ in (Zounoil weggeschwemmt, nur den King' in ?"r-
liamMt übrig gelassen und damit das Wesen des ursprünglichen angelsächsischen
Staats wieder hergestellt. Im einzelnen hat Gneist, wie Redlich ausführt,
ganz merkwürdige Schnitzer gemacht. Nicht die Selbstverwaltung haben die


Die englische Lokalverwaltung

fällig mit der Greises in seinem Buche „Geschichte und heutige Gestalt der
Ämter in England" übereinstimme (»der vielmehr umgekehrt, denu Buchers
Schrift ist 1854, Greises 1857 erschienen), so komme das daher, daß beide aus
derselben Quelle, aus Smith geschöpft hätten. Für Deutschland sei die von
Gneist verbreitete Darstellung und Kritik der englischen Zustände verhängnis¬
voll geworden. Einerseits allerdings habe sie einen wirklichen Fortschritt
bewirkt, der sich in Preußen namentlich durch die neue Kreis- und Land-
gemeindeordnnng vollzogen habe; einen Fortschritt freilich, der nicht allgemein
und unbedingt als solcher anerkannt werde, denn Bismnrck z. B, habe in seinen
Gedanken und Erinnerungen gegen diese neue preußische Selbstverwaltung ganz
ähnliche Vorwürfe erhoben, wie Gneist gegen die neue englische. Andrerseits
aber habe Gneist den Liberalismus von seinem wahren Ziele abgelenkt und
die spezifisch preußische Monarchie gestärkt. Der Liberalismus habe lange vor
Gneist, von dem ältern Vincke und dem Freiherr» vom Stein an (man könnte
bis ans Justus Möser zurückgehn) die englische Selbstverwaltung als Ideal
angestrebt und ganz richtig einen Fortschritt zur politischen Freiheit darin ge¬
sehen, wenn lokale Verwaltungen von der Bureaukratie unabhängig gemacht
würden. Nun sei aber Gneist gekommen mit seiner Theorie, daß allerdings
England der Jdealstant, daß aber dort der Beamte der Selbstverwaltungs¬
körper Staatsbeamter sei. Das sei freilich wahr, aber das Verhängnisvolle
bestehe darin, daß dem englischen Staat der kontinentale untergeschoben werde,
worin die gesetzgebende Gewalt beim König ruht, die Volksvertretung bloß
mitwirke, die lokalen Verwaltungsbehörden nur ExPosituren der bureaukratisch
organisierten Regierung seien. So böte die Annahme von Greises Ideen die
Möglichkeit, in Verwaltungseinrichtungen dem Liberalismus weitgehende Kon¬
zessionen zu machen, „zugleich aber die zentralistisch-büreaukratische Struktur
der gesamten innern Verwaltung nicht nur im Prinzip streng festzuhalten,
sondern sogar thatsächlich zu stärken."

Der Staat ist eben nach Redlich in England von Haus aus etwas andres
als bei uns. Es giebt dort kein besondres Staatsrecht, sondern nur ein ein¬
ziges ungeteiltes Recht, das ebensowohl die Pflichten der Beamten wie die
Besitzverhältnisse regelt, die Strafe für Diebstnhl wie die für den Mißbrauch
irgend einer Amtsgewalt bestimmt, und dem alle ohne Ausnahme, auch der
König, zu gehorchen haben. Dieses Recht, oder das Gesetz, ist der wirkliche
Souverän, und der Vollstrecker des Gesetzes, der ordentliche Richter, ist die
einzige wirkliche Obrigkeit; von jeder andern Obrigkeit kann um den Richter
appelliert werden. Die festländische Königsgewalt, die Gewalt des Königs,
allein oder mit seinen Räten Verordnungen zu erlassen, denen Gesetzeskraft
beiwohnt, haben die Tudors und Stuarts angestrebt, aber die puritanische
Sturmflut hat den LimZ in (Zounoil weggeschwemmt, nur den King' in ?»r-
liamMt übrig gelassen und damit das Wesen des ursprünglichen angelsächsischen
Staats wieder hergestellt. Im einzelnen hat Gneist, wie Redlich ausführt,
ganz merkwürdige Schnitzer gemacht. Nicht die Selbstverwaltung haben die


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[0616] Die englische Lokalverwaltung fällig mit der Greises in seinem Buche „Geschichte und heutige Gestalt der Ämter in England" übereinstimme (»der vielmehr umgekehrt, denu Buchers Schrift ist 1854, Greises 1857 erschienen), so komme das daher, daß beide aus derselben Quelle, aus Smith geschöpft hätten. Für Deutschland sei die von Gneist verbreitete Darstellung und Kritik der englischen Zustände verhängnis¬ voll geworden. Einerseits allerdings habe sie einen wirklichen Fortschritt bewirkt, der sich in Preußen namentlich durch die neue Kreis- und Land- gemeindeordnnng vollzogen habe; einen Fortschritt freilich, der nicht allgemein und unbedingt als solcher anerkannt werde, denn Bismnrck z. B, habe in seinen Gedanken und Erinnerungen gegen diese neue preußische Selbstverwaltung ganz ähnliche Vorwürfe erhoben, wie Gneist gegen die neue englische. Andrerseits aber habe Gneist den Liberalismus von seinem wahren Ziele abgelenkt und die spezifisch preußische Monarchie gestärkt. Der Liberalismus habe lange vor Gneist, von dem ältern Vincke und dem Freiherr» vom Stein an (man könnte bis ans Justus Möser zurückgehn) die englische Selbstverwaltung als Ideal angestrebt und ganz richtig einen Fortschritt zur politischen Freiheit darin ge¬ sehen, wenn lokale Verwaltungen von der Bureaukratie unabhängig gemacht würden. Nun sei aber Gneist gekommen mit seiner Theorie, daß allerdings England der Jdealstant, daß aber dort der Beamte der Selbstverwaltungs¬ körper Staatsbeamter sei. Das sei freilich wahr, aber das Verhängnisvolle bestehe darin, daß dem englischen Staat der kontinentale untergeschoben werde, worin die gesetzgebende Gewalt beim König ruht, die Volksvertretung bloß mitwirke, die lokalen Verwaltungsbehörden nur ExPosituren der bureaukratisch organisierten Regierung seien. So böte die Annahme von Greises Ideen die Möglichkeit, in Verwaltungseinrichtungen dem Liberalismus weitgehende Kon¬ zessionen zu machen, „zugleich aber die zentralistisch-büreaukratische Struktur der gesamten innern Verwaltung nicht nur im Prinzip streng festzuhalten, sondern sogar thatsächlich zu stärken." Der Staat ist eben nach Redlich in England von Haus aus etwas andres als bei uns. Es giebt dort kein besondres Staatsrecht, sondern nur ein ein¬ ziges ungeteiltes Recht, das ebensowohl die Pflichten der Beamten wie die Besitzverhältnisse regelt, die Strafe für Diebstnhl wie die für den Mißbrauch irgend einer Amtsgewalt bestimmt, und dem alle ohne Ausnahme, auch der König, zu gehorchen haben. Dieses Recht, oder das Gesetz, ist der wirkliche Souverän, und der Vollstrecker des Gesetzes, der ordentliche Richter, ist die einzige wirkliche Obrigkeit; von jeder andern Obrigkeit kann um den Richter appelliert werden. Die festländische Königsgewalt, die Gewalt des Königs, allein oder mit seinen Räten Verordnungen zu erlassen, denen Gesetzeskraft beiwohnt, haben die Tudors und Stuarts angestrebt, aber die puritanische Sturmflut hat den LimZ in (Zounoil weggeschwemmt, nur den King' in ?»r- liamMt übrig gelassen und damit das Wesen des ursprünglichen angelsächsischen Staats wieder hergestellt. Im einzelnen hat Gneist, wie Redlich ausführt, ganz merkwürdige Schnitzer gemacht. Nicht die Selbstverwaltung haben die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/616>, abgerufen am 22.07.2024.