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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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menschliche Möglichkeit der Erfahrung überhaupt hinausreichendes metaphysisches
Wesen zu machen" (S. 118).

Ziegler verfährt nun im wesentlichen so, daß er die Angaben der synop¬
tischen Evangelien über Christus zusammenstellt, sie gelegentlich mit denen der
paulinischen Briefe vergleicht und dabei von Fall zu Fall zu zeigen sucht,
1. daß sie der modernen Auffassung des Weltalls als eines nach ewigen und
unverbrüchlichen Gesetzen geordneten Ganzen nicht widersprechen; 2. daß die
so gewonnenen Anschauungen -- und zwar sie allein und ausschließlich -- zur
Befriedigung des religiösen Bedürfnisses der modernen Menschen geeignet und
ausreichend sind.

Die erste dieser Beweisreihen enthält der Hauptsache nach eine Bestreitung
des Dogmas von der Gottheit Christi und seiner Fortbildung, der kirchlichen
Trinitütslehrc. Jesus Christus ist für Ziegler nicht "wahrhaftiger Gott vom
Vater in Ewigkeit geboren," er ist auch nicht "empfangen vom heiligen Geist"
und "geboren von der Jungfrau Maria," sondern er erscheint ihm -- nach
den ersten drei Evangelien -- "als der Sohn eines menschlichen Ehepaars,
neben vier Brüdern und einer Zahl Schwestern ans derselben Ehe, als der
Sohn des Zimmermanns Joseph und seiner Ehegattin Maria (Males. 13, 55 f.),
selbst später als ein Zimmermann (Mark. 6, 3), als ein Prophet um sein Volk,
der nirgends auch nur mit einem Worte den Anspruch erhebt, über die Schranken
der menschlichen Natur hinaus zu sein" (S. 50), sein "Sohnesverhältnis zu Gott"
ist ihm "nicht angeboren, sondern ein Ergebnis seiner Entwicklung" (S. 54),
er hat niemals "Allmacht und Allgegenwart" gehabt (S. 54), er ist nicht "die
zweite Person der Gottheit, welche die Synoden in Nicüa, Chalcedon, Ephesus,
Konstantinopel usw. als Schutzmauern des gefährdeten Römerreichs aus Trüm¬
mern alter und unzusammenhüugender, neuer und mißverstandner Erkenntnisse
und Vorstellungen zusammenklebten" (S. 117).

Der Zusammenhang dieser, leider nicht immer in einwandfreien Tone
vorgetragncn Polemik mit den Voraussetzungen des Zieglerschen Systems liegt
klar aus der Hand: die aus dem Vorhandensein des Gewissens und des Ge¬
fühls eiuer höhern Bestimmung des Menschen erschlossene unsichtbare Welt
darf mit der äußern Erscheinungswelt nicht irgendwie mechanisch verbunden
gedacht werden, weil eine solche Verbindung der modernen Auffassung vom
Wesen dieser Erscheinungswelt widersprechen und darum Zieglers Streben nach
Vermittlung zwischen der modernen Auffassung des Weltalls und dem religiösen
Monotheismus vou vornherein illusorisch macheu würde. Ziegler deutet auf
diesen Zusammenhang auch selbst hin, indem er offen nusspricht, durch die
Annahme der Ansicht, "daß Gott seine Majestätseigeuschaften zeitweise abgelegt
und menschlicher Erniedrigung sich zeitweise unterzogen hätte," werde die
"Grundlage unsers Glaubens," der Monotheismus, verleugnet (S. 55), was
sich auch so ausdrücken läßt, daß Ziegler mit einer Auffassung des Monotheismus,
die die Annahme einer Menschwerdung Gottes zuläßt, für sein System nichts
anzufangen weiß. Auch für andre Wunder ist in diesem System streng ge-


menschliche Möglichkeit der Erfahrung überhaupt hinausreichendes metaphysisches
Wesen zu machen" (S. 118).

Ziegler verfährt nun im wesentlichen so, daß er die Angaben der synop¬
tischen Evangelien über Christus zusammenstellt, sie gelegentlich mit denen der
paulinischen Briefe vergleicht und dabei von Fall zu Fall zu zeigen sucht,
1. daß sie der modernen Auffassung des Weltalls als eines nach ewigen und
unverbrüchlichen Gesetzen geordneten Ganzen nicht widersprechen; 2. daß die
so gewonnenen Anschauungen — und zwar sie allein und ausschließlich — zur
Befriedigung des religiösen Bedürfnisses der modernen Menschen geeignet und
ausreichend sind.

Die erste dieser Beweisreihen enthält der Hauptsache nach eine Bestreitung
des Dogmas von der Gottheit Christi und seiner Fortbildung, der kirchlichen
Trinitütslehrc. Jesus Christus ist für Ziegler nicht „wahrhaftiger Gott vom
Vater in Ewigkeit geboren," er ist auch nicht „empfangen vom heiligen Geist"
und „geboren von der Jungfrau Maria," sondern er erscheint ihm — nach
den ersten drei Evangelien — „als der Sohn eines menschlichen Ehepaars,
neben vier Brüdern und einer Zahl Schwestern ans derselben Ehe, als der
Sohn des Zimmermanns Joseph und seiner Ehegattin Maria (Males. 13, 55 f.),
selbst später als ein Zimmermann (Mark. 6, 3), als ein Prophet um sein Volk,
der nirgends auch nur mit einem Worte den Anspruch erhebt, über die Schranken
der menschlichen Natur hinaus zu sein" (S. 50), sein „Sohnesverhältnis zu Gott"
ist ihm „nicht angeboren, sondern ein Ergebnis seiner Entwicklung" (S. 54),
er hat niemals „Allmacht und Allgegenwart" gehabt (S. 54), er ist nicht „die
zweite Person der Gottheit, welche die Synoden in Nicüa, Chalcedon, Ephesus,
Konstantinopel usw. als Schutzmauern des gefährdeten Römerreichs aus Trüm¬
mern alter und unzusammenhüugender, neuer und mißverstandner Erkenntnisse
und Vorstellungen zusammenklebten" (S. 117).

Der Zusammenhang dieser, leider nicht immer in einwandfreien Tone
vorgetragncn Polemik mit den Voraussetzungen des Zieglerschen Systems liegt
klar aus der Hand: die aus dem Vorhandensein des Gewissens und des Ge¬
fühls eiuer höhern Bestimmung des Menschen erschlossene unsichtbare Welt
darf mit der äußern Erscheinungswelt nicht irgendwie mechanisch verbunden
gedacht werden, weil eine solche Verbindung der modernen Auffassung vom
Wesen dieser Erscheinungswelt widersprechen und darum Zieglers Streben nach
Vermittlung zwischen der modernen Auffassung des Weltalls und dem religiösen
Monotheismus vou vornherein illusorisch macheu würde. Ziegler deutet auf
diesen Zusammenhang auch selbst hin, indem er offen nusspricht, durch die
Annahme der Ansicht, „daß Gott seine Majestätseigeuschaften zeitweise abgelegt
und menschlicher Erniedrigung sich zeitweise unterzogen hätte," werde die
„Grundlage unsers Glaubens," der Monotheismus, verleugnet (S. 55), was
sich auch so ausdrücken läßt, daß Ziegler mit einer Auffassung des Monotheismus,
die die Annahme einer Menschwerdung Gottes zuläßt, für sein System nichts
anzufangen weiß. Auch für andre Wunder ist in diesem System streng ge-


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[0512] menschliche Möglichkeit der Erfahrung überhaupt hinausreichendes metaphysisches Wesen zu machen" (S. 118). Ziegler verfährt nun im wesentlichen so, daß er die Angaben der synop¬ tischen Evangelien über Christus zusammenstellt, sie gelegentlich mit denen der paulinischen Briefe vergleicht und dabei von Fall zu Fall zu zeigen sucht, 1. daß sie der modernen Auffassung des Weltalls als eines nach ewigen und unverbrüchlichen Gesetzen geordneten Ganzen nicht widersprechen; 2. daß die so gewonnenen Anschauungen — und zwar sie allein und ausschließlich — zur Befriedigung des religiösen Bedürfnisses der modernen Menschen geeignet und ausreichend sind. Die erste dieser Beweisreihen enthält der Hauptsache nach eine Bestreitung des Dogmas von der Gottheit Christi und seiner Fortbildung, der kirchlichen Trinitütslehrc. Jesus Christus ist für Ziegler nicht „wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geboren," er ist auch nicht „empfangen vom heiligen Geist" und „geboren von der Jungfrau Maria," sondern er erscheint ihm — nach den ersten drei Evangelien — „als der Sohn eines menschlichen Ehepaars, neben vier Brüdern und einer Zahl Schwestern ans derselben Ehe, als der Sohn des Zimmermanns Joseph und seiner Ehegattin Maria (Males. 13, 55 f.), selbst später als ein Zimmermann (Mark. 6, 3), als ein Prophet um sein Volk, der nirgends auch nur mit einem Worte den Anspruch erhebt, über die Schranken der menschlichen Natur hinaus zu sein" (S. 50), sein „Sohnesverhältnis zu Gott" ist ihm „nicht angeboren, sondern ein Ergebnis seiner Entwicklung" (S. 54), er hat niemals „Allmacht und Allgegenwart" gehabt (S. 54), er ist nicht „die zweite Person der Gottheit, welche die Synoden in Nicüa, Chalcedon, Ephesus, Konstantinopel usw. als Schutzmauern des gefährdeten Römerreichs aus Trüm¬ mern alter und unzusammenhüugender, neuer und mißverstandner Erkenntnisse und Vorstellungen zusammenklebten" (S. 117). Der Zusammenhang dieser, leider nicht immer in einwandfreien Tone vorgetragncn Polemik mit den Voraussetzungen des Zieglerschen Systems liegt klar aus der Hand: die aus dem Vorhandensein des Gewissens und des Ge¬ fühls eiuer höhern Bestimmung des Menschen erschlossene unsichtbare Welt darf mit der äußern Erscheinungswelt nicht irgendwie mechanisch verbunden gedacht werden, weil eine solche Verbindung der modernen Auffassung vom Wesen dieser Erscheinungswelt widersprechen und darum Zieglers Streben nach Vermittlung zwischen der modernen Auffassung des Weltalls und dem religiösen Monotheismus vou vornherein illusorisch macheu würde. Ziegler deutet auf diesen Zusammenhang auch selbst hin, indem er offen nusspricht, durch die Annahme der Ansicht, „daß Gott seine Majestätseigeuschaften zeitweise abgelegt und menschlicher Erniedrigung sich zeitweise unterzogen hätte," werde die „Grundlage unsers Glaubens," der Monotheismus, verleugnet (S. 55), was sich auch so ausdrücken läßt, daß Ziegler mit einer Auffassung des Monotheismus, die die Annahme einer Menschwerdung Gottes zuläßt, für sein System nichts anzufangen weiß. Auch für andre Wunder ist in diesem System streng ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/512>, abgerufen am 22.07.2024.