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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die Stellung des Verteidigers im Strafverfahren

Vor allein dem Zweck dieses Verfahrens dienen soll. Aber da liegt die
Frage doch sehr nahe: Thut denn das der Verteidiger, der trotz der eignen
Überzeugung von der Schuld des Angeklagten für dessen Freisprechung ein¬
tritt? Arbeitet er nicht vielmehr der Erreichung dieses Zieles, dem er dienen
soll, direkt entgegen und gefährdet die Ermittlung der Wahrheit in hohem
Maße? Ich glaube, die Frage muß bejaht werden. Und daraus ergiebt sich
auch, daß der Verteidiger, obwohl er Parteivertrcter ist, nicht die Freisprechung
des seiner Ansicht nach schuldigen Angeklagten beantragen darf, denn die Er¬
mittlung der vollen Wahrheit muß auch seine erste Aufgabe sein.

Der von Liszt auch nur nebenher gemachte Einwand, daß der Angeklagte
trotz der Überzeugung des Verteidigers von seiner Schuld nicht notwendig
schuldig zu sein brauche, kann hier nicht gelten. Der Verteidiger muß, Null
er nicht allen Boden unter den Füßen verlieren, selbstverständlich davon aus-
gehn, daß das wahr ist, was ihm nach sorgfältigster Prüfung aller Verhält¬
nisse -- also z, B, nach Prüfung auch eines Geständnisses auf seine Glaub¬
würdigkeit -- als wahr erscheint. Nur von diesem Standpunkt kann er eine
feste Richtschnur für sein Handeln finden.

Liszt sagt ferner mit besondrer Betonung: Der Verteidiger könne um
deswillen auf Freisprechung des seiner Ansicht nach schuldigen Angeklagten plä¬
dieren, weil nicht mir der unschuldige, sondern mich der schuldige Angeklagte,
dessen Schuld uicht erwiesen sei, ein Recht auf Freisprechung habe. Auch
dieser Satz ruft starke Bedenken hervor. Allerdings muß mich der schuldige
Angeklagte, wenn er nicht überführt wird, freigesprochen werden, und man mag,
um nicht über Worte zu streiten, dies immerhin ein Recht des Angeklagten
nennen, aber ein solches Recht, daß der Angeklagte daraus weitere Rechte und
Ansprüche herleiten könnte, ist es doch jedenfalls nicht; wie denn auch der
schuldige Verurteilte, dessen Schuld im Wiedcrausnahineverfahreu für erwiesen
erachtet wird, trotz seines Rechts auf Freisprechung das weitergehende Recht
des Unschuldigen auf Schadenersatz uicht hat. Jedenfalls aber kann der Ver¬
teidiger aus dieser begünstigten Stellung des Angeklagten unmöglich das Recht
herleiten, dem Zweck des gesamten Verfahrens, der Ermittlung der Wahrheit,
entgegenzuarbeiten. Giebt man ihm dieses Recht, so stellt man als Ziel des
Strafprozesses nicht die Ermittlung der vollen Wahrheit hin, sondern die
Konstruktion einer formellen Wahrheit, die Feststellung dessen, was nach Lage
der Sache erweislich wahr ist.

Endlich leitet Liszt aus der Stellung der Staatsanwaltschaft dieses Recht
des Verteidigers her. Aber auch hier muß ihm widersprochen werden. Er
sagt, ein Staatsanwalt sei "ach § 147 des Gcrichtsverfassungsgesetzes ver¬
pflichtet, den Anweisungen seiner Vorgesetzten Folge zu leiste", und so käme
es häufig vor, daß ein Staatsanwalt gegen seine eigne Überzeugung auf
"schuldig" gegen den Angeklagten plädieren müsse. Liszt meint, hierin zeige sich
die völlige Parteistellung der Staatsanwaltschaft, und somit müsse auch der Ver¬
teidiger als Parteivertretcr das Recht habe", gegen seine eigne Überzeugung
zu plädieren.


Die Stellung des Verteidigers im Strafverfahren

Vor allein dem Zweck dieses Verfahrens dienen soll. Aber da liegt die
Frage doch sehr nahe: Thut denn das der Verteidiger, der trotz der eignen
Überzeugung von der Schuld des Angeklagten für dessen Freisprechung ein¬
tritt? Arbeitet er nicht vielmehr der Erreichung dieses Zieles, dem er dienen
soll, direkt entgegen und gefährdet die Ermittlung der Wahrheit in hohem
Maße? Ich glaube, die Frage muß bejaht werden. Und daraus ergiebt sich
auch, daß der Verteidiger, obwohl er Parteivertrcter ist, nicht die Freisprechung
des seiner Ansicht nach schuldigen Angeklagten beantragen darf, denn die Er¬
mittlung der vollen Wahrheit muß auch seine erste Aufgabe sein.

Der von Liszt auch nur nebenher gemachte Einwand, daß der Angeklagte
trotz der Überzeugung des Verteidigers von seiner Schuld nicht notwendig
schuldig zu sein brauche, kann hier nicht gelten. Der Verteidiger muß, Null
er nicht allen Boden unter den Füßen verlieren, selbstverständlich davon aus-
gehn, daß das wahr ist, was ihm nach sorgfältigster Prüfung aller Verhält¬
nisse — also z, B, nach Prüfung auch eines Geständnisses auf seine Glaub¬
würdigkeit — als wahr erscheint. Nur von diesem Standpunkt kann er eine
feste Richtschnur für sein Handeln finden.

Liszt sagt ferner mit besondrer Betonung: Der Verteidiger könne um
deswillen auf Freisprechung des seiner Ansicht nach schuldigen Angeklagten plä¬
dieren, weil nicht mir der unschuldige, sondern mich der schuldige Angeklagte,
dessen Schuld uicht erwiesen sei, ein Recht auf Freisprechung habe. Auch
dieser Satz ruft starke Bedenken hervor. Allerdings muß mich der schuldige
Angeklagte, wenn er nicht überführt wird, freigesprochen werden, und man mag,
um nicht über Worte zu streiten, dies immerhin ein Recht des Angeklagten
nennen, aber ein solches Recht, daß der Angeklagte daraus weitere Rechte und
Ansprüche herleiten könnte, ist es doch jedenfalls nicht; wie denn auch der
schuldige Verurteilte, dessen Schuld im Wiedcrausnahineverfahreu für erwiesen
erachtet wird, trotz seines Rechts auf Freisprechung das weitergehende Recht
des Unschuldigen auf Schadenersatz uicht hat. Jedenfalls aber kann der Ver¬
teidiger aus dieser begünstigten Stellung des Angeklagten unmöglich das Recht
herleiten, dem Zweck des gesamten Verfahrens, der Ermittlung der Wahrheit,
entgegenzuarbeiten. Giebt man ihm dieses Recht, so stellt man als Ziel des
Strafprozesses nicht die Ermittlung der vollen Wahrheit hin, sondern die
Konstruktion einer formellen Wahrheit, die Feststellung dessen, was nach Lage
der Sache erweislich wahr ist.

Endlich leitet Liszt aus der Stellung der Staatsanwaltschaft dieses Recht
des Verteidigers her. Aber auch hier muß ihm widersprochen werden. Er
sagt, ein Staatsanwalt sei »ach § 147 des Gcrichtsverfassungsgesetzes ver¬
pflichtet, den Anweisungen seiner Vorgesetzten Folge zu leiste«, und so käme
es häufig vor, daß ein Staatsanwalt gegen seine eigne Überzeugung auf
„schuldig" gegen den Angeklagten plädieren müsse. Liszt meint, hierin zeige sich
die völlige Parteistellung der Staatsanwaltschaft, und somit müsse auch der Ver¬
teidiger als Parteivertretcr das Recht habe», gegen seine eigne Überzeugung
zu plädieren.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/463>, abgerufen am 22.07.2024.