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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die Ivohmmgs- und Bodenpolitik in Großberlin

Stein bis Delbrück, Gegen diese Vermessenheit kann Andreas Voigts "Auf¬
sehen" erregende Schrift eine sehr zeitgemäße Warnung werden, vorausgesetzt,
daß sie von den Verantwortlicher Staatsmännern beachtet nud richtig ver¬
standen wird. Das wünschen wir ihr und der guten Sache von ganzem
Herzen, Die große Gefahr ist die, daß auch hier wieder an den leitenden
Stellen nicht die Mühe und die Zeit aufgewandt werden, selbständige und un¬
abhängige Urteile zu hören, sondern daß nur das zur Geltung kommt, was
die Stimmführer der herrschenden Schule als omumrmi8 oxinio auszugeben
für angebracht halten.

Von den Abhandlungen des ersten Barth interessiert hier noch die von
Dr. Lindemann über "Wohnungsstatistik," Was die statistische Technik durch
allerhand Manipulationen aus einem spröden Stoff machen kann, das hat der
Herr aus dem wohmmgsstatistischen Material, das in Deutschland zur Ver¬
fügung steht, gemacht, solange man von dein Flächenraum der Grundstücke,
Wohngebäude, Wohnungen und Zimmer, mit denen man rechnet und bogen¬
lange Tabellen füllt, gar keine Ahnung hat, bleibt der Wert der Wohnungs¬
statistik immer problematisch, und es ist besondre Vorsicht bei Schlußfolgerungen
daraus geboten, Häufige Enqueten unter Mitarbeit sachkundiger, praktischer
Männer weil es die Mode verlangt, auch sehr vieler Damen -- thun hier
vorerst noch dringend not, ehe man was Rechtes mit Zahlen und Zählen ans
dem Papier erreichen kann. Trotzdem haben die bisher "ausgemachten" Woh-
nnngsstatistiken und auch die Lindemannschen Zusammenstellungen ihren Wert,
soweit sie den Vergleich verschiedner Zeiten ermöglichen und dadurch ein wenn
mich noch so oberflächliches Bild der Entwicklung der Wohnverhältnisse in den
Großstädten namentlich in den letzten drei Jahrzehnten bieten,

Zug für Zug entspricht dieses Bild dem vielgerühmten industriellen Auf¬
schwung der Großstädte in dieser Zeit, Zu Hunderttausenden find der Berliner
Industrie neue Arbeiter von außen zugeströmt, vorwiegend ungelernte, vielfach
"landflüchtige" Neulinge im Beruf, ältere mit Frau und Kind in großer Zahl,
aber ganz besonders ledige, jüngere, auch halberwachsene Personen, dabei alt und
jung in unselbständiger Erwerbstelluug, mit niedrigen: Verdienst und soweit
sie aus dem Osten kamen -- sehr niedrigen Ansprüchen namentlich an die
Wohnung, Gerade diese Qualität des Massenzuzugs hat den Verschiebungen
im wohnnngsstatistischen Bilde Berlins ihren Charakter verliehn. Wenn in
solchem Maße, wie es in Berlin seit 1870 geschehen ist, der Anteil dieser
Elemente um der Gesamtbewohnerschcift zunimmt, so muß natürlich auch der
Anteil der nach Größe, Lage und sonst weniger guten Wohnungen an der
Gesamtzahl der Wohnungen zunehmen, die Wohmnugsstatistik also ein un¬
günstigeres Bild zeigen. Wenn die "Behausungsziffer," d. h, die durchschnittliche
Zahl der Bewohner für ein bewohntes Grundstück in Berlin

1864 1867 1871 I87S 1880 I88S 1890 189S
50 51,26 56,84 S7.88 60,62 66,90 72,87 71,97

War, so entspricht das ganz der Bevölkerungszunahme, wie wir sie für die


Die Ivohmmgs- und Bodenpolitik in Großberlin

Stein bis Delbrück, Gegen diese Vermessenheit kann Andreas Voigts „Auf¬
sehen" erregende Schrift eine sehr zeitgemäße Warnung werden, vorausgesetzt,
daß sie von den Verantwortlicher Staatsmännern beachtet nud richtig ver¬
standen wird. Das wünschen wir ihr und der guten Sache von ganzem
Herzen, Die große Gefahr ist die, daß auch hier wieder an den leitenden
Stellen nicht die Mühe und die Zeit aufgewandt werden, selbständige und un¬
abhängige Urteile zu hören, sondern daß nur das zur Geltung kommt, was
die Stimmführer der herrschenden Schule als omumrmi8 oxinio auszugeben
für angebracht halten.

Von den Abhandlungen des ersten Barth interessiert hier noch die von
Dr. Lindemann über „Wohnungsstatistik," Was die statistische Technik durch
allerhand Manipulationen aus einem spröden Stoff machen kann, das hat der
Herr aus dem wohmmgsstatistischen Material, das in Deutschland zur Ver¬
fügung steht, gemacht, solange man von dein Flächenraum der Grundstücke,
Wohngebäude, Wohnungen und Zimmer, mit denen man rechnet und bogen¬
lange Tabellen füllt, gar keine Ahnung hat, bleibt der Wert der Wohnungs¬
statistik immer problematisch, und es ist besondre Vorsicht bei Schlußfolgerungen
daraus geboten, Häufige Enqueten unter Mitarbeit sachkundiger, praktischer
Männer weil es die Mode verlangt, auch sehr vieler Damen — thun hier
vorerst noch dringend not, ehe man was Rechtes mit Zahlen und Zählen ans
dem Papier erreichen kann. Trotzdem haben die bisher „ausgemachten" Woh-
nnngsstatistiken und auch die Lindemannschen Zusammenstellungen ihren Wert,
soweit sie den Vergleich verschiedner Zeiten ermöglichen und dadurch ein wenn
mich noch so oberflächliches Bild der Entwicklung der Wohnverhältnisse in den
Großstädten namentlich in den letzten drei Jahrzehnten bieten,

Zug für Zug entspricht dieses Bild dem vielgerühmten industriellen Auf¬
schwung der Großstädte in dieser Zeit, Zu Hunderttausenden find der Berliner
Industrie neue Arbeiter von außen zugeströmt, vorwiegend ungelernte, vielfach
„landflüchtige" Neulinge im Beruf, ältere mit Frau und Kind in großer Zahl,
aber ganz besonders ledige, jüngere, auch halberwachsene Personen, dabei alt und
jung in unselbständiger Erwerbstelluug, mit niedrigen: Verdienst und soweit
sie aus dem Osten kamen — sehr niedrigen Ansprüchen namentlich an die
Wohnung, Gerade diese Qualität des Massenzuzugs hat den Verschiebungen
im wohnnngsstatistischen Bilde Berlins ihren Charakter verliehn. Wenn in
solchem Maße, wie es in Berlin seit 1870 geschehen ist, der Anteil dieser
Elemente um der Gesamtbewohnerschcift zunimmt, so muß natürlich auch der
Anteil der nach Größe, Lage und sonst weniger guten Wohnungen an der
Gesamtzahl der Wohnungen zunehmen, die Wohmnugsstatistik also ein un¬
günstigeres Bild zeigen. Wenn die „Behausungsziffer," d. h, die durchschnittliche
Zahl der Bewohner für ein bewohntes Grundstück in Berlin

1864 1867 1871 I87S 1880 I88S 1890 189S
50 51,26 56,84 S7.88 60,62 66,90 72,87 71,97

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[0459] Die Ivohmmgs- und Bodenpolitik in Großberlin Stein bis Delbrück, Gegen diese Vermessenheit kann Andreas Voigts „Auf¬ sehen" erregende Schrift eine sehr zeitgemäße Warnung werden, vorausgesetzt, daß sie von den Verantwortlicher Staatsmännern beachtet nud richtig ver¬ standen wird. Das wünschen wir ihr und der guten Sache von ganzem Herzen, Die große Gefahr ist die, daß auch hier wieder an den leitenden Stellen nicht die Mühe und die Zeit aufgewandt werden, selbständige und un¬ abhängige Urteile zu hören, sondern daß nur das zur Geltung kommt, was die Stimmführer der herrschenden Schule als omumrmi8 oxinio auszugeben für angebracht halten. Von den Abhandlungen des ersten Barth interessiert hier noch die von Dr. Lindemann über „Wohnungsstatistik," Was die statistische Technik durch allerhand Manipulationen aus einem spröden Stoff machen kann, das hat der Herr aus dem wohmmgsstatistischen Material, das in Deutschland zur Ver¬ fügung steht, gemacht, solange man von dein Flächenraum der Grundstücke, Wohngebäude, Wohnungen und Zimmer, mit denen man rechnet und bogen¬ lange Tabellen füllt, gar keine Ahnung hat, bleibt der Wert der Wohnungs¬ statistik immer problematisch, und es ist besondre Vorsicht bei Schlußfolgerungen daraus geboten, Häufige Enqueten unter Mitarbeit sachkundiger, praktischer Männer weil es die Mode verlangt, auch sehr vieler Damen — thun hier vorerst noch dringend not, ehe man was Rechtes mit Zahlen und Zählen ans dem Papier erreichen kann. Trotzdem haben die bisher „ausgemachten" Woh- nnngsstatistiken und auch die Lindemannschen Zusammenstellungen ihren Wert, soweit sie den Vergleich verschiedner Zeiten ermöglichen und dadurch ein wenn mich noch so oberflächliches Bild der Entwicklung der Wohnverhältnisse in den Großstädten namentlich in den letzten drei Jahrzehnten bieten, Zug für Zug entspricht dieses Bild dem vielgerühmten industriellen Auf¬ schwung der Großstädte in dieser Zeit, Zu Hunderttausenden find der Berliner Industrie neue Arbeiter von außen zugeströmt, vorwiegend ungelernte, vielfach „landflüchtige" Neulinge im Beruf, ältere mit Frau und Kind in großer Zahl, aber ganz besonders ledige, jüngere, auch halberwachsene Personen, dabei alt und jung in unselbständiger Erwerbstelluug, mit niedrigen: Verdienst und soweit sie aus dem Osten kamen — sehr niedrigen Ansprüchen namentlich an die Wohnung, Gerade diese Qualität des Massenzuzugs hat den Verschiebungen im wohnnngsstatistischen Bilde Berlins ihren Charakter verliehn. Wenn in solchem Maße, wie es in Berlin seit 1870 geschehen ist, der Anteil dieser Elemente um der Gesamtbewohnerschcift zunimmt, so muß natürlich auch der Anteil der nach Größe, Lage und sonst weniger guten Wohnungen an der Gesamtzahl der Wohnungen zunehmen, die Wohmnugsstatistik also ein un¬ günstigeres Bild zeigen. Wenn die „Behausungsziffer," d. h, die durchschnittliche Zahl der Bewohner für ein bewohntes Grundstück in Berlin 1864 1867 1871 I87S 1880 I88S 1890 189S 50 51,26 56,84 S7.88 60,62 66,90 72,87 71,97 War, so entspricht das ganz der Bevölkerungszunahme, wie wir sie für die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/459>, abgerufen am 22.07.2024.