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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die englische Lokalverwaltung

lenken und befanden sich ganz wohl bei der herrschenden Konfusion, Ihrem
vergröberten Bcnthamismus gegenüber, der keinen andern Nutzen kennt als
den in Pfund und Schilling ausdrückbaren und der zweiten Hälfte der
Benthamschen Formel: für die größte mögliche Zahl, vergißt, erwächst aus
den Schulen Carlyles, Ruskins und der Christlich-Sozialen der rcformfreund-
liche Jungtorhismus. Trotz aller Hindernisse, die die kapitalistische Selbstsucht
der Reform bereitete, schritt sie uach Redlich stetig fort, und Gladstone konnte
als Erbe der nbgelaufnen ersten Rcformperiode (1832 bis 1867) die allgemein
verbreitete uubestrittue Erkenntnis übernehmen, "daß die innere Staatsver¬
waltung einer auf kapitalistischer Wirtschaftsweise beruhenden Gesellschaft mir
einen großen Zweck vor Augen haben darf und kann, nämlich die fort¬
schreitende Verbesserung der Existenzbedingungen der arbeitenden Klassen, daß
die innere Staatsverwaltung im modernen Staate nichts andres sein kann als
angewandte Sozialpolitik."

Beide Parteien des Parlaments sind in der zweiten und der dritten Reform-
Periode klug genug, die politische Bedeutung der zahlreichen und in Gewerk¬
vereinen organisierten Arbeiterschaft zu erkennen und einig in dem Entschlüsse,
revolutionären Erhebungen durch Reformen vorzubeugen, und in dem auf der
neuen Grundlage des reformierten Parlaments neu organisierten Wahlknmpfe
sucht jede Partei die andre durch Refvrmfrcundlichkcit zu übertrumpfen. So
kommt es zu den ParlamentSreformcn von 1867 und 1385, und obwohl daS
Unterhaus eine aristokratische Körperschaft bleibt, regiert es nach demokratischen
Grundsätzen, Bei der Debatte über die zweite Pnrlamentsreform erklärte einer
der Führer der Reformfreunde, Brodrick: "Die Frage, um die es sich handelt,
lautet: Soll unser Repräsentativsystem von Zeit zu Zeit geändert werden ent¬
sprechend den durch die soziale Entwicklung veränderten Bedürfnissen, oder soll
es dazu dienen, als Schranke diese Entwicklung zu hemmen? Wenn man be¬
denkt, wie gebrechlich eine solche Schranke sein würde gegenüber den sie unter¬
wühlenden Riesenkräften, so ergiebt sich die Beantwortung der Frage von selbst.
Die durch den gesetzgebenden Körper zum Ausdruck ihres Willens gelangende
und handelnde Nation kann schlechterdings nicht die Demokratie als eine außer¬
halb ihrer selbst stehende Erscheinung behandeln oder an einer Verfassung fest-
halte", die mehr aristokratisch ist, als sich mit der sozialen Struktur des Volkes
verträgt." Wie die erste Parlamentsreform, so hatten auch die zweite und
die dritte Verwaltnugsreformcu im Gefolge, lind nach Redlich ist es besonders
John Stuart Mill zu verdanken, daß man sich über die Grundsätze klar wurde,
"ach denen dabei zu Verfahren sei. Er drang darauf, daß auch in der Lokal-
Verwaltung das Repräsentativsystem durchgeführt werde. Der Wert der Lokal-
parlamentc bestehe vorzugsweise darin, daß sie das Volk für die Teilnahme
an der Negierung erzogen. Das Lokalparlament müsse alle Zweige der Ver¬
waltung in sich vereinigen, diese aber, ebenso wie das Landesparlament es
thue, nicht selbst, sondern durch besoldete Beamte ausüben. Für die Gestaltung
des Verhältnisses zur Zentralgewalt stellten die Reformfreunde den Grundsatz


Die englische Lokalverwaltung

lenken und befanden sich ganz wohl bei der herrschenden Konfusion, Ihrem
vergröberten Bcnthamismus gegenüber, der keinen andern Nutzen kennt als
den in Pfund und Schilling ausdrückbaren und der zweiten Hälfte der
Benthamschen Formel: für die größte mögliche Zahl, vergißt, erwächst aus
den Schulen Carlyles, Ruskins und der Christlich-Sozialen der rcformfreund-
liche Jungtorhismus. Trotz aller Hindernisse, die die kapitalistische Selbstsucht
der Reform bereitete, schritt sie uach Redlich stetig fort, und Gladstone konnte
als Erbe der nbgelaufnen ersten Rcformperiode (1832 bis 1867) die allgemein
verbreitete uubestrittue Erkenntnis übernehmen, „daß die innere Staatsver¬
waltung einer auf kapitalistischer Wirtschaftsweise beruhenden Gesellschaft mir
einen großen Zweck vor Augen haben darf und kann, nämlich die fort¬
schreitende Verbesserung der Existenzbedingungen der arbeitenden Klassen, daß
die innere Staatsverwaltung im modernen Staate nichts andres sein kann als
angewandte Sozialpolitik."

Beide Parteien des Parlaments sind in der zweiten und der dritten Reform-
Periode klug genug, die politische Bedeutung der zahlreichen und in Gewerk¬
vereinen organisierten Arbeiterschaft zu erkennen und einig in dem Entschlüsse,
revolutionären Erhebungen durch Reformen vorzubeugen, und in dem auf der
neuen Grundlage des reformierten Parlaments neu organisierten Wahlknmpfe
sucht jede Partei die andre durch Refvrmfrcundlichkcit zu übertrumpfen. So
kommt es zu den ParlamentSreformcn von 1867 und 1385, und obwohl daS
Unterhaus eine aristokratische Körperschaft bleibt, regiert es nach demokratischen
Grundsätzen, Bei der Debatte über die zweite Pnrlamentsreform erklärte einer
der Führer der Reformfreunde, Brodrick: „Die Frage, um die es sich handelt,
lautet: Soll unser Repräsentativsystem von Zeit zu Zeit geändert werden ent¬
sprechend den durch die soziale Entwicklung veränderten Bedürfnissen, oder soll
es dazu dienen, als Schranke diese Entwicklung zu hemmen? Wenn man be¬
denkt, wie gebrechlich eine solche Schranke sein würde gegenüber den sie unter¬
wühlenden Riesenkräften, so ergiebt sich die Beantwortung der Frage von selbst.
Die durch den gesetzgebenden Körper zum Ausdruck ihres Willens gelangende
und handelnde Nation kann schlechterdings nicht die Demokratie als eine außer¬
halb ihrer selbst stehende Erscheinung behandeln oder an einer Verfassung fest-
halte», die mehr aristokratisch ist, als sich mit der sozialen Struktur des Volkes
verträgt." Wie die erste Parlamentsreform, so hatten auch die zweite und
die dritte Verwaltnugsreformcu im Gefolge, lind nach Redlich ist es besonders
John Stuart Mill zu verdanken, daß man sich über die Grundsätze klar wurde,
»ach denen dabei zu Verfahren sei. Er drang darauf, daß auch in der Lokal-
Verwaltung das Repräsentativsystem durchgeführt werde. Der Wert der Lokal-
parlamentc bestehe vorzugsweise darin, daß sie das Volk für die Teilnahme
an der Negierung erzogen. Das Lokalparlament müsse alle Zweige der Ver¬
waltung in sich vereinigen, diese aber, ebenso wie das Landesparlament es
thue, nicht selbst, sondern durch besoldete Beamte ausüben. Für die Gestaltung
des Verhältnisses zur Zentralgewalt stellten die Reformfreunde den Grundsatz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/450>, abgerufen am 26.06.2024.