Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

unberechenbare, geheinliiisvvlle, unentrinnbare Gefahren drohn. Es sind Ge¬
fahren, die der Bewohner von Neapel, Portici und Resina sorglos in seine
Rechnung einstellt, wenn sie ihm nicht gerade greifbar drohend gegenübertreten.
Ein Mitreisender erzählt von einem solchen Tage aus der jüngsten Vergangen¬
heit, von dem des Blntregens am 16. März. Wie in Rom, war auch in
Neapel die schwüle Hitze dieses Tags unerträglich, blutigrot war der Himmel,
die Atmosphäre war in einen dichten, undurchsichtigen Schleier gehüllt, der Vesuv
völlig unsichtbar. Es war natürlich, daß man in ihm, dem alten tückischen
Feinde, den Erreger aller dieser beängstigenden Erscheinungen vermutete, daß
man einen verheerenden Ausbruch fürchtete. Scharen von schutzsuchenden Be¬
wohnern ans deu besonders von ihm bedrohten Ortschaften flüchteten, mit ihrer
Habe beladen, nach Neapel hinein, und hier waren die Kirchen dicht gefüllt
mit Jammernden und Betern; Prozessionen bewegten sich durch die Stadt
und riefen die Hilfe des heiligen Januarius und der Madonna an.

Während wir weiterfahren, erinnert uns Pompeji wie ein gewaltiges ge¬
schichtliches Ausrufungszeichen an die unheimlichen Naturkräfte, die in dem
riesenhaften Kegel dort oben links nur schlummernd, nicht gebändigt liegen,
dann entschwindet dem südwärts Reisenden der Vesuv. Und auch der andre
treue Gefährte, das Meer, das uns im Vergleich zu dem vulkanischen Titanen
wie ein milder, treu sorgender Gefährte des Menschen erscheint, mag es auch
in Stnrmnächten seine ganze Gewalt menschlicher Ohnmacht zeigen, verläßt
uns, oder richtiger, nur verlassen es und biegen in die lachende, üppige Ge¬
birgslandschaft von Nocera dei Pagani und La Cava dei Tirreni ein. Aber
dann, nach etwa einer Stunde, ein Aufleuchten rechts, "ut wieder liegt die
weite blane Fläche mit dem Weißen suum glitzernd und strahlend vor uns: von
dem Golf von Neapel, dem inselbegrenzten, von städtischem Getriebe umwogten,
von Dampfer" durchkreuzten, sind wir in das Gebiet des unbegrenzten, stillen,
vom Weltverkehr wenig berührten Golfs von Salerno getreten, dessen geschichtliche
Wahrzeichen Salerno mit dem Grabe Gregors VII. und die tiefernsten Ruinen
der griechischen Tempel von Pästum sind. Und nun werden Nur also für zwei
Tage ganz im Banne des Mittelländischen Meeres stehn, an dessen Gestaden
sich der größte und wichtigste Teil der alten, der mittlern und der neuern Ge¬
schichte abgespielt hat, und das wie einst den Dulder Odysseus, so heute den
modernen Meuschen mit der Allgewalt seines Zaubers, seines ewigen Wechsels
trotz der scheinbar majestätischen Ruhe gefangen nimmt.

Wir steigen in den trsvo omiüviiL, den Bummelzug, der uus von Neapel
über Battipaglia und S. Pciola, der für das Nachtquartier bestimmte" Station,
nach Reggio Ccilabria bringen soll. Der Rat von römischen Freunden, die
etwas mehr kennen, als die großen vom Fremdenpublikum befahrnen Straßen,
die warme Empfehlung auch des sonst so kühlen Baedekers hatten uns zu dem
Versuch veranlaßt, die Schnellzuge, die nur nachts auf dieser 400 Kilometer
langen Strecke verkehre", zu meiden, und uns am Tage von Land und Leuten
des südlichen Kampaniens und Knlabriens wenigstens ungefähr einen Begriff


unberechenbare, geheinliiisvvlle, unentrinnbare Gefahren drohn. Es sind Ge¬
fahren, die der Bewohner von Neapel, Portici und Resina sorglos in seine
Rechnung einstellt, wenn sie ihm nicht gerade greifbar drohend gegenübertreten.
Ein Mitreisender erzählt von einem solchen Tage aus der jüngsten Vergangen¬
heit, von dem des Blntregens am 16. März. Wie in Rom, war auch in
Neapel die schwüle Hitze dieses Tags unerträglich, blutigrot war der Himmel,
die Atmosphäre war in einen dichten, undurchsichtigen Schleier gehüllt, der Vesuv
völlig unsichtbar. Es war natürlich, daß man in ihm, dem alten tückischen
Feinde, den Erreger aller dieser beängstigenden Erscheinungen vermutete, daß
man einen verheerenden Ausbruch fürchtete. Scharen von schutzsuchenden Be¬
wohnern ans deu besonders von ihm bedrohten Ortschaften flüchteten, mit ihrer
Habe beladen, nach Neapel hinein, und hier waren die Kirchen dicht gefüllt
mit Jammernden und Betern; Prozessionen bewegten sich durch die Stadt
und riefen die Hilfe des heiligen Januarius und der Madonna an.

Während wir weiterfahren, erinnert uns Pompeji wie ein gewaltiges ge¬
schichtliches Ausrufungszeichen an die unheimlichen Naturkräfte, die in dem
riesenhaften Kegel dort oben links nur schlummernd, nicht gebändigt liegen,
dann entschwindet dem südwärts Reisenden der Vesuv. Und auch der andre
treue Gefährte, das Meer, das uns im Vergleich zu dem vulkanischen Titanen
wie ein milder, treu sorgender Gefährte des Menschen erscheint, mag es auch
in Stnrmnächten seine ganze Gewalt menschlicher Ohnmacht zeigen, verläßt
uns, oder richtiger, nur verlassen es und biegen in die lachende, üppige Ge¬
birgslandschaft von Nocera dei Pagani und La Cava dei Tirreni ein. Aber
dann, nach etwa einer Stunde, ein Aufleuchten rechts, »ut wieder liegt die
weite blane Fläche mit dem Weißen suum glitzernd und strahlend vor uns: von
dem Golf von Neapel, dem inselbegrenzten, von städtischem Getriebe umwogten,
von Dampfer» durchkreuzten, sind wir in das Gebiet des unbegrenzten, stillen,
vom Weltverkehr wenig berührten Golfs von Salerno getreten, dessen geschichtliche
Wahrzeichen Salerno mit dem Grabe Gregors VII. und die tiefernsten Ruinen
der griechischen Tempel von Pästum sind. Und nun werden Nur also für zwei
Tage ganz im Banne des Mittelländischen Meeres stehn, an dessen Gestaden
sich der größte und wichtigste Teil der alten, der mittlern und der neuern Ge¬
schichte abgespielt hat, und das wie einst den Dulder Odysseus, so heute den
modernen Meuschen mit der Allgewalt seines Zaubers, seines ewigen Wechsels
trotz der scheinbar majestätischen Ruhe gefangen nimmt.

Wir steigen in den trsvo omiüviiL, den Bummelzug, der uus von Neapel
über Battipaglia und S. Pciola, der für das Nachtquartier bestimmte» Station,
nach Reggio Ccilabria bringen soll. Der Rat von römischen Freunden, die
etwas mehr kennen, als die großen vom Fremdenpublikum befahrnen Straßen,
die warme Empfehlung auch des sonst so kühlen Baedekers hatten uns zu dem
Versuch veranlaßt, die Schnellzuge, die nur nachts auf dieser 400 Kilometer
langen Strecke verkehre», zu meiden, und uns am Tage von Land und Leuten
des südlichen Kampaniens und Knlabriens wenigstens ungefähr einen Begriff


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0036" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235208"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_76" prev="#ID_75"> unberechenbare, geheinliiisvvlle, unentrinnbare Gefahren drohn. Es sind Ge¬<lb/>
fahren, die der Bewohner von Neapel, Portici und Resina sorglos in seine<lb/>
Rechnung einstellt, wenn sie ihm nicht gerade greifbar drohend gegenübertreten.<lb/>
Ein Mitreisender erzählt von einem solchen Tage aus der jüngsten Vergangen¬<lb/>
heit, von dem des Blntregens am 16. März. Wie in Rom, war auch in<lb/>
Neapel die schwüle Hitze dieses Tags unerträglich, blutigrot war der Himmel,<lb/>
die Atmosphäre war in einen dichten, undurchsichtigen Schleier gehüllt, der Vesuv<lb/>
völlig unsichtbar. Es war natürlich, daß man in ihm, dem alten tückischen<lb/>
Feinde, den Erreger aller dieser beängstigenden Erscheinungen vermutete, daß<lb/>
man einen verheerenden Ausbruch fürchtete. Scharen von schutzsuchenden Be¬<lb/>
wohnern ans deu besonders von ihm bedrohten Ortschaften flüchteten, mit ihrer<lb/>
Habe beladen, nach Neapel hinein, und hier waren die Kirchen dicht gefüllt<lb/>
mit Jammernden und Betern; Prozessionen bewegten sich durch die Stadt<lb/>
und riefen die Hilfe des heiligen Januarius und der Madonna an.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_77"> Während wir weiterfahren, erinnert uns Pompeji wie ein gewaltiges ge¬<lb/>
schichtliches Ausrufungszeichen an die unheimlichen Naturkräfte, die in dem<lb/>
riesenhaften Kegel dort oben links nur schlummernd, nicht gebändigt liegen,<lb/>
dann entschwindet dem südwärts Reisenden der Vesuv. Und auch der andre<lb/>
treue Gefährte, das Meer, das uns im Vergleich zu dem vulkanischen Titanen<lb/>
wie ein milder, treu sorgender Gefährte des Menschen erscheint, mag es auch<lb/>
in Stnrmnächten seine ganze Gewalt menschlicher Ohnmacht zeigen, verläßt<lb/>
uns, oder richtiger, nur verlassen es und biegen in die lachende, üppige Ge¬<lb/>
birgslandschaft von Nocera dei Pagani und La Cava dei Tirreni ein. Aber<lb/>
dann, nach etwa einer Stunde, ein Aufleuchten rechts, »ut wieder liegt die<lb/>
weite blane Fläche mit dem Weißen suum glitzernd und strahlend vor uns: von<lb/>
dem Golf von Neapel, dem inselbegrenzten, von städtischem Getriebe umwogten,<lb/>
von Dampfer» durchkreuzten, sind wir in das Gebiet des unbegrenzten, stillen,<lb/>
vom Weltverkehr wenig berührten Golfs von Salerno getreten, dessen geschichtliche<lb/>
Wahrzeichen Salerno mit dem Grabe Gregors VII. und die tiefernsten Ruinen<lb/>
der griechischen Tempel von Pästum sind. Und nun werden Nur also für zwei<lb/>
Tage ganz im Banne des Mittelländischen Meeres stehn, an dessen Gestaden<lb/>
sich der größte und wichtigste Teil der alten, der mittlern und der neuern Ge¬<lb/>
schichte abgespielt hat, und das wie einst den Dulder Odysseus, so heute den<lb/>
modernen Meuschen mit der Allgewalt seines Zaubers, seines ewigen Wechsels<lb/>
trotz der scheinbar majestätischen Ruhe gefangen nimmt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_78" next="#ID_79"> Wir steigen in den trsvo omiüviiL, den Bummelzug, der uus von Neapel<lb/>
über Battipaglia und S. Pciola, der für das Nachtquartier bestimmte» Station,<lb/>
nach Reggio Ccilabria bringen soll. Der Rat von römischen Freunden, die<lb/>
etwas mehr kennen, als die großen vom Fremdenpublikum befahrnen Straßen,<lb/>
die warme Empfehlung auch des sonst so kühlen Baedekers hatten uns zu dem<lb/>
Versuch veranlaßt, die Schnellzuge, die nur nachts auf dieser 400 Kilometer<lb/>
langen Strecke verkehre», zu meiden, und uns am Tage von Land und Leuten<lb/>
des südlichen Kampaniens und Knlabriens wenigstens ungefähr einen Begriff</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0036] unberechenbare, geheinliiisvvlle, unentrinnbare Gefahren drohn. Es sind Ge¬ fahren, die der Bewohner von Neapel, Portici und Resina sorglos in seine Rechnung einstellt, wenn sie ihm nicht gerade greifbar drohend gegenübertreten. Ein Mitreisender erzählt von einem solchen Tage aus der jüngsten Vergangen¬ heit, von dem des Blntregens am 16. März. Wie in Rom, war auch in Neapel die schwüle Hitze dieses Tags unerträglich, blutigrot war der Himmel, die Atmosphäre war in einen dichten, undurchsichtigen Schleier gehüllt, der Vesuv völlig unsichtbar. Es war natürlich, daß man in ihm, dem alten tückischen Feinde, den Erreger aller dieser beängstigenden Erscheinungen vermutete, daß man einen verheerenden Ausbruch fürchtete. Scharen von schutzsuchenden Be¬ wohnern ans deu besonders von ihm bedrohten Ortschaften flüchteten, mit ihrer Habe beladen, nach Neapel hinein, und hier waren die Kirchen dicht gefüllt mit Jammernden und Betern; Prozessionen bewegten sich durch die Stadt und riefen die Hilfe des heiligen Januarius und der Madonna an. Während wir weiterfahren, erinnert uns Pompeji wie ein gewaltiges ge¬ schichtliches Ausrufungszeichen an die unheimlichen Naturkräfte, die in dem riesenhaften Kegel dort oben links nur schlummernd, nicht gebändigt liegen, dann entschwindet dem südwärts Reisenden der Vesuv. Und auch der andre treue Gefährte, das Meer, das uns im Vergleich zu dem vulkanischen Titanen wie ein milder, treu sorgender Gefährte des Menschen erscheint, mag es auch in Stnrmnächten seine ganze Gewalt menschlicher Ohnmacht zeigen, verläßt uns, oder richtiger, nur verlassen es und biegen in die lachende, üppige Ge¬ birgslandschaft von Nocera dei Pagani und La Cava dei Tirreni ein. Aber dann, nach etwa einer Stunde, ein Aufleuchten rechts, »ut wieder liegt die weite blane Fläche mit dem Weißen suum glitzernd und strahlend vor uns: von dem Golf von Neapel, dem inselbegrenzten, von städtischem Getriebe umwogten, von Dampfer» durchkreuzten, sind wir in das Gebiet des unbegrenzten, stillen, vom Weltverkehr wenig berührten Golfs von Salerno getreten, dessen geschichtliche Wahrzeichen Salerno mit dem Grabe Gregors VII. und die tiefernsten Ruinen der griechischen Tempel von Pästum sind. Und nun werden Nur also für zwei Tage ganz im Banne des Mittelländischen Meeres stehn, an dessen Gestaden sich der größte und wichtigste Teil der alten, der mittlern und der neuern Ge¬ schichte abgespielt hat, und das wie einst den Dulder Odysseus, so heute den modernen Meuschen mit der Allgewalt seines Zaubers, seines ewigen Wechsels trotz der scheinbar majestätischen Ruhe gefangen nimmt. Wir steigen in den trsvo omiüviiL, den Bummelzug, der uus von Neapel über Battipaglia und S. Pciola, der für das Nachtquartier bestimmte» Station, nach Reggio Ccilabria bringen soll. Der Rat von römischen Freunden, die etwas mehr kennen, als die großen vom Fremdenpublikum befahrnen Straßen, die warme Empfehlung auch des sonst so kühlen Baedekers hatten uns zu dem Versuch veranlaßt, die Schnellzuge, die nur nachts auf dieser 400 Kilometer langen Strecke verkehre», zu meiden, und uns am Tage von Land und Leuten des südlichen Kampaniens und Knlabriens wenigstens ungefähr einen Begriff

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/36
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/36>, abgerufen am 03.07.2024.