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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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nächst einen Wust methodologischer Untersuchungen auf, die nichts nützen, und
errichtet ein aus der Analyse von fünfzehn bis zwanzig Wissenschaften be¬
stehendes Fundament für seine Anthropologie, die dann weiter nichts ist als
eine Kompilation Darwinischer und soziologischer Redensarten, Der Ameri-
kanismus des Verfassers tritt darin hervor, daß er die Kunst, womit er aber
nicht die schönen Künste meint, höher stellt als die Wissenschaft, die Theorie
nur als Werkzeug der Praxis gelten laßt und einer nur um ihrer selbst willen
gepflegten Wissenschaft die Berechtigung abspricht. Daß er die Moral für die
Krönung der Anthropologie erklärt und mit allen seinen Untersuchungen nichts
erstrebt, als sie neu zu begründen, klingt ja sehr schön, aber der ausgetretne
Weg der Entwicklungsthevretiter und modernen Soziologen, den er wandelt,
führt nicht zum Ziel. Daß wir den Endzweck des Weltalls kennen müßten,
wenn wir aus ihm die Moral ableiten wollten, ihn aber eben nicht kennen,
gesteht er ein. Dennoch findet er, daß sich der höchste Endzweck, für den
strebenden Menschen wenigstens, in vier einzelne Zwecke auflöse: das Über¬
leben des Passendsten, Handeln, Anziehung und Anpassung, Daß aus diesen
vier biologischen Erscheinungen alles andre eher als eine Ethik hervorgehn
kann, weiß jeder, der sich jemals ernsthaft mit dem Gegenstände beschäftigt
hat. In der That wird hier das, was die idealistische Philosophie und das
Christentum unter Ethik verstehn, mit Bewußtsein vernichtet. Die Welt, die
das körperliche Universum und die menschliche Gesellschaft umfaßt, ist nach ihm
so eingerichtet, daß die guten Handlungen unfehlbar belohnt, und die bösen
ebenso unfehlbar bestraft werden. Gut ist der Mensch, wenn er das, was der
gegenwärtige Zustand der Welt erfordert, mit den geeignetsten Mitteln thut,
und er wird dann dadurch belohnt, daß er sich behauptet und die andern über¬
lebt; thut er aber nicht das, was eben jetzt erforderlich ist, sondern erfüllt er
vielleicht die Fordmngen eines Ideals, für das die Welt noch nicht bereit ist,
so wird er beseitigt. Freilich geschieht das, aber muß man den Märtyrer der
Religion, der Wissenschaft oder der Nächstenliebe darum schlecht oder böse
nennen? Und welche von der gegenwärtigen Weltlage geforderte Verrichtung
leisten denn die Bettelweiber, die neunzig Jahre alt werden, wahrend viel
tausend tüchtige Menschen in der Blüte der Jahre sterben?

Da dem Verfasser die Moral, obwohl höchster Zweck der Wissenschaft,
selbst wiederum ein Mittel ist für die Endzwecke des Universums, der Mensch
und die menschliche Gesellschaft aber nur Stadien der Entwicklung dieses Uni¬
versums sind, so gelte" auch in der Ethik die physikalischen und die biologischen
Gesetze, und durch diese falsche Annahme gelangt der Verfasser zu der un¬
sinnigen Behauptung, um eine vollkommne Ethik aufstellen zu können, müsse
man die Biologie studiert haben und die "Tier- und Pflanzenethik" kennen,
vonolu8ion inövitÄblö, o'oft aus 1'cMiang, l'6t,ruls as ig, vonng ocmäuiw,
etoit corQxrcmärg öAirlsmsnt l'vtlliauö anillmlö se l'ötlliouc; VLAvtals, S, 301.)
Es gilt von dieser Ethik, was Herbart von der spinozistischen sagt, daß sie
eine Gesundheitslehre aber keine Ethik sei. Wie die Ethik mit der Gesundheit


nächst einen Wust methodologischer Untersuchungen auf, die nichts nützen, und
errichtet ein aus der Analyse von fünfzehn bis zwanzig Wissenschaften be¬
stehendes Fundament für seine Anthropologie, die dann weiter nichts ist als
eine Kompilation Darwinischer und soziologischer Redensarten, Der Ameri-
kanismus des Verfassers tritt darin hervor, daß er die Kunst, womit er aber
nicht die schönen Künste meint, höher stellt als die Wissenschaft, die Theorie
nur als Werkzeug der Praxis gelten laßt und einer nur um ihrer selbst willen
gepflegten Wissenschaft die Berechtigung abspricht. Daß er die Moral für die
Krönung der Anthropologie erklärt und mit allen seinen Untersuchungen nichts
erstrebt, als sie neu zu begründen, klingt ja sehr schön, aber der ausgetretne
Weg der Entwicklungsthevretiter und modernen Soziologen, den er wandelt,
führt nicht zum Ziel. Daß wir den Endzweck des Weltalls kennen müßten,
wenn wir aus ihm die Moral ableiten wollten, ihn aber eben nicht kennen,
gesteht er ein. Dennoch findet er, daß sich der höchste Endzweck, für den
strebenden Menschen wenigstens, in vier einzelne Zwecke auflöse: das Über¬
leben des Passendsten, Handeln, Anziehung und Anpassung, Daß aus diesen
vier biologischen Erscheinungen alles andre eher als eine Ethik hervorgehn
kann, weiß jeder, der sich jemals ernsthaft mit dem Gegenstände beschäftigt
hat. In der That wird hier das, was die idealistische Philosophie und das
Christentum unter Ethik verstehn, mit Bewußtsein vernichtet. Die Welt, die
das körperliche Universum und die menschliche Gesellschaft umfaßt, ist nach ihm
so eingerichtet, daß die guten Handlungen unfehlbar belohnt, und die bösen
ebenso unfehlbar bestraft werden. Gut ist der Mensch, wenn er das, was der
gegenwärtige Zustand der Welt erfordert, mit den geeignetsten Mitteln thut,
und er wird dann dadurch belohnt, daß er sich behauptet und die andern über¬
lebt; thut er aber nicht das, was eben jetzt erforderlich ist, sondern erfüllt er
vielleicht die Fordmngen eines Ideals, für das die Welt noch nicht bereit ist,
so wird er beseitigt. Freilich geschieht das, aber muß man den Märtyrer der
Religion, der Wissenschaft oder der Nächstenliebe darum schlecht oder böse
nennen? Und welche von der gegenwärtigen Weltlage geforderte Verrichtung
leisten denn die Bettelweiber, die neunzig Jahre alt werden, wahrend viel
tausend tüchtige Menschen in der Blüte der Jahre sterben?

Da dem Verfasser die Moral, obwohl höchster Zweck der Wissenschaft,
selbst wiederum ein Mittel ist für die Endzwecke des Universums, der Mensch
und die menschliche Gesellschaft aber nur Stadien der Entwicklung dieses Uni¬
versums sind, so gelte» auch in der Ethik die physikalischen und die biologischen
Gesetze, und durch diese falsche Annahme gelangt der Verfasser zu der un¬
sinnigen Behauptung, um eine vollkommne Ethik aufstellen zu können, müsse
man die Biologie studiert haben und die „Tier- und Pflanzenethik" kennen,
vonolu8ion inövitÄblö, o'oft aus 1'cMiang, l'6t,ruls as ig, vonng ocmäuiw,
etoit corQxrcmärg öAirlsmsnt l'vtlliauö anillmlö se l'ötlliouc; VLAvtals, S, 301.)
Es gilt von dieser Ethik, was Herbart von der spinozistischen sagt, daß sie
eine Gesundheitslehre aber keine Ethik sei. Wie die Ethik mit der Gesundheit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/34>, abgerufen am 22.07.2024.