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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Line Denkschrift des Ministers Witte

in die Abhängigkeit von einer ganzen Reihe von Obrigkeiten geraten, ange¬
fangen bei den Schulräten, den Adelsmarschällen, den Inspektoren und Direk¬
toren bis hinab zum Bezirkspolizisten und Landpolizisten, ja mittelbar bis
zum Dorfgeistlichen und Gemeindeschreiber, von denen jeder in der Schule seine
Rechte und Forderungen geltend mache. Der Lehrer verliere allen Boden,
könne seine Pflicht nicht ernstlich erfüllen, und die Folge sei eine allgemeine
Flucht der Volksschullehrer. Ähnliche Proteste kamen von andern Land¬
schaften und Schulräten, So schrieb der Nowgoroder Schulrat: "Wenn sich
noch so selbstlose Lehrer finden, die unter solchen Umständen ihre Pflicht ge¬
wissenhaft erfüllen, so muß man sich darüber verwundern, muß sich noch der
Resultate freuen, die jetzt erzielt werden."

Auf den andern Gebieten der Selbstverwaltung, wie Medizinalwesen,
Wegebau usw., konkurrierten die Landschaften mit den in den Gnbennen noch
erhaltnen entsprechenden staatlichen Organen; "in dieser konkurrierenden Thätig¬
keit gewährte die Staatsregierung systematisch alle Borzüge diesen letztern, die
sie als die ihrigen ansah, und überließ der Landschaft nur eine untergeordnete,
rein dienende Rolle. Diese Bevorzugung äußerte sich sogar in den unwesent¬
lichsten, bedeutungslosesten Fragen, einschließlich der bescheidnen Angelegenheit
der Wegereparaturen."

"So wurde, sagt Witte weiter, die Selbständigkeit, diese Grundlage jeder
Selbstverwaltung, und ebenso die Sphäre der landschaftlichen Kompetenz von
der Negierung systematisch eingeengt. Offenbar traute sie der Landschaft nicht.
Das Mißtrauen ist besonders klar zu erkennen in ihrem Verhalten zu den
landschaftlichen Gesuchen. In Bezug auf diese Gesuche war die Regierung
sogar nicht immer konsequent, äußerte sie sehr häufig ein übermäßiges Mi߬
trauen, indem sie auch solche landschaftliche Gesuche'abwies, die eine eruste
Begründung für sich hatten." So wurden alle landschaftlichen Gesuche ab¬
gewiesen, die Ausschließung der Steuerschuldner von der Wählbarkeit in die
landschaftliche Vertretung, und die Geldstrafen für die stimmenden Glieder der
Landschaftsversammlungen wegen unbegründeten Ausbleibens von den Sitzungen
beantragten. Ganz besonders scharf aber war das Mißtrauen der Regierung
gegen die Bitten der Landschaften um Schaffung eines untersten kleinen Ver¬
waltungskörpers, um eine Vereinheitlichung ihrer Thätigkeit und um Erlaß
dieser oder jener allgemein staatlichen Gesetze."

"Nach dem Grundgedanken des Gesetzes von 1864 sollte die Landschaft
"wie dauernde Verbindung mit der Örtlichkeit und der Gesellschaft" aufrecht
halten, aber zur Erhaltung dieser Verbindung gab ihr das Gesetz keinerlei
Mittel. Es wurde nicht nur die landschaftliche Kommune, diese Urzelle der
Selbstverwaltung, nicht geschaffen, sondern den landschaftlichen Kreisbehörden
wurde nicht einmal anheimgegeben, selbst die Beschlüsse der Landschaften aus¬
zuführen. Unmittelbar handeln konnten die Landschaften nicht, teils well das
vom Gesetz verboten war (z. B. rücksichtlich der Naturallnsten), teils deshalb,
weil der Kreis eine zu große Einheit darstellt, deren lokalen Verschiedenheiten


Grenzboten UI 1901 A
Line Denkschrift des Ministers Witte

in die Abhängigkeit von einer ganzen Reihe von Obrigkeiten geraten, ange¬
fangen bei den Schulräten, den Adelsmarschällen, den Inspektoren und Direk¬
toren bis hinab zum Bezirkspolizisten und Landpolizisten, ja mittelbar bis
zum Dorfgeistlichen und Gemeindeschreiber, von denen jeder in der Schule seine
Rechte und Forderungen geltend mache. Der Lehrer verliere allen Boden,
könne seine Pflicht nicht ernstlich erfüllen, und die Folge sei eine allgemeine
Flucht der Volksschullehrer. Ähnliche Proteste kamen von andern Land¬
schaften und Schulräten, So schrieb der Nowgoroder Schulrat: „Wenn sich
noch so selbstlose Lehrer finden, die unter solchen Umständen ihre Pflicht ge¬
wissenhaft erfüllen, so muß man sich darüber verwundern, muß sich noch der
Resultate freuen, die jetzt erzielt werden."

Auf den andern Gebieten der Selbstverwaltung, wie Medizinalwesen,
Wegebau usw., konkurrierten die Landschaften mit den in den Gnbennen noch
erhaltnen entsprechenden staatlichen Organen; „in dieser konkurrierenden Thätig¬
keit gewährte die Staatsregierung systematisch alle Borzüge diesen letztern, die
sie als die ihrigen ansah, und überließ der Landschaft nur eine untergeordnete,
rein dienende Rolle. Diese Bevorzugung äußerte sich sogar in den unwesent¬
lichsten, bedeutungslosesten Fragen, einschließlich der bescheidnen Angelegenheit
der Wegereparaturen."

„So wurde, sagt Witte weiter, die Selbständigkeit, diese Grundlage jeder
Selbstverwaltung, und ebenso die Sphäre der landschaftlichen Kompetenz von
der Negierung systematisch eingeengt. Offenbar traute sie der Landschaft nicht.
Das Mißtrauen ist besonders klar zu erkennen in ihrem Verhalten zu den
landschaftlichen Gesuchen. In Bezug auf diese Gesuche war die Regierung
sogar nicht immer konsequent, äußerte sie sehr häufig ein übermäßiges Mi߬
trauen, indem sie auch solche landschaftliche Gesuche'abwies, die eine eruste
Begründung für sich hatten." So wurden alle landschaftlichen Gesuche ab¬
gewiesen, die Ausschließung der Steuerschuldner von der Wählbarkeit in die
landschaftliche Vertretung, und die Geldstrafen für die stimmenden Glieder der
Landschaftsversammlungen wegen unbegründeten Ausbleibens von den Sitzungen
beantragten. Ganz besonders scharf aber war das Mißtrauen der Regierung
gegen die Bitten der Landschaften um Schaffung eines untersten kleinen Ver¬
waltungskörpers, um eine Vereinheitlichung ihrer Thätigkeit und um Erlaß
dieser oder jener allgemein staatlichen Gesetze."

„Nach dem Grundgedanken des Gesetzes von 1864 sollte die Landschaft
»wie dauernde Verbindung mit der Örtlichkeit und der Gesellschaft« aufrecht
halten, aber zur Erhaltung dieser Verbindung gab ihr das Gesetz keinerlei
Mittel. Es wurde nicht nur die landschaftliche Kommune, diese Urzelle der
Selbstverwaltung, nicht geschaffen, sondern den landschaftlichen Kreisbehörden
wurde nicht einmal anheimgegeben, selbst die Beschlüsse der Landschaften aus¬
zuführen. Unmittelbar handeln konnten die Landschaften nicht, teils well das
vom Gesetz verboten war (z. B. rücksichtlich der Naturallnsten), teils deshalb,
weil der Kreis eine zu große Einheit darstellt, deren lokalen Verschiedenheiten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/257>, abgerufen am 23.07.2024.