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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die Neukolonisation Südamerikas

Urwald, Gebirge und Steppen getrennt waren. Erst als die Forschung über
diese Gebiete immer mehr Licht verbreitete, und die in ihnen verborgnen natür¬
lichen Schätze ausgebeutet wurden, brachen zwischen den südamerikanischen
Brüdern Grenzstreitigkeiten ans. Diese Ära ist heute noch nicht überwunden.
Wohin man schaut, überall sieht mau direkte Feindschaft oder doch Eifersüchtelei
zwischen den Nachbarstaaten, die in periodischem Säbelgerassel, Handelschikanen,
Quarantänen, freundnachbnrlicher Unterstützung revolutionärer Propaganda
ihren Ailsdruck finden. Dafür dann wieder um so engere Freundschaft zwischen
den Staaten, die keine gemeinsamen Grenzen haben. So fühlt sich Peru zu
dem fernen Argentinien hingezogen, das in fortwährenden Grenzstreitigkeiten
mit dem beiden benachbarten Chile lebt. Während die Nachbarrepnbliken
Ekuador und Kolumbien einander in den Haaren liegen, ist dafür Kolumbien
um so enger mit dem entlegnen Peru befreundet, wogegen Ekuador den
"nbeguemcu Nachbar des Peruaners, den Chilenen, ins Herz geschlossen hat.
Da natürlich wieder Kolumbien und Venezuela miteinander verfeindet find, ist
es kein Wunder, wenn dafür Venezuela seine Sympathien Chile und seinem
Anhang zuwendet. Brasilien kokettiert zwar zur Zeit aus Gründen zoll-
politischcr Natur mit dein allerdings nur durch eine kleine Grenzgemeinschaft
verbundnen Argentinien, im übrigen aber ruht die Freundschaft des Riesen¬
reichs am Atlantischen Ozean zu der Pazifiemacht Chile auf soliderer Grund¬
lage. Also überall bunte Reihe von Neigung und Abneigung, etwa dieselbe
Erscheinung, die man in der Alten Welt auf die boshafte Formel gebracht
hat, daß die Zuneigung in dem Quadrat der Entfernung wachse.

Es darf bei solchen Zuständen nicht Wunder nehmen, wenn die wirkliche
Kolonisation von nicht kreolischer Seite bisher hinter der kapitalistischen zurücktrat.
Zur ersten gehört vor allem das Gefühl der Sicherheit und der persönlichen
Freiheit, das dem Siedler ermöglicht, in ein sittliches Verhältnis zu dem Laude
und dessen bisherigen Bewohnern zu treten. Diese Vorbedingung war meist
nicht vorhanden, und so vermochte der südliche Kontinent nicht entfernt dieselbe
Anziehungskraft auf die europäische El'nwandrnug auszuüben wie der nörd¬
liche. Eine ausreichende Sicdlungskolonisation ist aber für derartige Neu¬
länder die erste Voraussetzung, wenn wirklich dauerndes geschaffen werden soll.
?Mg,r os Ap0om",r, bevölkern ist die Grundlage jedes Regierens, in diese
knappe Formel hat ein einsichtiger südamerikanischer Staatsmann das Problem
gefaßt. Immerhin ist die bisherige Einwandrnng schon von solcher Bedeutung,
daß die Bevölkerung gewisser Ländergebiete durch sie vorläufig ihr charakte¬
ristisches Gepräge erhalten hat, und auch, wenn eine Neukolonisation in
großem Stile einsetzen wird, diese mit den schon vorhandnen eingewanderten
Elementen ganz wesentlich zu rechnen haben wird. Welchen Rassen und Völkern
gehören nun diese an, und welche kolonisatorischen Fähigkeiten haben sie?

Im großen und ganzen wird man bei einer Prüfung der Leistungen der
Kolonisten aus den verschiednen europäischen Kulturstaaten zu dem Ergebnis
kommen, daß je nach der Stellung, die deren Heimatland im modernen europäischen


Die Neukolonisation Südamerikas

Urwald, Gebirge und Steppen getrennt waren. Erst als die Forschung über
diese Gebiete immer mehr Licht verbreitete, und die in ihnen verborgnen natür¬
lichen Schätze ausgebeutet wurden, brachen zwischen den südamerikanischen
Brüdern Grenzstreitigkeiten ans. Diese Ära ist heute noch nicht überwunden.
Wohin man schaut, überall sieht mau direkte Feindschaft oder doch Eifersüchtelei
zwischen den Nachbarstaaten, die in periodischem Säbelgerassel, Handelschikanen,
Quarantänen, freundnachbnrlicher Unterstützung revolutionärer Propaganda
ihren Ailsdruck finden. Dafür dann wieder um so engere Freundschaft zwischen
den Staaten, die keine gemeinsamen Grenzen haben. So fühlt sich Peru zu
dem fernen Argentinien hingezogen, das in fortwährenden Grenzstreitigkeiten
mit dem beiden benachbarten Chile lebt. Während die Nachbarrepnbliken
Ekuador und Kolumbien einander in den Haaren liegen, ist dafür Kolumbien
um so enger mit dem entlegnen Peru befreundet, wogegen Ekuador den
»nbeguemcu Nachbar des Peruaners, den Chilenen, ins Herz geschlossen hat.
Da natürlich wieder Kolumbien und Venezuela miteinander verfeindet find, ist
es kein Wunder, wenn dafür Venezuela seine Sympathien Chile und seinem
Anhang zuwendet. Brasilien kokettiert zwar zur Zeit aus Gründen zoll-
politischcr Natur mit dein allerdings nur durch eine kleine Grenzgemeinschaft
verbundnen Argentinien, im übrigen aber ruht die Freundschaft des Riesen¬
reichs am Atlantischen Ozean zu der Pazifiemacht Chile auf soliderer Grund¬
lage. Also überall bunte Reihe von Neigung und Abneigung, etwa dieselbe
Erscheinung, die man in der Alten Welt auf die boshafte Formel gebracht
hat, daß die Zuneigung in dem Quadrat der Entfernung wachse.

Es darf bei solchen Zuständen nicht Wunder nehmen, wenn die wirkliche
Kolonisation von nicht kreolischer Seite bisher hinter der kapitalistischen zurücktrat.
Zur ersten gehört vor allem das Gefühl der Sicherheit und der persönlichen
Freiheit, das dem Siedler ermöglicht, in ein sittliches Verhältnis zu dem Laude
und dessen bisherigen Bewohnern zu treten. Diese Vorbedingung war meist
nicht vorhanden, und so vermochte der südliche Kontinent nicht entfernt dieselbe
Anziehungskraft auf die europäische El'nwandrnug auszuüben wie der nörd¬
liche. Eine ausreichende Sicdlungskolonisation ist aber für derartige Neu¬
länder die erste Voraussetzung, wenn wirklich dauerndes geschaffen werden soll.
?Mg,r os Ap0om»,r, bevölkern ist die Grundlage jedes Regierens, in diese
knappe Formel hat ein einsichtiger südamerikanischer Staatsmann das Problem
gefaßt. Immerhin ist die bisherige Einwandrnng schon von solcher Bedeutung,
daß die Bevölkerung gewisser Ländergebiete durch sie vorläufig ihr charakte¬
ristisches Gepräge erhalten hat, und auch, wenn eine Neukolonisation in
großem Stile einsetzen wird, diese mit den schon vorhandnen eingewanderten
Elementen ganz wesentlich zu rechnen haben wird. Welchen Rassen und Völkern
gehören nun diese an, und welche kolonisatorischen Fähigkeiten haben sie?

Im großen und ganzen wird man bei einer Prüfung der Leistungen der
Kolonisten aus den verschiednen europäischen Kulturstaaten zu dem Ergebnis
kommen, daß je nach der Stellung, die deren Heimatland im modernen europäischen


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[0108] Die Neukolonisation Südamerikas Urwald, Gebirge und Steppen getrennt waren. Erst als die Forschung über diese Gebiete immer mehr Licht verbreitete, und die in ihnen verborgnen natür¬ lichen Schätze ausgebeutet wurden, brachen zwischen den südamerikanischen Brüdern Grenzstreitigkeiten ans. Diese Ära ist heute noch nicht überwunden. Wohin man schaut, überall sieht mau direkte Feindschaft oder doch Eifersüchtelei zwischen den Nachbarstaaten, die in periodischem Säbelgerassel, Handelschikanen, Quarantänen, freundnachbnrlicher Unterstützung revolutionärer Propaganda ihren Ailsdruck finden. Dafür dann wieder um so engere Freundschaft zwischen den Staaten, die keine gemeinsamen Grenzen haben. So fühlt sich Peru zu dem fernen Argentinien hingezogen, das in fortwährenden Grenzstreitigkeiten mit dem beiden benachbarten Chile lebt. Während die Nachbarrepnbliken Ekuador und Kolumbien einander in den Haaren liegen, ist dafür Kolumbien um so enger mit dem entlegnen Peru befreundet, wogegen Ekuador den »nbeguemcu Nachbar des Peruaners, den Chilenen, ins Herz geschlossen hat. Da natürlich wieder Kolumbien und Venezuela miteinander verfeindet find, ist es kein Wunder, wenn dafür Venezuela seine Sympathien Chile und seinem Anhang zuwendet. Brasilien kokettiert zwar zur Zeit aus Gründen zoll- politischcr Natur mit dein allerdings nur durch eine kleine Grenzgemeinschaft verbundnen Argentinien, im übrigen aber ruht die Freundschaft des Riesen¬ reichs am Atlantischen Ozean zu der Pazifiemacht Chile auf soliderer Grund¬ lage. Also überall bunte Reihe von Neigung und Abneigung, etwa dieselbe Erscheinung, die man in der Alten Welt auf die boshafte Formel gebracht hat, daß die Zuneigung in dem Quadrat der Entfernung wachse. Es darf bei solchen Zuständen nicht Wunder nehmen, wenn die wirkliche Kolonisation von nicht kreolischer Seite bisher hinter der kapitalistischen zurücktrat. Zur ersten gehört vor allem das Gefühl der Sicherheit und der persönlichen Freiheit, das dem Siedler ermöglicht, in ein sittliches Verhältnis zu dem Laude und dessen bisherigen Bewohnern zu treten. Diese Vorbedingung war meist nicht vorhanden, und so vermochte der südliche Kontinent nicht entfernt dieselbe Anziehungskraft auf die europäische El'nwandrnug auszuüben wie der nörd¬ liche. Eine ausreichende Sicdlungskolonisation ist aber für derartige Neu¬ länder die erste Voraussetzung, wenn wirklich dauerndes geschaffen werden soll. ?Mg,r os Ap0om»,r, bevölkern ist die Grundlage jedes Regierens, in diese knappe Formel hat ein einsichtiger südamerikanischer Staatsmann das Problem gefaßt. Immerhin ist die bisherige Einwandrnng schon von solcher Bedeutung, daß die Bevölkerung gewisser Ländergebiete durch sie vorläufig ihr charakte¬ ristisches Gepräge erhalten hat, und auch, wenn eine Neukolonisation in großem Stile einsetzen wird, diese mit den schon vorhandnen eingewanderten Elementen ganz wesentlich zu rechnen haben wird. Welchen Rassen und Völkern gehören nun diese an, und welche kolonisatorischen Fähigkeiten haben sie? Im großen und ganzen wird man bei einer Prüfung der Leistungen der Kolonisten aus den verschiednen europäischen Kulturstaaten zu dem Ergebnis kommen, daß je nach der Stellung, die deren Heimatland im modernen europäischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/108>, abgerufen am 22.07.2024.