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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Wohmmgs- und Bodenpolitik

ist vor alln" dafür zu sorgen, daß sich die Landarbeiter in ihrer Stellung
wohl und zufrieden fühlen; es muß ihnen die Möglichkeit geboten werden,
auf dein Lande das zu erlangen, was sie bisher in der Stadt suchten, zunächst
also die Möglichkeit, sich wirtschaftlich selbständig zu machen, sich ein festes
Heim zu gründen. Es ist dies um so wichtiger, da die Klagen über mangelnde
Arbeitskräfte auf dem Lande im Wachsen begriffen sind, wahrend in Städten,
namentlich in Berlin, vielfach Überfluß an solchen herrscht." Es herrscht in
den Großstädten jetzt wieder ein recht bedenklicher Überfluß an Arbeitskräften
und auf dem Lande entsprechender Mangel daran. Die Regierung hat des¬
halb auch Veranlassung genommen, sich etwas mehr als bisher um den Arbeits¬
nachweis zu kümmern, wobei es hauptsächlich auf die Überweisung der in der
Stadt und in der Industrie überschüssig werdenden Arbeiter auf das Land und
in die Landwirtschaft abgesehen zu sein scheint. Wenn man sich aber in Alt¬
preußen nicht entschließt, sehr bald und ganz energisch die ans dem Lande und
in der Landwirtschaft liegenden Gründe zu beseitigen, die den Landarbeitern
die Heimat verleiden und sie in die Städte und in die Industrie treibe", so
wird diese neue Arbeitsnachlveisaktiv" der Regierung für ihren Zweck wohl
ein wertloses opus 0v6ra,drin bleiben, wie wir schon so manches erlebt haben.
Man wird dann weder die Arbeitskräfte, die die Landwirte brauchen können,
und die überhaupt fürs Land taugen, aus der Stadt dorthin bringen, uoch
vollends die tüchtigen Landarbeiter auf dem Lande festhalten. Wie in der
zweiten Hälfte der siebziger Jahre, als die Städte und die Industrie eine
Menge geringer Arbeitskräfte abstießen, wird das Land wahrscheinlich auch
jetzt wieder in der Hauptsache eine" sehr unerwünschten Zuzug unzuverlässigen
und unbrauchbaren Gesindels aus den Städten erhalten, Stammgäste für die
Verpflegungsstationen und Arbeiterkolonien, die man ans den Dörfern so bald
als möglich wieder verjagen sollte, statt sie dort etwa "seßhaft" zu macheu.
Die Regierung muß endlich einsehen, daß mit dem Kampf gegen die Land¬
flucht bittrer Ernst gemacht werden muß, und daß sie diesen Kampf durch¬
führen muß zu allererst gegen einen großen Teil der landwirtschaftlichen Unter¬
nehmer. Wenn die preußischen Staatsmänner die Durchführung dieser Sozial¬
reform auf dem Lande nicht als eine der ersten und wichtigsten Aufgaben des
zwanzigsten Jahrhunderts anerkennen und die Opposition der agrarischen Unter¬
nehmerschaft zu brechen wagen, so sind sie den großen Aufgaben der nächsten
Zukunft überhaupt nicht gewachsen. In scharfem Kampfe gegen die industrielle"
Unternehmer hat der Staat in den letzte" Zeiten des neunzehnten Jahrhunderts
die städtische Sozialrefvrm außerordentlich gefördert, für die ländliche ist da¬
gegen so gut wie nichts geschehn. Wie soll da die Landflucht ein Ende nehmen?
Es müßte wahrhaftig als die verkehrte Welt erscheinen, wenn die Regierung
und die Berliner Sozialreformer den Städten und der Industrie immer neue,
immer gewaltigere, zum Teil geradezu grenzenlose Aufgaben in sozialer Be¬
ziehung stelle" wollte", oh"e zugleich die vernachlässigten, unerträglich und
unhaltbar gewordnen soziale" Z"sea"de a"f den, Lande mit allen zu Gebote


Wohmmgs- und Bodenpolitik

ist vor alln» dafür zu sorgen, daß sich die Landarbeiter in ihrer Stellung
wohl und zufrieden fühlen; es muß ihnen die Möglichkeit geboten werden,
auf dein Lande das zu erlangen, was sie bisher in der Stadt suchten, zunächst
also die Möglichkeit, sich wirtschaftlich selbständig zu machen, sich ein festes
Heim zu gründen. Es ist dies um so wichtiger, da die Klagen über mangelnde
Arbeitskräfte auf dem Lande im Wachsen begriffen sind, wahrend in Städten,
namentlich in Berlin, vielfach Überfluß an solchen herrscht." Es herrscht in
den Großstädten jetzt wieder ein recht bedenklicher Überfluß an Arbeitskräften
und auf dem Lande entsprechender Mangel daran. Die Regierung hat des¬
halb auch Veranlassung genommen, sich etwas mehr als bisher um den Arbeits¬
nachweis zu kümmern, wobei es hauptsächlich auf die Überweisung der in der
Stadt und in der Industrie überschüssig werdenden Arbeiter auf das Land und
in die Landwirtschaft abgesehen zu sein scheint. Wenn man sich aber in Alt¬
preußen nicht entschließt, sehr bald und ganz energisch die ans dem Lande und
in der Landwirtschaft liegenden Gründe zu beseitigen, die den Landarbeitern
die Heimat verleiden und sie in die Städte und in die Industrie treibe», so
wird diese neue Arbeitsnachlveisaktiv» der Regierung für ihren Zweck wohl
ein wertloses opus 0v6ra,drin bleiben, wie wir schon so manches erlebt haben.
Man wird dann weder die Arbeitskräfte, die die Landwirte brauchen können,
und die überhaupt fürs Land taugen, aus der Stadt dorthin bringen, uoch
vollends die tüchtigen Landarbeiter auf dem Lande festhalten. Wie in der
zweiten Hälfte der siebziger Jahre, als die Städte und die Industrie eine
Menge geringer Arbeitskräfte abstießen, wird das Land wahrscheinlich auch
jetzt wieder in der Hauptsache eine» sehr unerwünschten Zuzug unzuverlässigen
und unbrauchbaren Gesindels aus den Städten erhalten, Stammgäste für die
Verpflegungsstationen und Arbeiterkolonien, die man ans den Dörfern so bald
als möglich wieder verjagen sollte, statt sie dort etwa „seßhaft" zu macheu.
Die Regierung muß endlich einsehen, daß mit dem Kampf gegen die Land¬
flucht bittrer Ernst gemacht werden muß, und daß sie diesen Kampf durch¬
führen muß zu allererst gegen einen großen Teil der landwirtschaftlichen Unter¬
nehmer. Wenn die preußischen Staatsmänner die Durchführung dieser Sozial¬
reform auf dem Lande nicht als eine der ersten und wichtigsten Aufgaben des
zwanzigsten Jahrhunderts anerkennen und die Opposition der agrarischen Unter¬
nehmerschaft zu brechen wagen, so sind sie den großen Aufgaben der nächsten
Zukunft überhaupt nicht gewachsen. In scharfem Kampfe gegen die industrielle»
Unternehmer hat der Staat in den letzte» Zeiten des neunzehnten Jahrhunderts
die städtische Sozialrefvrm außerordentlich gefördert, für die ländliche ist da¬
gegen so gut wie nichts geschehn. Wie soll da die Landflucht ein Ende nehmen?
Es müßte wahrhaftig als die verkehrte Welt erscheinen, wenn die Regierung
und die Berliner Sozialreformer den Städten und der Industrie immer neue,
immer gewaltigere, zum Teil geradezu grenzenlose Aufgaben in sozialer Be¬
ziehung stelle» wollte», oh»e zugleich die vernachlässigten, unerträglich und
unhaltbar gewordnen soziale» Z»sea»de a»f den, Lande mit allen zu Gebote


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[0554] Wohmmgs- und Bodenpolitik ist vor alln» dafür zu sorgen, daß sich die Landarbeiter in ihrer Stellung wohl und zufrieden fühlen; es muß ihnen die Möglichkeit geboten werden, auf dein Lande das zu erlangen, was sie bisher in der Stadt suchten, zunächst also die Möglichkeit, sich wirtschaftlich selbständig zu machen, sich ein festes Heim zu gründen. Es ist dies um so wichtiger, da die Klagen über mangelnde Arbeitskräfte auf dem Lande im Wachsen begriffen sind, wahrend in Städten, namentlich in Berlin, vielfach Überfluß an solchen herrscht." Es herrscht in den Großstädten jetzt wieder ein recht bedenklicher Überfluß an Arbeitskräften und auf dem Lande entsprechender Mangel daran. Die Regierung hat des¬ halb auch Veranlassung genommen, sich etwas mehr als bisher um den Arbeits¬ nachweis zu kümmern, wobei es hauptsächlich auf die Überweisung der in der Stadt und in der Industrie überschüssig werdenden Arbeiter auf das Land und in die Landwirtschaft abgesehen zu sein scheint. Wenn man sich aber in Alt¬ preußen nicht entschließt, sehr bald und ganz energisch die ans dem Lande und in der Landwirtschaft liegenden Gründe zu beseitigen, die den Landarbeitern die Heimat verleiden und sie in die Städte und in die Industrie treibe», so wird diese neue Arbeitsnachlveisaktiv» der Regierung für ihren Zweck wohl ein wertloses opus 0v6ra,drin bleiben, wie wir schon so manches erlebt haben. Man wird dann weder die Arbeitskräfte, die die Landwirte brauchen können, und die überhaupt fürs Land taugen, aus der Stadt dorthin bringen, uoch vollends die tüchtigen Landarbeiter auf dem Lande festhalten. Wie in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, als die Städte und die Industrie eine Menge geringer Arbeitskräfte abstießen, wird das Land wahrscheinlich auch jetzt wieder in der Hauptsache eine» sehr unerwünschten Zuzug unzuverlässigen und unbrauchbaren Gesindels aus den Städten erhalten, Stammgäste für die Verpflegungsstationen und Arbeiterkolonien, die man ans den Dörfern so bald als möglich wieder verjagen sollte, statt sie dort etwa „seßhaft" zu macheu. Die Regierung muß endlich einsehen, daß mit dem Kampf gegen die Land¬ flucht bittrer Ernst gemacht werden muß, und daß sie diesen Kampf durch¬ führen muß zu allererst gegen einen großen Teil der landwirtschaftlichen Unter¬ nehmer. Wenn die preußischen Staatsmänner die Durchführung dieser Sozial¬ reform auf dem Lande nicht als eine der ersten und wichtigsten Aufgaben des zwanzigsten Jahrhunderts anerkennen und die Opposition der agrarischen Unter¬ nehmerschaft zu brechen wagen, so sind sie den großen Aufgaben der nächsten Zukunft überhaupt nicht gewachsen. In scharfem Kampfe gegen die industrielle» Unternehmer hat der Staat in den letzte» Zeiten des neunzehnten Jahrhunderts die städtische Sozialrefvrm außerordentlich gefördert, für die ländliche ist da¬ gegen so gut wie nichts geschehn. Wie soll da die Landflucht ein Ende nehmen? Es müßte wahrhaftig als die verkehrte Welt erscheinen, wenn die Regierung und die Berliner Sozialreformer den Städten und der Industrie immer neue, immer gewaltigere, zum Teil geradezu grenzenlose Aufgaben in sozialer Be¬ ziehung stelle» wollte», oh»e zugleich die vernachlässigten, unerträglich und unhaltbar gewordnen soziale» Z»sea»de a»f den, Lande mit allen zu Gebote

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/554>, abgerufen am 22.07.2024.