Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Sozialdemokratin können sogar darauf hinweisen, daß man gar kein Gesetz
nötig hat, um den Vorteil von Wahlmännern zu haben, denn ihre werbenden
Anhänger erfüllen deren Aufgabe" schon jetzt, und es sind noch dazu Wahl¬
männer, die während der ganzen Wahlperiode wirken, am meisten natürlich
auch am Wahltage selbst, ohne daß gegen das Wahlergebnis der Borwurf er¬
hoben werden/könnte, es beruhe auf einer fälschenden Zahlcntombination."

Die Ausführlichkeit des Zitats ist dadurch gerechtfertigt, daß die Dinge
jetzt noch gerade so liegen wie 1897, wo die Worte geschrieben sind, und daß
anschaulich geschildert ist, was die Gebildeten, deren Einfluß Fürst Bismarck
gehoben sehen möchte, versäumen, und wie sehr sie den in der Erteilung des
allgemeinen Wahlrechts liegenden Sporn zu politischer That unbeachtet gelassen
und ihre Pflicht verkannt haben, sich ihres natürlichen Berufs als Führer der
wählenden Menge würdig zu erzeigen. Insofern kann vielleicht behauptet
werden, daß sich das allgemeine Wahlrecht praktisch nicht bewährt habe, aber
doch mir durch einen nicht in ihm liegenden Mangel und durch eine Schuld,
die sich in der Zukunft durch thätige Reue sühnen läßt. Weit eher als die
Unbrauchbarkeit des Wahlrechts ließe sich ans dem Versäumter der Schluß
herleiten, daß wir für politische Freiheit keinen Sinn haben. Doch es handelt
sich nur um eine Nbergangskrankhcit, um ein besonders beklagenswertes
Symptom davon. Der Wert des allgemeinen Wahlrechts wird dadurch gar
nicht berührt.

Natürlich ist dieser Wert nur relativer Art, wie alle politischen Formen
nur relativen, historischen, vergänglichen Wert haben, in dem Sinne wie Goethe
sagt: Denn alles, was besteht, ist wert, daß es zu Grunde geht -- wenn es
seine Bestimmung erfüllt hat, wie ergänzt werden darf, und mich dem Fürsten
Bismarck deutlich gewesen ist, der ja das Reichstagswahlrecht nicht für das
richtige Prinzip, sondern nur für ein richtiges Prinzip erklärt. Und noch ist
diese Bestimmung nicht erfüllt, noch ist es ein wirksames Stück seines Ver¬
mächtnisses. Wir haben uns zu bemühen, den Sinn, den er mit den kurzen
Worten verband, zu erfassen.

"Die Einseitigkeit des Reichstagswahlrechts, die darin besteht, daß die
Stimmen mir gezählt werden, nicht nach dem geistigen, wirtschaftlichen und
sozialen Wert ihrer Träger abgestuft sind, wird für das Reich als Ganzes
bis zu einem gewissen Grade durch seine räumliche Ausdehnung ausgeglichen.
Die Zufälle und Überraschungen nämlich, denen dieses Wahlrecht noch mehr
als andre ausgesetzt ist, können sich nicht ans vereinzelte Wahlkreise beschränken,
sondern wiederholen sich in mehreren, aber natürlich mit abweichenden Erfolge,
sodaß, was in dem einen Kreise verloren wird, in einem andern gewonnen,
und das Gesamtergebnis nicht leicht getrübt wird. Einer Trübung widersetzt
sich die Größe des Reichsgebiets auch dann, wenn eine noch so mächtige
Geistesströmung auf einen Teil der Bevölkerung beschränkt bleibt, denn bei
den andern Volksschichten wird sich dann in der Regel starker Widerstand
zeigen, und zwar so, daß sie sich gemeinschaftlich gegen die das bisherige


Sozialdemokratin können sogar darauf hinweisen, daß man gar kein Gesetz
nötig hat, um den Vorteil von Wahlmännern zu haben, denn ihre werbenden
Anhänger erfüllen deren Aufgabe» schon jetzt, und es sind noch dazu Wahl¬
männer, die während der ganzen Wahlperiode wirken, am meisten natürlich
auch am Wahltage selbst, ohne daß gegen das Wahlergebnis der Borwurf er¬
hoben werden/könnte, es beruhe auf einer fälschenden Zahlcntombination."

Die Ausführlichkeit des Zitats ist dadurch gerechtfertigt, daß die Dinge
jetzt noch gerade so liegen wie 1897, wo die Worte geschrieben sind, und daß
anschaulich geschildert ist, was die Gebildeten, deren Einfluß Fürst Bismarck
gehoben sehen möchte, versäumen, und wie sehr sie den in der Erteilung des
allgemeinen Wahlrechts liegenden Sporn zu politischer That unbeachtet gelassen
und ihre Pflicht verkannt haben, sich ihres natürlichen Berufs als Führer der
wählenden Menge würdig zu erzeigen. Insofern kann vielleicht behauptet
werden, daß sich das allgemeine Wahlrecht praktisch nicht bewährt habe, aber
doch mir durch einen nicht in ihm liegenden Mangel und durch eine Schuld,
die sich in der Zukunft durch thätige Reue sühnen läßt. Weit eher als die
Unbrauchbarkeit des Wahlrechts ließe sich ans dem Versäumter der Schluß
herleiten, daß wir für politische Freiheit keinen Sinn haben. Doch es handelt
sich nur um eine Nbergangskrankhcit, um ein besonders beklagenswertes
Symptom davon. Der Wert des allgemeinen Wahlrechts wird dadurch gar
nicht berührt.

Natürlich ist dieser Wert nur relativer Art, wie alle politischen Formen
nur relativen, historischen, vergänglichen Wert haben, in dem Sinne wie Goethe
sagt: Denn alles, was besteht, ist wert, daß es zu Grunde geht — wenn es
seine Bestimmung erfüllt hat, wie ergänzt werden darf, und mich dem Fürsten
Bismarck deutlich gewesen ist, der ja das Reichstagswahlrecht nicht für das
richtige Prinzip, sondern nur für ein richtiges Prinzip erklärt. Und noch ist
diese Bestimmung nicht erfüllt, noch ist es ein wirksames Stück seines Ver¬
mächtnisses. Wir haben uns zu bemühen, den Sinn, den er mit den kurzen
Worten verband, zu erfassen.

„Die Einseitigkeit des Reichstagswahlrechts, die darin besteht, daß die
Stimmen mir gezählt werden, nicht nach dem geistigen, wirtschaftlichen und
sozialen Wert ihrer Träger abgestuft sind, wird für das Reich als Ganzes
bis zu einem gewissen Grade durch seine räumliche Ausdehnung ausgeglichen.
Die Zufälle und Überraschungen nämlich, denen dieses Wahlrecht noch mehr
als andre ausgesetzt ist, können sich nicht ans vereinzelte Wahlkreise beschränken,
sondern wiederholen sich in mehreren, aber natürlich mit abweichenden Erfolge,
sodaß, was in dem einen Kreise verloren wird, in einem andern gewonnen,
und das Gesamtergebnis nicht leicht getrübt wird. Einer Trübung widersetzt
sich die Größe des Reichsgebiets auch dann, wenn eine noch so mächtige
Geistesströmung auf einen Teil der Bevölkerung beschränkt bleibt, denn bei
den andern Volksschichten wird sich dann in der Regel starker Widerstand
zeigen, und zwar so, daß sie sich gemeinschaftlich gegen die das bisherige


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0544" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235074"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1634" prev="#ID_1633"> Sozialdemokratin können sogar darauf hinweisen, daß man gar kein Gesetz<lb/>
nötig hat, um den Vorteil von Wahlmännern zu haben, denn ihre werbenden<lb/>
Anhänger erfüllen deren Aufgabe» schon jetzt, und es sind noch dazu Wahl¬<lb/>
männer, die während der ganzen Wahlperiode wirken, am meisten natürlich<lb/>
auch am Wahltage selbst, ohne daß gegen das Wahlergebnis der Borwurf er¬<lb/>
hoben werden/könnte, es beruhe auf einer fälschenden Zahlcntombination."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1635"> Die Ausführlichkeit des Zitats ist dadurch gerechtfertigt, daß die Dinge<lb/>
jetzt noch gerade so liegen wie 1897, wo die Worte geschrieben sind, und daß<lb/>
anschaulich geschildert ist, was die Gebildeten, deren Einfluß Fürst Bismarck<lb/>
gehoben sehen möchte, versäumen, und wie sehr sie den in der Erteilung des<lb/>
allgemeinen Wahlrechts liegenden Sporn zu politischer That unbeachtet gelassen<lb/>
und ihre Pflicht verkannt haben, sich ihres natürlichen Berufs als Führer der<lb/>
wählenden Menge würdig zu erzeigen. Insofern kann vielleicht behauptet<lb/>
werden, daß sich das allgemeine Wahlrecht praktisch nicht bewährt habe, aber<lb/>
doch mir durch einen nicht in ihm liegenden Mangel und durch eine Schuld,<lb/>
die sich in der Zukunft durch thätige Reue sühnen läßt. Weit eher als die<lb/>
Unbrauchbarkeit des Wahlrechts ließe sich ans dem Versäumter der Schluß<lb/>
herleiten, daß wir für politische Freiheit keinen Sinn haben. Doch es handelt<lb/>
sich nur um eine Nbergangskrankhcit, um ein besonders beklagenswertes<lb/>
Symptom davon. Der Wert des allgemeinen Wahlrechts wird dadurch gar<lb/>
nicht berührt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1636"> Natürlich ist dieser Wert nur relativer Art, wie alle politischen Formen<lb/>
nur relativen, historischen, vergänglichen Wert haben, in dem Sinne wie Goethe<lb/>
sagt: Denn alles, was besteht, ist wert, daß es zu Grunde geht &#x2014; wenn es<lb/>
seine Bestimmung erfüllt hat, wie ergänzt werden darf, und mich dem Fürsten<lb/>
Bismarck deutlich gewesen ist, der ja das Reichstagswahlrecht nicht für das<lb/>
richtige Prinzip, sondern nur für ein richtiges Prinzip erklärt. Und noch ist<lb/>
diese Bestimmung nicht erfüllt, noch ist es ein wirksames Stück seines Ver¬<lb/>
mächtnisses. Wir haben uns zu bemühen, den Sinn, den er mit den kurzen<lb/>
Worten verband, zu erfassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1637" next="#ID_1638"> &#x201E;Die Einseitigkeit des Reichstagswahlrechts, die darin besteht, daß die<lb/>
Stimmen mir gezählt werden, nicht nach dem geistigen, wirtschaftlichen und<lb/>
sozialen Wert ihrer Träger abgestuft sind, wird für das Reich als Ganzes<lb/>
bis zu einem gewissen Grade durch seine räumliche Ausdehnung ausgeglichen.<lb/>
Die Zufälle und Überraschungen nämlich, denen dieses Wahlrecht noch mehr<lb/>
als andre ausgesetzt ist, können sich nicht ans vereinzelte Wahlkreise beschränken,<lb/>
sondern wiederholen sich in mehreren, aber natürlich mit abweichenden Erfolge,<lb/>
sodaß, was in dem einen Kreise verloren wird, in einem andern gewonnen,<lb/>
und das Gesamtergebnis nicht leicht getrübt wird. Einer Trübung widersetzt<lb/>
sich die Größe des Reichsgebiets auch dann, wenn eine noch so mächtige<lb/>
Geistesströmung auf einen Teil der Bevölkerung beschränkt bleibt, denn bei<lb/>
den andern Volksschichten wird sich dann in der Regel starker Widerstand<lb/>
zeigen, und zwar so, daß sie sich gemeinschaftlich gegen die das bisherige</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0544] Sozialdemokratin können sogar darauf hinweisen, daß man gar kein Gesetz nötig hat, um den Vorteil von Wahlmännern zu haben, denn ihre werbenden Anhänger erfüllen deren Aufgabe» schon jetzt, und es sind noch dazu Wahl¬ männer, die während der ganzen Wahlperiode wirken, am meisten natürlich auch am Wahltage selbst, ohne daß gegen das Wahlergebnis der Borwurf er¬ hoben werden/könnte, es beruhe auf einer fälschenden Zahlcntombination." Die Ausführlichkeit des Zitats ist dadurch gerechtfertigt, daß die Dinge jetzt noch gerade so liegen wie 1897, wo die Worte geschrieben sind, und daß anschaulich geschildert ist, was die Gebildeten, deren Einfluß Fürst Bismarck gehoben sehen möchte, versäumen, und wie sehr sie den in der Erteilung des allgemeinen Wahlrechts liegenden Sporn zu politischer That unbeachtet gelassen und ihre Pflicht verkannt haben, sich ihres natürlichen Berufs als Führer der wählenden Menge würdig zu erzeigen. Insofern kann vielleicht behauptet werden, daß sich das allgemeine Wahlrecht praktisch nicht bewährt habe, aber doch mir durch einen nicht in ihm liegenden Mangel und durch eine Schuld, die sich in der Zukunft durch thätige Reue sühnen läßt. Weit eher als die Unbrauchbarkeit des Wahlrechts ließe sich ans dem Versäumter der Schluß herleiten, daß wir für politische Freiheit keinen Sinn haben. Doch es handelt sich nur um eine Nbergangskrankhcit, um ein besonders beklagenswertes Symptom davon. Der Wert des allgemeinen Wahlrechts wird dadurch gar nicht berührt. Natürlich ist dieser Wert nur relativer Art, wie alle politischen Formen nur relativen, historischen, vergänglichen Wert haben, in dem Sinne wie Goethe sagt: Denn alles, was besteht, ist wert, daß es zu Grunde geht — wenn es seine Bestimmung erfüllt hat, wie ergänzt werden darf, und mich dem Fürsten Bismarck deutlich gewesen ist, der ja das Reichstagswahlrecht nicht für das richtige Prinzip, sondern nur für ein richtiges Prinzip erklärt. Und noch ist diese Bestimmung nicht erfüllt, noch ist es ein wirksames Stück seines Ver¬ mächtnisses. Wir haben uns zu bemühen, den Sinn, den er mit den kurzen Worten verband, zu erfassen. „Die Einseitigkeit des Reichstagswahlrechts, die darin besteht, daß die Stimmen mir gezählt werden, nicht nach dem geistigen, wirtschaftlichen und sozialen Wert ihrer Träger abgestuft sind, wird für das Reich als Ganzes bis zu einem gewissen Grade durch seine räumliche Ausdehnung ausgeglichen. Die Zufälle und Überraschungen nämlich, denen dieses Wahlrecht noch mehr als andre ausgesetzt ist, können sich nicht ans vereinzelte Wahlkreise beschränken, sondern wiederholen sich in mehreren, aber natürlich mit abweichenden Erfolge, sodaß, was in dem einen Kreise verloren wird, in einem andern gewonnen, und das Gesamtergebnis nicht leicht getrübt wird. Einer Trübung widersetzt sich die Größe des Reichsgebiets auch dann, wenn eine noch so mächtige Geistesströmung auf einen Teil der Bevölkerung beschränkt bleibt, denn bei den andern Volksschichten wird sich dann in der Regel starker Widerstand zeigen, und zwar so, daß sie sich gemeinschaftlich gegen die das bisherige

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/544
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/544>, abgerufen am 02.10.2024.