Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Vor Vater der Meinoireiilitteratur

wachsen und trug dichtes, lockiges Haupthaar." Wahrend Ion, so oft sich nur
Gelegenheit bot, die liebenswürdigen Formen Kimons lobend hervorhob, tadelte
er an Perikles ein allzu hohes Selbstbewußtsein und eine gewisse Arroganz
in dein Verkehr mit audern. Nach Beendigung des samischen Krieges, so er¬
zählte er unter unteren (Perikles 28), habe sich Perikles damit gebrüstet, daß
er in neun Monaten das mächtigste Volk der Jonier bezwungen habe, währeud
Agnmemnon zehn Jahre zur Eroberung einer Barbnreustadt gebraucht habe.
Auch ein Ausspruch des Themistokles, des Siegers von Salamis, ist uns durch
Ions Memoiren überliefert worden: Gesang und Harfenspiel habe er zwar nicht
gelernt, wohl aber verstehe er eine Stadt groß und reich zu machen. Dieser
Ausspruch wurde bei dein Gastmahl des Laomedon nacherzählt, bei dem auch
Ion und Kimon zugegen waren,

An den bisher genannten Stellen wird Ion vou Plutarch ausdrücklich
als Gewährsmann zitiert; daß aber seine Memoiren außerdem uoch eiuer Reihe
vou andern Zügen und Szenen in den Lebensbeschreibungen des Kimon und
Perikles, vielleicht auch des Themistokles und Aristides zu Grunde liegen,
daß auch manche Stellen der sogenannten moralischen Schriften Plutarchs auf
sie zurückgehn, läßt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nachweisen. Doch ist
hier nicht der Ort, näher darauf einzugehn, und deshalb möge das über den
Inhalt des Werkes Gesagte genügen. Obwohl es nnr dürftige Bruchstücke
siud, die sich mit größerer oder geringerer Sicherheit feststellen, lassen, ist doch
so viel klar, daß das Buch aus einer Reihe von Bildern und Szenen bestand,
deren Mittelpunkt jedesmal irgend eine bedeutende Persönlichkeit Athens oder
des übrigen Griechenlands war, während die Örtlichkeit der betreffenden Szene
oder die Gelegenheit, bei der sie sich ereignete, der leitende Faden der Dar¬
stellung war. "Indem Ion die Ensembles, sagt Bruns a. a. O. Seite 240,
die er einst selbst erlebt hatte, Wiederaufleben ließ, gewann er eine Grundlage,
von der aus er erklärend, nachtragend, zeitlich vorwärts und rückwärts greifend,
weiteres biographisches Detail verteilen konnte." Und auch das läßt sich be¬
sonders aus der Sophoklesszene und dem Gastmahl im Hause des Laomedon
ersehen, daß er die einzelnen Bilder mit reizvoller Armut, lebendiger Frische
und dichterischer Phantasie zeichnete, und daß er auch die Charaktere, besonders
der Personen, für die er ein lebhaftes Interesse hegte, mit seinem Psycho¬
logischen Verständnis darzustellen wußte. Wäre uns das Werk Ions erhalten
gebliebe", so würde in Hinsicht auf die Objektivität und die unbefangne Natür¬
lichkeit der Darstellung eil, Vergleich mit Goethes Reiseerinnerungen wahr¬
scheinlich nicht fern liegen, während es mit romanhaft gehaltnen, nach Effekt
haschenden Reisebildern in der Manier Heines wenigstens keine innere Ähnlich¬
keit hätte.

In den letzte" Jahren ist bekanntlich in Ägypten auf den: Gebiete der
Altertumswissenschaft eine Reihe von wichtigen Entdeckungen gemacht worden -
die Schrift des Aristoteles vom Staate der Athener, die Dichtungen des
Herondas und des Batchylides sind aus dem Schutt der Jahrhunderte wieder-


Vor Vater der Meinoireiilitteratur

wachsen und trug dichtes, lockiges Haupthaar." Wahrend Ion, so oft sich nur
Gelegenheit bot, die liebenswürdigen Formen Kimons lobend hervorhob, tadelte
er an Perikles ein allzu hohes Selbstbewußtsein und eine gewisse Arroganz
in dein Verkehr mit audern. Nach Beendigung des samischen Krieges, so er¬
zählte er unter unteren (Perikles 28), habe sich Perikles damit gebrüstet, daß
er in neun Monaten das mächtigste Volk der Jonier bezwungen habe, währeud
Agnmemnon zehn Jahre zur Eroberung einer Barbnreustadt gebraucht habe.
Auch ein Ausspruch des Themistokles, des Siegers von Salamis, ist uns durch
Ions Memoiren überliefert worden: Gesang und Harfenspiel habe er zwar nicht
gelernt, wohl aber verstehe er eine Stadt groß und reich zu machen. Dieser
Ausspruch wurde bei dein Gastmahl des Laomedon nacherzählt, bei dem auch
Ion und Kimon zugegen waren,

An den bisher genannten Stellen wird Ion vou Plutarch ausdrücklich
als Gewährsmann zitiert; daß aber seine Memoiren außerdem uoch eiuer Reihe
vou andern Zügen und Szenen in den Lebensbeschreibungen des Kimon und
Perikles, vielleicht auch des Themistokles und Aristides zu Grunde liegen,
daß auch manche Stellen der sogenannten moralischen Schriften Plutarchs auf
sie zurückgehn, läßt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nachweisen. Doch ist
hier nicht der Ort, näher darauf einzugehn, und deshalb möge das über den
Inhalt des Werkes Gesagte genügen. Obwohl es nnr dürftige Bruchstücke
siud, die sich mit größerer oder geringerer Sicherheit feststellen, lassen, ist doch
so viel klar, daß das Buch aus einer Reihe von Bildern und Szenen bestand,
deren Mittelpunkt jedesmal irgend eine bedeutende Persönlichkeit Athens oder
des übrigen Griechenlands war, während die Örtlichkeit der betreffenden Szene
oder die Gelegenheit, bei der sie sich ereignete, der leitende Faden der Dar¬
stellung war. „Indem Ion die Ensembles, sagt Bruns a. a. O. Seite 240,
die er einst selbst erlebt hatte, Wiederaufleben ließ, gewann er eine Grundlage,
von der aus er erklärend, nachtragend, zeitlich vorwärts und rückwärts greifend,
weiteres biographisches Detail verteilen konnte." Und auch das läßt sich be¬
sonders aus der Sophoklesszene und dem Gastmahl im Hause des Laomedon
ersehen, daß er die einzelnen Bilder mit reizvoller Armut, lebendiger Frische
und dichterischer Phantasie zeichnete, und daß er auch die Charaktere, besonders
der Personen, für die er ein lebhaftes Interesse hegte, mit seinem Psycho¬
logischen Verständnis darzustellen wußte. Wäre uns das Werk Ions erhalten
gebliebe», so würde in Hinsicht auf die Objektivität und die unbefangne Natür¬
lichkeit der Darstellung eil, Vergleich mit Goethes Reiseerinnerungen wahr¬
scheinlich nicht fern liegen, während es mit romanhaft gehaltnen, nach Effekt
haschenden Reisebildern in der Manier Heines wenigstens keine innere Ähnlich¬
keit hätte.

In den letzte» Jahren ist bekanntlich in Ägypten auf den: Gebiete der
Altertumswissenschaft eine Reihe von wichtigen Entdeckungen gemacht worden -
die Schrift des Aristoteles vom Staate der Athener, die Dichtungen des
Herondas und des Batchylides sind aus dem Schutt der Jahrhunderte wieder-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0517" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235047"/>
          <fw type="header" place="top"> Vor Vater der Meinoireiilitteratur</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1536" prev="#ID_1535"> wachsen und trug dichtes, lockiges Haupthaar." Wahrend Ion, so oft sich nur<lb/>
Gelegenheit bot, die liebenswürdigen Formen Kimons lobend hervorhob, tadelte<lb/>
er an Perikles ein allzu hohes Selbstbewußtsein und eine gewisse Arroganz<lb/>
in dein Verkehr mit audern. Nach Beendigung des samischen Krieges, so er¬<lb/>
zählte er unter unteren (Perikles 28), habe sich Perikles damit gebrüstet, daß<lb/>
er in neun Monaten das mächtigste Volk der Jonier bezwungen habe, währeud<lb/>
Agnmemnon zehn Jahre zur Eroberung einer Barbnreustadt gebraucht habe.<lb/>
Auch ein Ausspruch des Themistokles, des Siegers von Salamis, ist uns durch<lb/>
Ions Memoiren überliefert worden: Gesang und Harfenspiel habe er zwar nicht<lb/>
gelernt, wohl aber verstehe er eine Stadt groß und reich zu machen. Dieser<lb/>
Ausspruch wurde bei dein Gastmahl des Laomedon nacherzählt, bei dem auch<lb/>
Ion und Kimon zugegen waren,</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1537"> An den bisher genannten Stellen wird Ion vou Plutarch ausdrücklich<lb/>
als Gewährsmann zitiert; daß aber seine Memoiren außerdem uoch eiuer Reihe<lb/>
vou andern Zügen und Szenen in den Lebensbeschreibungen des Kimon und<lb/>
Perikles, vielleicht auch des Themistokles und Aristides zu Grunde liegen,<lb/>
daß auch manche Stellen der sogenannten moralischen Schriften Plutarchs auf<lb/>
sie zurückgehn, läßt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nachweisen. Doch ist<lb/>
hier nicht der Ort, näher darauf einzugehn, und deshalb möge das über den<lb/>
Inhalt des Werkes Gesagte genügen. Obwohl es nnr dürftige Bruchstücke<lb/>
siud, die sich mit größerer oder geringerer Sicherheit feststellen, lassen, ist doch<lb/>
so viel klar, daß das Buch aus einer Reihe von Bildern und Szenen bestand,<lb/>
deren Mittelpunkt jedesmal irgend eine bedeutende Persönlichkeit Athens oder<lb/>
des übrigen Griechenlands war, während die Örtlichkeit der betreffenden Szene<lb/>
oder die Gelegenheit, bei der sie sich ereignete, der leitende Faden der Dar¬<lb/>
stellung war. &#x201E;Indem Ion die Ensembles, sagt Bruns a. a. O. Seite 240,<lb/>
die er einst selbst erlebt hatte, Wiederaufleben ließ, gewann er eine Grundlage,<lb/>
von der aus er erklärend, nachtragend, zeitlich vorwärts und rückwärts greifend,<lb/>
weiteres biographisches Detail verteilen konnte." Und auch das läßt sich be¬<lb/>
sonders aus der Sophoklesszene und dem Gastmahl im Hause des Laomedon<lb/>
ersehen, daß er die einzelnen Bilder mit reizvoller Armut, lebendiger Frische<lb/>
und dichterischer Phantasie zeichnete, und daß er auch die Charaktere, besonders<lb/>
der Personen, für die er ein lebhaftes Interesse hegte, mit seinem Psycho¬<lb/>
logischen Verständnis darzustellen wußte. Wäre uns das Werk Ions erhalten<lb/>
gebliebe», so würde in Hinsicht auf die Objektivität und die unbefangne Natür¬<lb/>
lichkeit der Darstellung eil, Vergleich mit Goethes Reiseerinnerungen wahr¬<lb/>
scheinlich nicht fern liegen, während es mit romanhaft gehaltnen, nach Effekt<lb/>
haschenden Reisebildern in der Manier Heines wenigstens keine innere Ähnlich¬<lb/>
keit hätte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1538" next="#ID_1539"> In den letzte» Jahren ist bekanntlich in Ägypten auf den: Gebiete der<lb/>
Altertumswissenschaft eine Reihe von wichtigen Entdeckungen gemacht worden -<lb/>
die Schrift des Aristoteles vom Staate der Athener, die Dichtungen des<lb/>
Herondas und des Batchylides sind aus dem Schutt der Jahrhunderte wieder-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0517] Vor Vater der Meinoireiilitteratur wachsen und trug dichtes, lockiges Haupthaar." Wahrend Ion, so oft sich nur Gelegenheit bot, die liebenswürdigen Formen Kimons lobend hervorhob, tadelte er an Perikles ein allzu hohes Selbstbewußtsein und eine gewisse Arroganz in dein Verkehr mit audern. Nach Beendigung des samischen Krieges, so er¬ zählte er unter unteren (Perikles 28), habe sich Perikles damit gebrüstet, daß er in neun Monaten das mächtigste Volk der Jonier bezwungen habe, währeud Agnmemnon zehn Jahre zur Eroberung einer Barbnreustadt gebraucht habe. Auch ein Ausspruch des Themistokles, des Siegers von Salamis, ist uns durch Ions Memoiren überliefert worden: Gesang und Harfenspiel habe er zwar nicht gelernt, wohl aber verstehe er eine Stadt groß und reich zu machen. Dieser Ausspruch wurde bei dein Gastmahl des Laomedon nacherzählt, bei dem auch Ion und Kimon zugegen waren, An den bisher genannten Stellen wird Ion vou Plutarch ausdrücklich als Gewährsmann zitiert; daß aber seine Memoiren außerdem uoch eiuer Reihe vou andern Zügen und Szenen in den Lebensbeschreibungen des Kimon und Perikles, vielleicht auch des Themistokles und Aristides zu Grunde liegen, daß auch manche Stellen der sogenannten moralischen Schriften Plutarchs auf sie zurückgehn, läßt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nachweisen. Doch ist hier nicht der Ort, näher darauf einzugehn, und deshalb möge das über den Inhalt des Werkes Gesagte genügen. Obwohl es nnr dürftige Bruchstücke siud, die sich mit größerer oder geringerer Sicherheit feststellen, lassen, ist doch so viel klar, daß das Buch aus einer Reihe von Bildern und Szenen bestand, deren Mittelpunkt jedesmal irgend eine bedeutende Persönlichkeit Athens oder des übrigen Griechenlands war, während die Örtlichkeit der betreffenden Szene oder die Gelegenheit, bei der sie sich ereignete, der leitende Faden der Dar¬ stellung war. „Indem Ion die Ensembles, sagt Bruns a. a. O. Seite 240, die er einst selbst erlebt hatte, Wiederaufleben ließ, gewann er eine Grundlage, von der aus er erklärend, nachtragend, zeitlich vorwärts und rückwärts greifend, weiteres biographisches Detail verteilen konnte." Und auch das läßt sich be¬ sonders aus der Sophoklesszene und dem Gastmahl im Hause des Laomedon ersehen, daß er die einzelnen Bilder mit reizvoller Armut, lebendiger Frische und dichterischer Phantasie zeichnete, und daß er auch die Charaktere, besonders der Personen, für die er ein lebhaftes Interesse hegte, mit seinem Psycho¬ logischen Verständnis darzustellen wußte. Wäre uns das Werk Ions erhalten gebliebe», so würde in Hinsicht auf die Objektivität und die unbefangne Natür¬ lichkeit der Darstellung eil, Vergleich mit Goethes Reiseerinnerungen wahr¬ scheinlich nicht fern liegen, während es mit romanhaft gehaltnen, nach Effekt haschenden Reisebildern in der Manier Heines wenigstens keine innere Ähnlich¬ keit hätte. In den letzte» Jahren ist bekanntlich in Ägypten auf den: Gebiete der Altertumswissenschaft eine Reihe von wichtigen Entdeckungen gemacht worden - die Schrift des Aristoteles vom Staate der Athener, die Dichtungen des Herondas und des Batchylides sind aus dem Schutt der Jahrhunderte wieder-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/517
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/517>, abgerufen am 03.07.2024.