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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Der Vater der Memoirenlitteratur

habe. Er wird also etwa in den letzten Monaten des Jahres 422 und zwar
wahrscheinlich in Athen gestorben sein.

Was den Charakter Ions anlangt, so war er, wie ans seinem Umgänge
mit den edelsten Geistern Athens und aus seinen Fragmenten zu schließen ist,
ein Mann von edler und vornehmer Denkungsart, frei von Mißgunst gegen
seine größern Kunstgenossen, zugleich aber ein Freund des heitern Lebens¬
genusses: Wein und Liebe wurden in seinen Werken, wie aus den Fragmenten
hervorgeht, nach Gebühr gepriesen. Die litterarische Thätigkeit Ions zeugt
von einer zumal für die damalige Zeit bewundernswerter Vielseitigkeit und
Fruchtbarkeit, Er versuchte sich in jeder Dichtungsgattung mit Ausnahme des
Epos und der Komödie und war daneben einer der ersten, die in ionischer Prosa
schrieben. Der Dichterruhm Ions gründet sich hauptsächlich auf seine Tragödien,
die zum Teil noch in den ersten Jahrhunderten unsrer Zeitrechnung gelesen
wurden. Wir haben noch Bruchstücke von elf Dramen, von denen nicht
weniger als fünf der Ilias und der Odyssee entlehnt sind, woraus hervor¬
geht, daß Ion mit Vorliebe für seine Stosse den homerischen Sagenkreis zu
benutzen Pflegte. Über den Charakter und Kunstwerk der Tragödien Ions
können Nur ans den abgerissenen und verhältnismäßig doch nur spärliche"
Fragmenten kein sicheres Urteil gewinnen. Sehr wichtig ist deshalb eine Be¬
merkung in der Schrift über die Erhabenheit, die etwa um die Mitte des ersten
Jahrhunderts n. Chr. geschrieben worden ist. Der uns unbekannte Verfasser
dieser Schrift stellt nämlich Kapitel 35, 5 Ion zu Sophokles in dasselbe Ver¬
hältnis wie Bakchhlides zu Pindar. Jon und BakchhlideS hätten sich vor
allem durch einen fehlerfreien, ebenmäßigen Stil ausgezeichnet, Pindar da¬
gegen und Sophokles durch den feurigen Strom ihrer Rede, der aber mit¬
unter plötzlich zu versiegen scheine. Beim Bakchhlides sind wir ja jetzt in der
glücklichen Lage, dieses Urteil nachprüfen und bestätige" zu können. Glätte
"ut Eleganz sind in der That das charakteristische Merkmal dieses Dichters,
während ihm die Gedankentiefe und der erhabne Schwung des Pindar fehlt.
Danach dürfen nur wohl annehmen, daß der feinsinnige Kritiker auch die tragischen
Schöpfungen Ions im wesentlichen richtig beurteilt haben wird. Ans die gleich¬
mäßige Eleganz und Korrektheit der Form wird Ion viel Fleiß und Mühe
verwandt haben, aber die tiefe Begeisterung des Äschhlos, die kunstvolle
Motivierung und der abwechslungsreiche Stil des Sophokles oder die Rede¬
gewalt und das Pathos des Euripides standen ihm nicht zu Gebote. Immer¬
hin ist es schon etwas großes, mit Sophokles verglichen zu werden, und von
den jünger" Tragikern scheint keiner dem Ion an Kunst und Ansehe" gleich¬
gekommen zu sei". Eine gewisse Neigung zum Sonderbaren, die auch wohl
den Tragödien nicht ganz fremd war, scheint besonders die Dithyramben deS
Dichters beeinflußt zu haben, von denen freilich nur wenig Bruchstücke die
Zeiten überdauert haben. Dagegen atmen die beiden Elegien auf Bakchos*)



*) Übersetzt von Mudir, Griechische Lyriker, Seite KÜ.
Grenzl'oder U 1901
Der Vater der Memoirenlitteratur

habe. Er wird also etwa in den letzten Monaten des Jahres 422 und zwar
wahrscheinlich in Athen gestorben sein.

Was den Charakter Ions anlangt, so war er, wie ans seinem Umgänge
mit den edelsten Geistern Athens und aus seinen Fragmenten zu schließen ist,
ein Mann von edler und vornehmer Denkungsart, frei von Mißgunst gegen
seine größern Kunstgenossen, zugleich aber ein Freund des heitern Lebens¬
genusses: Wein und Liebe wurden in seinen Werken, wie aus den Fragmenten
hervorgeht, nach Gebühr gepriesen. Die litterarische Thätigkeit Ions zeugt
von einer zumal für die damalige Zeit bewundernswerter Vielseitigkeit und
Fruchtbarkeit, Er versuchte sich in jeder Dichtungsgattung mit Ausnahme des
Epos und der Komödie und war daneben einer der ersten, die in ionischer Prosa
schrieben. Der Dichterruhm Ions gründet sich hauptsächlich auf seine Tragödien,
die zum Teil noch in den ersten Jahrhunderten unsrer Zeitrechnung gelesen
wurden. Wir haben noch Bruchstücke von elf Dramen, von denen nicht
weniger als fünf der Ilias und der Odyssee entlehnt sind, woraus hervor¬
geht, daß Ion mit Vorliebe für seine Stosse den homerischen Sagenkreis zu
benutzen Pflegte. Über den Charakter und Kunstwerk der Tragödien Ions
können Nur ans den abgerissenen und verhältnismäßig doch nur spärliche»
Fragmenten kein sicheres Urteil gewinnen. Sehr wichtig ist deshalb eine Be¬
merkung in der Schrift über die Erhabenheit, die etwa um die Mitte des ersten
Jahrhunderts n. Chr. geschrieben worden ist. Der uns unbekannte Verfasser
dieser Schrift stellt nämlich Kapitel 35, 5 Ion zu Sophokles in dasselbe Ver¬
hältnis wie Bakchhlides zu Pindar. Jon und BakchhlideS hätten sich vor
allem durch einen fehlerfreien, ebenmäßigen Stil ausgezeichnet, Pindar da¬
gegen und Sophokles durch den feurigen Strom ihrer Rede, der aber mit¬
unter plötzlich zu versiegen scheine. Beim Bakchhlides sind wir ja jetzt in der
glücklichen Lage, dieses Urteil nachprüfen und bestätige» zu können. Glätte
»ut Eleganz sind in der That das charakteristische Merkmal dieses Dichters,
während ihm die Gedankentiefe und der erhabne Schwung des Pindar fehlt.
Danach dürfen nur wohl annehmen, daß der feinsinnige Kritiker auch die tragischen
Schöpfungen Ions im wesentlichen richtig beurteilt haben wird. Ans die gleich¬
mäßige Eleganz und Korrektheit der Form wird Ion viel Fleiß und Mühe
verwandt haben, aber die tiefe Begeisterung des Äschhlos, die kunstvolle
Motivierung und der abwechslungsreiche Stil des Sophokles oder die Rede¬
gewalt und das Pathos des Euripides standen ihm nicht zu Gebote. Immer¬
hin ist es schon etwas großes, mit Sophokles verglichen zu werden, und von
den jünger» Tragikern scheint keiner dem Ion an Kunst und Ansehe» gleich¬
gekommen zu sei». Eine gewisse Neigung zum Sonderbaren, die auch wohl
den Tragödien nicht ganz fremd war, scheint besonders die Dithyramben deS
Dichters beeinflußt zu haben, von denen freilich nur wenig Bruchstücke die
Zeiten überdauert haben. Dagegen atmen die beiden Elegien auf Bakchos*)



*) Übersetzt von Mudir, Griechische Lyriker, Seite KÜ.
Grenzl'oder U 1901
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/513>, abgerufen am 24.08.2024.