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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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es sei ein Zustand anzustreben, wo Landwirtschaft und Gewerbe ihre Erzeug¬
nisse unmittelbar austauschten, der Schmied neben dem Bauern wohne, dem er
die Pflüge aufertige, und von dem er das Brotkorn beziehe, weil sich bei weiter
Entfernung zwischen Produzenten und Konsumenten, oder vielmehr zwischen
den auf Austausch ihrer Produkte angewiesenen Produzenten der verschiednen
Güterarten, eine Menge schmarotzende Zwischenglieder einschoben, die den Pro¬
duzenten einen Teil ihres Arbeitlohns raubten, der ihnen bei unmittelbaren
Austausch voll verbleibe. Den zweiten Gedanken hat Careh zu einem voll¬
ständigen System ausgesponnen, wobei er zu einem bedingungslosen Verdam-
mungsurteil über allen Fernhandel gelangt und besonders über dessen Haupt¬
vertreter, die Engländer, die er als eine die ganze Welt verwüstende und die
ganze Menschheit ausplündernde Räuberbande schildert. Nebenbei bemerkt,
stecken in dem zweiten Gedanken auch der Proudhouismns, die moderne
Konsumvereinsbewegung und die Börsenfeindschaft. Nun finden sich aber in
Lifts System Äußerungen, die auf eine ganz entgegengesetzte Anschauung hin¬
deuten. List bekennt im System, und anderwärts noch lebhafter, daß er ein
feuriger Freund und Bewundrer Englands sei, und daß er die Entwicklung
Englands für gesund, ja für ideal halte. Er arbeitet unablässig daran, Deutsch-
land in dieselbe Entwicklung hineinzudrängen, und bekämpft die Engländer nur
darum, weil sie den Welthandel und die Industrie monopolisieren und den
Deutschen nichts davon übrig lassen wollten. Er sieht in den Kvrnzöllen die
Wirkung einer höchst verderblichen Verblendung, die, zum Glück für die andern
Staaten, England an der Erreichung seines Zieles, vorksbop ok tuo vorlel
zu werden, hindre, und billigt also dieses Ziel, wofern sich nur die Engländer
herbeiließen, das Glück seiner Erreichung mit den andern Nationen, zunächst
mit der deutscheu, zu teilen.

Der Widerspruch ist ohne Zweifel daraus entsprungen, daß List erst,
nachdem er diese Grundgedanken schon niedergeschrieben hatte, beim Ban seiner
amerikanischen Bahn die Bedeutung des Transportwesens für die Volkswirt¬
schaft würdigen lernte. Durch die Verbilliguug des Transports werden die
Nachteile des Fernverkehrs in dem Grade vermindert, daß die Vorteile dieses
Verkehrs: Austausch der Erzeugnisse verschiedner Zonen, Bodenarten und
Terrainformen, Aufrüttelung der bei der Beschränkung auf Nahverkehr in
trägen Schlendrian versinkendem Geister, aus beidem hervorgehende Vermehrung
des Reichtums und Steigerung der Kraft -- bei weitem überwiegen. Man
begreift nun auch, daß er, der enthusiastische Schutzzöllner, die Agrarzölle so
unbedingt verwirft. Die Gründe, die er gegen diese anführt, überzeugen nicht
völlig. Der durchschlagende Grund, der, ihm selbst uicht klar bewußt, im
Hintergrunde wirkte, war der, daß man in einem Lande mit überwiegender
Industrie den Getreidebau auf die Dauer nicht halten kann. Die dichtgedrängte
städtische und industrielle Bevölkerung erhöht den Bodenpreis in dem Grade,
daß der Landwirt, um die Zinsen seines Anlagekapitals und darüber hinaus
noch eine Rente zu erzielen, für sein Brotkorn Preise erhalten müßte, die die


es sei ein Zustand anzustreben, wo Landwirtschaft und Gewerbe ihre Erzeug¬
nisse unmittelbar austauschten, der Schmied neben dem Bauern wohne, dem er
die Pflüge aufertige, und von dem er das Brotkorn beziehe, weil sich bei weiter
Entfernung zwischen Produzenten und Konsumenten, oder vielmehr zwischen
den auf Austausch ihrer Produkte angewiesenen Produzenten der verschiednen
Güterarten, eine Menge schmarotzende Zwischenglieder einschoben, die den Pro¬
duzenten einen Teil ihres Arbeitlohns raubten, der ihnen bei unmittelbaren
Austausch voll verbleibe. Den zweiten Gedanken hat Careh zu einem voll¬
ständigen System ausgesponnen, wobei er zu einem bedingungslosen Verdam-
mungsurteil über allen Fernhandel gelangt und besonders über dessen Haupt¬
vertreter, die Engländer, die er als eine die ganze Welt verwüstende und die
ganze Menschheit ausplündernde Räuberbande schildert. Nebenbei bemerkt,
stecken in dem zweiten Gedanken auch der Proudhouismns, die moderne
Konsumvereinsbewegung und die Börsenfeindschaft. Nun finden sich aber in
Lifts System Äußerungen, die auf eine ganz entgegengesetzte Anschauung hin¬
deuten. List bekennt im System, und anderwärts noch lebhafter, daß er ein
feuriger Freund und Bewundrer Englands sei, und daß er die Entwicklung
Englands für gesund, ja für ideal halte. Er arbeitet unablässig daran, Deutsch-
land in dieselbe Entwicklung hineinzudrängen, und bekämpft die Engländer nur
darum, weil sie den Welthandel und die Industrie monopolisieren und den
Deutschen nichts davon übrig lassen wollten. Er sieht in den Kvrnzöllen die
Wirkung einer höchst verderblichen Verblendung, die, zum Glück für die andern
Staaten, England an der Erreichung seines Zieles, vorksbop ok tuo vorlel
zu werden, hindre, und billigt also dieses Ziel, wofern sich nur die Engländer
herbeiließen, das Glück seiner Erreichung mit den andern Nationen, zunächst
mit der deutscheu, zu teilen.

Der Widerspruch ist ohne Zweifel daraus entsprungen, daß List erst,
nachdem er diese Grundgedanken schon niedergeschrieben hatte, beim Ban seiner
amerikanischen Bahn die Bedeutung des Transportwesens für die Volkswirt¬
schaft würdigen lernte. Durch die Verbilliguug des Transports werden die
Nachteile des Fernverkehrs in dem Grade vermindert, daß die Vorteile dieses
Verkehrs: Austausch der Erzeugnisse verschiedner Zonen, Bodenarten und
Terrainformen, Aufrüttelung der bei der Beschränkung auf Nahverkehr in
trägen Schlendrian versinkendem Geister, aus beidem hervorgehende Vermehrung
des Reichtums und Steigerung der Kraft — bei weitem überwiegen. Man
begreift nun auch, daß er, der enthusiastische Schutzzöllner, die Agrarzölle so
unbedingt verwirft. Die Gründe, die er gegen diese anführt, überzeugen nicht
völlig. Der durchschlagende Grund, der, ihm selbst uicht klar bewußt, im
Hintergrunde wirkte, war der, daß man in einem Lande mit überwiegender
Industrie den Getreidebau auf die Dauer nicht halten kann. Die dichtgedrängte
städtische und industrielle Bevölkerung erhöht den Bodenpreis in dem Grade,
daß der Landwirt, um die Zinsen seines Anlagekapitals und darüber hinaus
noch eine Rente zu erzielen, für sein Brotkorn Preise erhalten müßte, die die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/494>, abgerufen am 01.07.2024.