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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Die Satiren des Horaz im Lichte des modernen italienischen Lebens

Komfort und für ein Dasein bestimmt, das sich von dem städtischen nur durch
die Örtlichkeit und die größere Ungezwungenheit unterscheidet und unterschied.

Wenn trotz dieser städtischen Gewohnheiten der antike und der moderne
Italiener dein Landleben nicht so fern gerückt sind wie der moderne Gro߬
städter andrer Länder und also auch hierin der Natur näher stehn als dieser,
der oft kaum die Getreidearten und die Waldbäume unterscheiden kaun und
die Sonne niemals aufgehn sieht, so trägt dazu auch der weite See- und
Gebirgshorizont bei, denn es wird kaum eine italienische Stadt geben, die
nicht den einen oder den andern hätte, und es giebt viele, die beide habe".
Von Rom aus sieht man auf der eiuen Seite die langen Linien der Gebirge,
auf der rudern deu Spiegel des Meeres, von den Höhen der Abbrnzzen
reicht der Blick bis zur See, und Syrnkns sieht hier auf das blaue Griechen¬
meer hinaus, dort nach dem fernen Kegel des mächtigen Almas. Und wenn
das Meer immer wilde, unbezähmbare Natur bleibt, so gleicht das italienische
Gebirge, auch von den Alpen ganz abgesehen, in seinem Aufbau, seineu Um¬
risse" und seinem Klima viel mehr dem ebenfalls der menschlichen Kultur un¬
überwindlichen Hochgebirge als unserm deutschen Mittelgebirge; im Sabiner-
lande glaubt mau zuweilen in den .Kalkalpen zu sein. Ein-solches Volk ist
vor binnenländischer Verhvcknng gründlich geschützt; der weite Blick aus Laud
und See weitet auch deu geistigen Horizont. Horaz selbst, so sehr er sein
quellfrisches, waldschnttiges Gebirgsthal liebt, oder sich im wasserumrauschteu
Tibur aufhält, wo auch Müeeuas eine Villa hatte,") zieht doch auch gern,
namentlich im Winter und im beginnenden Frühjahr nach der Meeresküste
hinab, nach Salerno oder dem gesegneten Tarent, wo die Erde trieft von
Honig und Öl und Wein, der Frühling lang und lau der Winter ist, oder
mit der römischen Aristokratie nach dem sonnenbeglänzten Bajä am blauen
Golfe. ^) Und Großhandel ist mit Seehandel, weitere Reisen sind mit See¬
reisen ziemlich identisch: der Kaufmann führt immer zu Schiff. Das gilt un-
verändert auch bellte noch, wo die Italiener endlich wieder, in die Reihe der
selbständig seefnhreuden Rationell eingetreten sind und ihre großen Dampfer
bis Südamerika und Indien senden.

Diese ganze Kultur nimmt sich so einheitlich aus, wie auf den ersten Blick
die heutige italienische; aber das schließt starke landschaftliche und ört¬
liche Unterschiede so wenig aus wie ein lebhaftes Souderbewnßtseiu. Aller¬
dings ist Horaz zu sehr Großstädter und Römer, als daß er einem beschränktet,
Lokalpatriotismus huldigen sollte, und er weiß selbst einmal nicht recht, ob
er sich einen Lukauer oder Apulier nennen soll, denn seine Vaterstadt Venusia
lag auf der Grenzscheide beider Landschaften und war eine römische Zwing¬
burg gegen beide; aber ein andermal nennt er doch Apulien sein "Mutterland"
<Mrix);7") er hat ein gewisses Selbstgefühl als Veuusiner und ist stolz auf die
Gründung der römischen Kolonie, streitbar mit seinem Schreibgriffel wie jene
Kolonisten mit dem Schwerte; er schwärmt für das angrenzende Tarent, er rühmt
den Fleiß des apulischen Ackersmanus, er preist seine Landsleute Ofellus in


Grenzlwlen II 1901 ü7
Die Satiren des Horaz im Lichte des modernen italienischen Lebens

Komfort und für ein Dasein bestimmt, das sich von dem städtischen nur durch
die Örtlichkeit und die größere Ungezwungenheit unterscheidet und unterschied.

Wenn trotz dieser städtischen Gewohnheiten der antike und der moderne
Italiener dein Landleben nicht so fern gerückt sind wie der moderne Gro߬
städter andrer Länder und also auch hierin der Natur näher stehn als dieser,
der oft kaum die Getreidearten und die Waldbäume unterscheiden kaun und
die Sonne niemals aufgehn sieht, so trägt dazu auch der weite See- und
Gebirgshorizont bei, denn es wird kaum eine italienische Stadt geben, die
nicht den einen oder den andern hätte, und es giebt viele, die beide habe».
Von Rom aus sieht man auf der eiuen Seite die langen Linien der Gebirge,
auf der rudern deu Spiegel des Meeres, von den Höhen der Abbrnzzen
reicht der Blick bis zur See, und Syrnkns sieht hier auf das blaue Griechen¬
meer hinaus, dort nach dem fernen Kegel des mächtigen Almas. Und wenn
das Meer immer wilde, unbezähmbare Natur bleibt, so gleicht das italienische
Gebirge, auch von den Alpen ganz abgesehen, in seinem Aufbau, seineu Um¬
risse» und seinem Klima viel mehr dem ebenfalls der menschlichen Kultur un¬
überwindlichen Hochgebirge als unserm deutschen Mittelgebirge; im Sabiner-
lande glaubt mau zuweilen in den .Kalkalpen zu sein. Ein-solches Volk ist
vor binnenländischer Verhvcknng gründlich geschützt; der weite Blick aus Laud
und See weitet auch deu geistigen Horizont. Horaz selbst, so sehr er sein
quellfrisches, waldschnttiges Gebirgsthal liebt, oder sich im wasserumrauschteu
Tibur aufhält, wo auch Müeeuas eine Villa hatte,") zieht doch auch gern,
namentlich im Winter und im beginnenden Frühjahr nach der Meeresküste
hinab, nach Salerno oder dem gesegneten Tarent, wo die Erde trieft von
Honig und Öl und Wein, der Frühling lang und lau der Winter ist, oder
mit der römischen Aristokratie nach dem sonnenbeglänzten Bajä am blauen
Golfe. ^) Und Großhandel ist mit Seehandel, weitere Reisen sind mit See¬
reisen ziemlich identisch: der Kaufmann führt immer zu Schiff. Das gilt un-
verändert auch bellte noch, wo die Italiener endlich wieder, in die Reihe der
selbständig seefnhreuden Rationell eingetreten sind und ihre großen Dampfer
bis Südamerika und Indien senden.

Diese ganze Kultur nimmt sich so einheitlich aus, wie auf den ersten Blick
die heutige italienische; aber das schließt starke landschaftliche und ört¬
liche Unterschiede so wenig aus wie ein lebhaftes Souderbewnßtseiu. Aller¬
dings ist Horaz zu sehr Großstädter und Römer, als daß er einem beschränktet,
Lokalpatriotismus huldigen sollte, und er weiß selbst einmal nicht recht, ob
er sich einen Lukauer oder Apulier nennen soll, denn seine Vaterstadt Venusia
lag auf der Grenzscheide beider Landschaften und war eine römische Zwing¬
burg gegen beide; aber ein andermal nennt er doch Apulien sein „Mutterland"
<Mrix);7») er hat ein gewisses Selbstgefühl als Veuusiner und ist stolz auf die
Gründung der römischen Kolonie, streitbar mit seinem Schreibgriffel wie jene
Kolonisten mit dem Schwerte; er schwärmt für das angrenzende Tarent, er rühmt
den Fleiß des apulischen Ackersmanus, er preist seine Landsleute Ofellus in


Grenzlwlen II 1901 ü7
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[0457] Die Satiren des Horaz im Lichte des modernen italienischen Lebens Komfort und für ein Dasein bestimmt, das sich von dem städtischen nur durch die Örtlichkeit und die größere Ungezwungenheit unterscheidet und unterschied. Wenn trotz dieser städtischen Gewohnheiten der antike und der moderne Italiener dein Landleben nicht so fern gerückt sind wie der moderne Gro߬ städter andrer Länder und also auch hierin der Natur näher stehn als dieser, der oft kaum die Getreidearten und die Waldbäume unterscheiden kaun und die Sonne niemals aufgehn sieht, so trägt dazu auch der weite See- und Gebirgshorizont bei, denn es wird kaum eine italienische Stadt geben, die nicht den einen oder den andern hätte, und es giebt viele, die beide habe». Von Rom aus sieht man auf der eiuen Seite die langen Linien der Gebirge, auf der rudern deu Spiegel des Meeres, von den Höhen der Abbrnzzen reicht der Blick bis zur See, und Syrnkns sieht hier auf das blaue Griechen¬ meer hinaus, dort nach dem fernen Kegel des mächtigen Almas. Und wenn das Meer immer wilde, unbezähmbare Natur bleibt, so gleicht das italienische Gebirge, auch von den Alpen ganz abgesehen, in seinem Aufbau, seineu Um¬ risse» und seinem Klima viel mehr dem ebenfalls der menschlichen Kultur un¬ überwindlichen Hochgebirge als unserm deutschen Mittelgebirge; im Sabiner- lande glaubt mau zuweilen in den .Kalkalpen zu sein. Ein-solches Volk ist vor binnenländischer Verhvcknng gründlich geschützt; der weite Blick aus Laud und See weitet auch deu geistigen Horizont. Horaz selbst, so sehr er sein quellfrisches, waldschnttiges Gebirgsthal liebt, oder sich im wasserumrauschteu Tibur aufhält, wo auch Müeeuas eine Villa hatte,") zieht doch auch gern, namentlich im Winter und im beginnenden Frühjahr nach der Meeresküste hinab, nach Salerno oder dem gesegneten Tarent, wo die Erde trieft von Honig und Öl und Wein, der Frühling lang und lau der Winter ist, oder mit der römischen Aristokratie nach dem sonnenbeglänzten Bajä am blauen Golfe. ^) Und Großhandel ist mit Seehandel, weitere Reisen sind mit See¬ reisen ziemlich identisch: der Kaufmann führt immer zu Schiff. Das gilt un- verändert auch bellte noch, wo die Italiener endlich wieder, in die Reihe der selbständig seefnhreuden Rationell eingetreten sind und ihre großen Dampfer bis Südamerika und Indien senden. Diese ganze Kultur nimmt sich so einheitlich aus, wie auf den ersten Blick die heutige italienische; aber das schließt starke landschaftliche und ört¬ liche Unterschiede so wenig aus wie ein lebhaftes Souderbewnßtseiu. Aller¬ dings ist Horaz zu sehr Großstädter und Römer, als daß er einem beschränktet, Lokalpatriotismus huldigen sollte, und er weiß selbst einmal nicht recht, ob er sich einen Lukauer oder Apulier nennen soll, denn seine Vaterstadt Venusia lag auf der Grenzscheide beider Landschaften und war eine römische Zwing¬ burg gegen beide; aber ein andermal nennt er doch Apulien sein „Mutterland" <Mrix);7») er hat ein gewisses Selbstgefühl als Veuusiner und ist stolz auf die Gründung der römischen Kolonie, streitbar mit seinem Schreibgriffel wie jene Kolonisten mit dem Schwerte; er schwärmt für das angrenzende Tarent, er rühmt den Fleiß des apulischen Ackersmanus, er preist seine Landsleute Ofellus in Grenzlwlen II 1901 ü7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/457>, abgerufen am 24.08.2024.