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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Volksbibliotheken und Lesehallen

Dollars und fragt sich, ob damit nicht ein Geschenk von 5 Millionen zu teuer
bezahlt wäre,

Schultze berichtet über den Stand des Volksbibliothekwesens in allen
Ländern der Erde, die wilden nicht ausgenommen. Das Ergebnis entspricht
dem, was man nach den bekannten Bildungsverhältnissen der Länder erwartet,
im allgemeinen; im besondern giebt es allerdings Ausnahmen, so z. B, steht
die Schweiz nicht so hoch, wie sie könnte und sollte, dagegen entsprechen die
Siebenbürgener Sachsen, "das gebildetste Volk der Erde," der Erwartung,
Sonst steht es in Österreich-Ungarn nicht zum besten aus, abgesehen von Wien,
wo . die Bibliotheken des Volksbildungsvereins im Jahre 1898 über eine
Million Bände ausgeliehen und damit Berlin weit überflügelt haben. Daß
Luegers Gemeinderat die Subvention gestrichen hat, die der Verein von der
Stadt in deren liberaler Ära erhalten hatte, wird der "christlich-sozialen" Ära
nicht unter die Ruhmestitel gerechnet werden. Einer Musterbiblivthek erfreut
sich das Städtchen Zwittau in Mähren, nicht dank dem Genie seiner Bürger¬
schaft, sondern dank einem nach Amerika ausgewanderten Zwittaner, Oswald
Ottendorfer. Dieser hat ein Bibliothekgebäude nach amerikanischem Muster
bauen und einrichten lassen und eine junge Dame zur Verwalterin bestellt, die
das Bibliothekwesen in Amerika studiert hat. Damen werden dort in der
Bibliothekverwaltung, für die sie sich vorzüglich eignen, vielfach verwandt.

In unserm Vaterlande hat Großenhain mit den öffentlichen Bibliotheken
den Anfang gemacht, wie denn überhaupt Sachsen auch in diesem Zweige des
Volksbildungswesens den ersten Rang unter den deutschen Staaten behauptet.
In Berlin hat Friedrich von Raumer den ersten Anstoß gegeben, nachdem er
ans einer Reise in Amerika zu seinein Erstaunen Arbeiter getroffen hatte, die
mit Pluwrch vertraut waren. Als den Hauptmangel des heutigen Berliner
Vvlksbibliothekenwesens bezeichnet Schultze das Fehlen einer Zentralbibliothek.
Die Reichshauptstadt hat siebenundzwanzig kleine Volksbibliotheken; jedes gute
Buch muß also in siebenundzwanzig Exemplaren angeschafft werden. Das
wäre, wenn eine Zentralbibliothek bestünde, nicht nötig, weil manche gute
Bücher nur von wenigen gelesen werden, und die Ersparnis könnte auf Ver¬
vollständigung der Bibliothek verwandt werden. Diese siebenundzwanzig
Bibliotheken enthalten zusammen nicht mehr als etwas über 104000 Bünde,
und aus dem oben gesagten kann man ungefähr berechnen, wieviel verschiedne
Werke das sein mögen. Dazu ist die Benutzung auf das äußerste erschwert.
"Unglaublich aber wahr," die meisten sind nur sechs Stunden die Woche ge¬
öffnet: Mittwoch und Sonnabend von zwölf bis zwei und Sonntags von elf
bis eins; das macht 312 Stunden im Jahre, gegen 4000 bis 4600 in Boston.
Mit Lesehallen sind nur zwei dieser Bibliotheken verbunden; die eine der
"Hallen" ist ein kleines elendes Zimmer in einem Hinterhause, während fast
alle amerikanischen und englischen Volksbibliotheken stattliche Gebäude haben,
die nur diesem Zweck dienen, für ihn entworfen und eingerichtet sind. Die
Benutzung hat sich im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts von 334837


Volksbibliotheken und Lesehallen

Dollars und fragt sich, ob damit nicht ein Geschenk von 5 Millionen zu teuer
bezahlt wäre,

Schultze berichtet über den Stand des Volksbibliothekwesens in allen
Ländern der Erde, die wilden nicht ausgenommen. Das Ergebnis entspricht
dem, was man nach den bekannten Bildungsverhältnissen der Länder erwartet,
im allgemeinen; im besondern giebt es allerdings Ausnahmen, so z. B, steht
die Schweiz nicht so hoch, wie sie könnte und sollte, dagegen entsprechen die
Siebenbürgener Sachsen, „das gebildetste Volk der Erde," der Erwartung,
Sonst steht es in Österreich-Ungarn nicht zum besten aus, abgesehen von Wien,
wo . die Bibliotheken des Volksbildungsvereins im Jahre 1898 über eine
Million Bände ausgeliehen und damit Berlin weit überflügelt haben. Daß
Luegers Gemeinderat die Subvention gestrichen hat, die der Verein von der
Stadt in deren liberaler Ära erhalten hatte, wird der „christlich-sozialen" Ära
nicht unter die Ruhmestitel gerechnet werden. Einer Musterbiblivthek erfreut
sich das Städtchen Zwittau in Mähren, nicht dank dem Genie seiner Bürger¬
schaft, sondern dank einem nach Amerika ausgewanderten Zwittaner, Oswald
Ottendorfer. Dieser hat ein Bibliothekgebäude nach amerikanischem Muster
bauen und einrichten lassen und eine junge Dame zur Verwalterin bestellt, die
das Bibliothekwesen in Amerika studiert hat. Damen werden dort in der
Bibliothekverwaltung, für die sie sich vorzüglich eignen, vielfach verwandt.

In unserm Vaterlande hat Großenhain mit den öffentlichen Bibliotheken
den Anfang gemacht, wie denn überhaupt Sachsen auch in diesem Zweige des
Volksbildungswesens den ersten Rang unter den deutschen Staaten behauptet.
In Berlin hat Friedrich von Raumer den ersten Anstoß gegeben, nachdem er
ans einer Reise in Amerika zu seinein Erstaunen Arbeiter getroffen hatte, die
mit Pluwrch vertraut waren. Als den Hauptmangel des heutigen Berliner
Vvlksbibliothekenwesens bezeichnet Schultze das Fehlen einer Zentralbibliothek.
Die Reichshauptstadt hat siebenundzwanzig kleine Volksbibliotheken; jedes gute
Buch muß also in siebenundzwanzig Exemplaren angeschafft werden. Das
wäre, wenn eine Zentralbibliothek bestünde, nicht nötig, weil manche gute
Bücher nur von wenigen gelesen werden, und die Ersparnis könnte auf Ver¬
vollständigung der Bibliothek verwandt werden. Diese siebenundzwanzig
Bibliotheken enthalten zusammen nicht mehr als etwas über 104000 Bünde,
und aus dem oben gesagten kann man ungefähr berechnen, wieviel verschiedne
Werke das sein mögen. Dazu ist die Benutzung auf das äußerste erschwert.
„Unglaublich aber wahr," die meisten sind nur sechs Stunden die Woche ge¬
öffnet: Mittwoch und Sonnabend von zwölf bis zwei und Sonntags von elf
bis eins; das macht 312 Stunden im Jahre, gegen 4000 bis 4600 in Boston.
Mit Lesehallen sind nur zwei dieser Bibliotheken verbunden; die eine der
„Hallen" ist ein kleines elendes Zimmer in einem Hinterhause, während fast
alle amerikanischen und englischen Volksbibliotheken stattliche Gebäude haben,
die nur diesem Zweck dienen, für ihn entworfen und eingerichtet sind. Die
Benutzung hat sich im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts von 334837


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[0367] Volksbibliotheken und Lesehallen Dollars und fragt sich, ob damit nicht ein Geschenk von 5 Millionen zu teuer bezahlt wäre, Schultze berichtet über den Stand des Volksbibliothekwesens in allen Ländern der Erde, die wilden nicht ausgenommen. Das Ergebnis entspricht dem, was man nach den bekannten Bildungsverhältnissen der Länder erwartet, im allgemeinen; im besondern giebt es allerdings Ausnahmen, so z. B, steht die Schweiz nicht so hoch, wie sie könnte und sollte, dagegen entsprechen die Siebenbürgener Sachsen, „das gebildetste Volk der Erde," der Erwartung, Sonst steht es in Österreich-Ungarn nicht zum besten aus, abgesehen von Wien, wo . die Bibliotheken des Volksbildungsvereins im Jahre 1898 über eine Million Bände ausgeliehen und damit Berlin weit überflügelt haben. Daß Luegers Gemeinderat die Subvention gestrichen hat, die der Verein von der Stadt in deren liberaler Ära erhalten hatte, wird der „christlich-sozialen" Ära nicht unter die Ruhmestitel gerechnet werden. Einer Musterbiblivthek erfreut sich das Städtchen Zwittau in Mähren, nicht dank dem Genie seiner Bürger¬ schaft, sondern dank einem nach Amerika ausgewanderten Zwittaner, Oswald Ottendorfer. Dieser hat ein Bibliothekgebäude nach amerikanischem Muster bauen und einrichten lassen und eine junge Dame zur Verwalterin bestellt, die das Bibliothekwesen in Amerika studiert hat. Damen werden dort in der Bibliothekverwaltung, für die sie sich vorzüglich eignen, vielfach verwandt. In unserm Vaterlande hat Großenhain mit den öffentlichen Bibliotheken den Anfang gemacht, wie denn überhaupt Sachsen auch in diesem Zweige des Volksbildungswesens den ersten Rang unter den deutschen Staaten behauptet. In Berlin hat Friedrich von Raumer den ersten Anstoß gegeben, nachdem er ans einer Reise in Amerika zu seinein Erstaunen Arbeiter getroffen hatte, die mit Pluwrch vertraut waren. Als den Hauptmangel des heutigen Berliner Vvlksbibliothekenwesens bezeichnet Schultze das Fehlen einer Zentralbibliothek. Die Reichshauptstadt hat siebenundzwanzig kleine Volksbibliotheken; jedes gute Buch muß also in siebenundzwanzig Exemplaren angeschafft werden. Das wäre, wenn eine Zentralbibliothek bestünde, nicht nötig, weil manche gute Bücher nur von wenigen gelesen werden, und die Ersparnis könnte auf Ver¬ vollständigung der Bibliothek verwandt werden. Diese siebenundzwanzig Bibliotheken enthalten zusammen nicht mehr als etwas über 104000 Bünde, und aus dem oben gesagten kann man ungefähr berechnen, wieviel verschiedne Werke das sein mögen. Dazu ist die Benutzung auf das äußerste erschwert. „Unglaublich aber wahr," die meisten sind nur sechs Stunden die Woche ge¬ öffnet: Mittwoch und Sonnabend von zwölf bis zwei und Sonntags von elf bis eins; das macht 312 Stunden im Jahre, gegen 4000 bis 4600 in Boston. Mit Lesehallen sind nur zwei dieser Bibliotheken verbunden; die eine der „Hallen" ist ein kleines elendes Zimmer in einem Hinterhause, während fast alle amerikanischen und englischen Volksbibliotheken stattliche Gebäude haben, die nur diesem Zweck dienen, für ihn entworfen und eingerichtet sind. Die Benutzung hat sich im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts von 334837

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/367>, abgerufen am 22.07.2024.