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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Volksbibliotheken und Lesehallen

Anzahl von Ansgabestellen eingerichtet ist, sodaß die ganze Stadt mit einem
Netzwerk von Lesegelegenheiten überzogen ist. Den Dienst versehen 269 Be¬
amte, von denen 208 auf die Zentralbibliothek, 61 ans die Zweigbibliotheken
kommen. In der ersten sind an den Wochentagen den Tag über 151 be¬
schäftigt, während die übrigen 57 ihre Amtszeit des Abends und an den
Sonntagen haben. 17 von den 208 arbeiten in der Buchbinderei, die Zahl
der in den Nebenausgabestellen Beschäftigten ist nicht angegeben. Schultze
legt dar, daß erst diese große Zahl von Beamten die Bibliothek ertragreich
für die Volksbildung macht. Dreißig bis vierzig Personen seien allein dazu
nötig, eine so große Bibliothek in Ordnung zu halten. Nun gebe es ja aller¬
dings in Europa Bibliotheken von der Größe der Bostoncr, die alles in allem
nicht mehr Beamten hätten, aber das seien denn auch bloße Büchergräber,
keine Volksbildungsmittel. "Die paar tausend Bücher, die dann jährlich aus¬
gegeben werden, stellen doch nur eine sehr kümmerliche Abschlagszahlung vor
im Vergleich zu den großen Schätzen, die in der Bibliothek aufgehäuft sind
und dort auf ihre Benutzung harren. Ich denke hier namentlich an eine große
Bibliothek in einer der Hauptstädte des europäischen Kontinents, die noch vor
einem halben Jahrhundert uuter den großen Bibliotheken der Welt mit in der
ersten Reihe stand, die aber seitdem durch Knauserei heruntergekommen und
nur noch ein Stern zehnter oder zwölfter Größe ist, und bei der von Be¬
nutzung kaum noch gesprochen werden kann." Die Hauptaufgabe der amerika¬
nischen Bibliothekare ist aber, das Publikum zur fruchtbaren Benutzung des
Bücherschatzes anzuleiten und ihm dabei behilflich zu sein. Anschläge fordern
die Besucher auf, sich mit Fragen an den diesen Dienst versehenden Herrn zu
wenden, der jederzeit bereit steht und nichts andres zu thun hat. "Wenn der
Arbeiter in dem großen, über eine Million Zettel enthaltenden Zettelkatalog
ein Buch über einen bestimmten Zweig des Kunstgewerbes sucht, so zeigt er
ihm, wie man rasch ermitteln kann, ob es vorhanden ist oder nicht. Er ist
der jungen Dame behilflich, die uuter den 50000 frei zugänglichen Werken
der Nachschlagesüle eine deutsche Litteraturgeschichte sucht. Er erteilt im Patent¬
raum dem Techniker Rat, der sich in der Litteratur über elektrische Uhren um¬
sehen will. Er zeigt im Lesesaal der Jugendabteilung dein Knaben, wo er
ein Buch über den amerikanischen Bürgerkrieg findet, er geht dein jungen Ge¬
lehrten zur Hand, der einen Aufsatz über das Verhältnis Voltaires zu Friedrich
dem Großen schreiben will." Diesem freundlichen Entgegenkommen entspricht
denn auch die reichliche Benutzung. Obwohl Boston noch eine Menge andrer
Bibliotheken hat, hat die freie Volksbibliothek im Verwaltuugsjahre 1898
bis 1899 an 64973 Leser 1245842 Bücher verliehen. Und ähnlich ists im
ganzen Ländchein von seinen 349 Stadt- und Landgemeinden haben nicht
weniger als 342 eine freie öffentliche Bibliothek. Die sieben zurückgebliebnen
Gemeinden haben zusammen nicht ganz 11000 Seelen. In Massachusetts
dürfte also das Fichtische Ideal eines durchaus und gleichmäßig gebildeten
Volks so ziemlich erreicht sei". Das kleine Land hat mehr Bibliothek-


Volksbibliotheken und Lesehallen

Anzahl von Ansgabestellen eingerichtet ist, sodaß die ganze Stadt mit einem
Netzwerk von Lesegelegenheiten überzogen ist. Den Dienst versehen 269 Be¬
amte, von denen 208 auf die Zentralbibliothek, 61 ans die Zweigbibliotheken
kommen. In der ersten sind an den Wochentagen den Tag über 151 be¬
schäftigt, während die übrigen 57 ihre Amtszeit des Abends und an den
Sonntagen haben. 17 von den 208 arbeiten in der Buchbinderei, die Zahl
der in den Nebenausgabestellen Beschäftigten ist nicht angegeben. Schultze
legt dar, daß erst diese große Zahl von Beamten die Bibliothek ertragreich
für die Volksbildung macht. Dreißig bis vierzig Personen seien allein dazu
nötig, eine so große Bibliothek in Ordnung zu halten. Nun gebe es ja aller¬
dings in Europa Bibliotheken von der Größe der Bostoncr, die alles in allem
nicht mehr Beamten hätten, aber das seien denn auch bloße Büchergräber,
keine Volksbildungsmittel. „Die paar tausend Bücher, die dann jährlich aus¬
gegeben werden, stellen doch nur eine sehr kümmerliche Abschlagszahlung vor
im Vergleich zu den großen Schätzen, die in der Bibliothek aufgehäuft sind
und dort auf ihre Benutzung harren. Ich denke hier namentlich an eine große
Bibliothek in einer der Hauptstädte des europäischen Kontinents, die noch vor
einem halben Jahrhundert uuter den großen Bibliotheken der Welt mit in der
ersten Reihe stand, die aber seitdem durch Knauserei heruntergekommen und
nur noch ein Stern zehnter oder zwölfter Größe ist, und bei der von Be¬
nutzung kaum noch gesprochen werden kann." Die Hauptaufgabe der amerika¬
nischen Bibliothekare ist aber, das Publikum zur fruchtbaren Benutzung des
Bücherschatzes anzuleiten und ihm dabei behilflich zu sein. Anschläge fordern
die Besucher auf, sich mit Fragen an den diesen Dienst versehenden Herrn zu
wenden, der jederzeit bereit steht und nichts andres zu thun hat. „Wenn der
Arbeiter in dem großen, über eine Million Zettel enthaltenden Zettelkatalog
ein Buch über einen bestimmten Zweig des Kunstgewerbes sucht, so zeigt er
ihm, wie man rasch ermitteln kann, ob es vorhanden ist oder nicht. Er ist
der jungen Dame behilflich, die uuter den 50000 frei zugänglichen Werken
der Nachschlagesüle eine deutsche Litteraturgeschichte sucht. Er erteilt im Patent¬
raum dem Techniker Rat, der sich in der Litteratur über elektrische Uhren um¬
sehen will. Er zeigt im Lesesaal der Jugendabteilung dein Knaben, wo er
ein Buch über den amerikanischen Bürgerkrieg findet, er geht dein jungen Ge¬
lehrten zur Hand, der einen Aufsatz über das Verhältnis Voltaires zu Friedrich
dem Großen schreiben will." Diesem freundlichen Entgegenkommen entspricht
denn auch die reichliche Benutzung. Obwohl Boston noch eine Menge andrer
Bibliotheken hat, hat die freie Volksbibliothek im Verwaltuugsjahre 1898
bis 1899 an 64973 Leser 1245842 Bücher verliehen. Und ähnlich ists im
ganzen Ländchein von seinen 349 Stadt- und Landgemeinden haben nicht
weniger als 342 eine freie öffentliche Bibliothek. Die sieben zurückgebliebnen
Gemeinden haben zusammen nicht ganz 11000 Seelen. In Massachusetts
dürfte also das Fichtische Ideal eines durchaus und gleichmäßig gebildeten
Volks so ziemlich erreicht sei». Das kleine Land hat mehr Bibliothek-


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[0365] Volksbibliotheken und Lesehallen Anzahl von Ansgabestellen eingerichtet ist, sodaß die ganze Stadt mit einem Netzwerk von Lesegelegenheiten überzogen ist. Den Dienst versehen 269 Be¬ amte, von denen 208 auf die Zentralbibliothek, 61 ans die Zweigbibliotheken kommen. In der ersten sind an den Wochentagen den Tag über 151 be¬ schäftigt, während die übrigen 57 ihre Amtszeit des Abends und an den Sonntagen haben. 17 von den 208 arbeiten in der Buchbinderei, die Zahl der in den Nebenausgabestellen Beschäftigten ist nicht angegeben. Schultze legt dar, daß erst diese große Zahl von Beamten die Bibliothek ertragreich für die Volksbildung macht. Dreißig bis vierzig Personen seien allein dazu nötig, eine so große Bibliothek in Ordnung zu halten. Nun gebe es ja aller¬ dings in Europa Bibliotheken von der Größe der Bostoncr, die alles in allem nicht mehr Beamten hätten, aber das seien denn auch bloße Büchergräber, keine Volksbildungsmittel. „Die paar tausend Bücher, die dann jährlich aus¬ gegeben werden, stellen doch nur eine sehr kümmerliche Abschlagszahlung vor im Vergleich zu den großen Schätzen, die in der Bibliothek aufgehäuft sind und dort auf ihre Benutzung harren. Ich denke hier namentlich an eine große Bibliothek in einer der Hauptstädte des europäischen Kontinents, die noch vor einem halben Jahrhundert uuter den großen Bibliotheken der Welt mit in der ersten Reihe stand, die aber seitdem durch Knauserei heruntergekommen und nur noch ein Stern zehnter oder zwölfter Größe ist, und bei der von Be¬ nutzung kaum noch gesprochen werden kann." Die Hauptaufgabe der amerika¬ nischen Bibliothekare ist aber, das Publikum zur fruchtbaren Benutzung des Bücherschatzes anzuleiten und ihm dabei behilflich zu sein. Anschläge fordern die Besucher auf, sich mit Fragen an den diesen Dienst versehenden Herrn zu wenden, der jederzeit bereit steht und nichts andres zu thun hat. „Wenn der Arbeiter in dem großen, über eine Million Zettel enthaltenden Zettelkatalog ein Buch über einen bestimmten Zweig des Kunstgewerbes sucht, so zeigt er ihm, wie man rasch ermitteln kann, ob es vorhanden ist oder nicht. Er ist der jungen Dame behilflich, die uuter den 50000 frei zugänglichen Werken der Nachschlagesüle eine deutsche Litteraturgeschichte sucht. Er erteilt im Patent¬ raum dem Techniker Rat, der sich in der Litteratur über elektrische Uhren um¬ sehen will. Er zeigt im Lesesaal der Jugendabteilung dein Knaben, wo er ein Buch über den amerikanischen Bürgerkrieg findet, er geht dein jungen Ge¬ lehrten zur Hand, der einen Aufsatz über das Verhältnis Voltaires zu Friedrich dem Großen schreiben will." Diesem freundlichen Entgegenkommen entspricht denn auch die reichliche Benutzung. Obwohl Boston noch eine Menge andrer Bibliotheken hat, hat die freie Volksbibliothek im Verwaltuugsjahre 1898 bis 1899 an 64973 Leser 1245842 Bücher verliehen. Und ähnlich ists im ganzen Ländchein von seinen 349 Stadt- und Landgemeinden haben nicht weniger als 342 eine freie öffentliche Bibliothek. Die sieben zurückgebliebnen Gemeinden haben zusammen nicht ganz 11000 Seelen. In Massachusetts dürfte also das Fichtische Ideal eines durchaus und gleichmäßig gebildeten Volks so ziemlich erreicht sei». Das kleine Land hat mehr Bibliothek-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/365>, abgerufen am 22.07.2024.