Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.Gedanken zur Revision des Ara"kenversichernngsgesetzes und kapitalkräftigen Judustriefcudalen vielfach Musterkrankenkasscn geworden Eine große Ungerechtigkeit liegt zunächst darin, daß die Ortskrnntenkassen Gedanken zur Revision des Ara»kenversichernngsgesetzes und kapitalkräftigen Judustriefcudalen vielfach Musterkrankenkasscn geworden Eine große Ungerechtigkeit liegt zunächst darin, daß die Ortskrnntenkassen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0319" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/234849"/> <fw type="header" place="top"> Gedanken zur Revision des Ara»kenversichernngsgesetzes</fw><lb/> <p xml:id="ID_937" prev="#ID_936"> und kapitalkräftigen Judustriefcudalen vielfach Musterkrankenkasscn geworden<lb/> sind. Wie der heutige Unternehmer häufig durch die Konkurrenz verhindert<lb/> wird, seinen Arbeitern erträgliche Arbeitsbedingungen zu bewilligen, so ist er<lb/> auch durch die Konkurrenz gezwungen, möglichst wirtschaftlich in den Betriebs-<lb/> krankenkassen zu arbeiten. Man kann von dem wirtschaftlichen Egoismus nicht<lb/> verlangen, daß er in dem allgemeinen Nutzen den eignen Vorteil sieht. Der<lb/> Fabrikant muß zunächst daran denken, Nutzen aus seinem Betrieb zu ziehn, und<lb/> kann sich nicht darum kümmern, ob eine übertriebne Arbeit in engen Räumen<lb/> und bei schlechter Luft die Gesundheit seiner Arbeiter oder Arbeiterinnen<lb/> schädigt und ihr Leben verkürzt. So lassen sich denn auch die Schattenseiten<lb/> der Betriebskrauteukassen, die mit den Grundprinzipien der sozialen Gesetze<lb/> nicht im Einklang stehn, ans den wirtschaftlichen Egoismus zurückführen.</p><lb/> <p xml:id="ID_938"> Eine große Ungerechtigkeit liegt zunächst darin, daß die Ortskrnntenkassen<lb/> alle chronisch Kranken, die in der Gesundheit Schwachen als Mitglieder haben,<lb/> während die Betriebsunternehmer ihre Kassen davon entlasten. Die Arbeits¬<lb/> kräfte, die eingestellt werden sollen, werden vorher ärztlich untersucht, alle<lb/> Arbeitsuchenden, deren Gesundheitszustand zu irgend einem Bedenken Anlaß<lb/> giebt, werden abgewiesen. Ist jemand sonst gesund, hat aber z. B. einen<lb/> Leistenbruch, so heißt es: „Schaffen Sie sich zunächst von Ihrem Gelde ein<lb/> Bruchband an, dann kommen Sie wieder!" Findet der Arbeiter dagegen Be¬<lb/> schäftigung bei einem Unternehmer, der keine Betriebskrankenkasse hat, so wird<lb/> er z. B. bei der Ortskrankenkasse angemeldet und läßt sich auf deren Kosten<lb/> ein Bruchband verschreiben. Ein so ungleiches Verfahren liegt nicht im Sinne<lb/> der sozialpolitischen Gesetzgebung; für den Arbeitsuchenden, der vielleicht aller<lb/> Mittel bar ist, liegt darin oft eine grausame Härte, es ist aber eine ebenso<lb/> notwendige Folge einer ökonomischen Verwaltung, wie folgendes Vorgehn:<lb/> Angenommen, ein Schlosser war bisher Mitglied bei einer Ortskraukeukasse<lb/> mit getrennten Lohnklassen und rangierte in der Lohnklasse von 4 Mark täg¬<lb/> lichem Arbeitsverdienst, und er wird nun durch Wechsel der Arbeitsstätte Mit¬<lb/> glied einer Betriebskrankenkasse, worin für alle Versicherten ein Durchschnitts¬<lb/> arbeitsverdienst von Mark zu Grunde gelegt ist, so werden dadurch die<lb/> Leistungen der Kasse für ihn wesentlich verschlechtert. Außerdem wird dieser<lb/> Durchschnittsarbeitslohi, zur Berechnung der zu klebenden Jnvalidenmnrken zu<lb/> Grunde gelegt, und so wird während der Dauer dieses Arbeitsverhältnisses<lb/> der Versicherte in der Invalidenversicherung von der fünften Lohullasse mit<lb/> 36 Pfennig-Beitragsmarke herabgedrückt auf die dritte Lohnklasse mit 24 Pfennig-<lb/> Beitragsmarke. Denn für die Zugehörigkeit des Versicherten zu den Lohn¬<lb/> klassen der Invalidenversicherung ist nicht der thatsächliche, sondern der für die<lb/> Krankenversicherung maßgebende Arbeitsverdienst entscheidend. Wer um jähre<lb/> oder jahrzehntelang einer solchen Betriebskrankenkasse angehört, wird natürlich<lb/> eine viel niedrigere Invalidenrente bekommen als ein Berufsgenosse mit dem¬<lb/> selben wirklichen Arbeitsverdienst, der aber zufällig einer Ortskrankenkasse an¬<lb/> gehörte.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0319]
Gedanken zur Revision des Ara»kenversichernngsgesetzes
und kapitalkräftigen Judustriefcudalen vielfach Musterkrankenkasscn geworden
sind. Wie der heutige Unternehmer häufig durch die Konkurrenz verhindert
wird, seinen Arbeitern erträgliche Arbeitsbedingungen zu bewilligen, so ist er
auch durch die Konkurrenz gezwungen, möglichst wirtschaftlich in den Betriebs-
krankenkassen zu arbeiten. Man kann von dem wirtschaftlichen Egoismus nicht
verlangen, daß er in dem allgemeinen Nutzen den eignen Vorteil sieht. Der
Fabrikant muß zunächst daran denken, Nutzen aus seinem Betrieb zu ziehn, und
kann sich nicht darum kümmern, ob eine übertriebne Arbeit in engen Räumen
und bei schlechter Luft die Gesundheit seiner Arbeiter oder Arbeiterinnen
schädigt und ihr Leben verkürzt. So lassen sich denn auch die Schattenseiten
der Betriebskrauteukassen, die mit den Grundprinzipien der sozialen Gesetze
nicht im Einklang stehn, ans den wirtschaftlichen Egoismus zurückführen.
Eine große Ungerechtigkeit liegt zunächst darin, daß die Ortskrnntenkassen
alle chronisch Kranken, die in der Gesundheit Schwachen als Mitglieder haben,
während die Betriebsunternehmer ihre Kassen davon entlasten. Die Arbeits¬
kräfte, die eingestellt werden sollen, werden vorher ärztlich untersucht, alle
Arbeitsuchenden, deren Gesundheitszustand zu irgend einem Bedenken Anlaß
giebt, werden abgewiesen. Ist jemand sonst gesund, hat aber z. B. einen
Leistenbruch, so heißt es: „Schaffen Sie sich zunächst von Ihrem Gelde ein
Bruchband an, dann kommen Sie wieder!" Findet der Arbeiter dagegen Be¬
schäftigung bei einem Unternehmer, der keine Betriebskrankenkasse hat, so wird
er z. B. bei der Ortskrankenkasse angemeldet und läßt sich auf deren Kosten
ein Bruchband verschreiben. Ein so ungleiches Verfahren liegt nicht im Sinne
der sozialpolitischen Gesetzgebung; für den Arbeitsuchenden, der vielleicht aller
Mittel bar ist, liegt darin oft eine grausame Härte, es ist aber eine ebenso
notwendige Folge einer ökonomischen Verwaltung, wie folgendes Vorgehn:
Angenommen, ein Schlosser war bisher Mitglied bei einer Ortskraukeukasse
mit getrennten Lohnklassen und rangierte in der Lohnklasse von 4 Mark täg¬
lichem Arbeitsverdienst, und er wird nun durch Wechsel der Arbeitsstätte Mit¬
glied einer Betriebskrankenkasse, worin für alle Versicherten ein Durchschnitts¬
arbeitsverdienst von Mark zu Grunde gelegt ist, so werden dadurch die
Leistungen der Kasse für ihn wesentlich verschlechtert. Außerdem wird dieser
Durchschnittsarbeitslohi, zur Berechnung der zu klebenden Jnvalidenmnrken zu
Grunde gelegt, und so wird während der Dauer dieses Arbeitsverhältnisses
der Versicherte in der Invalidenversicherung von der fünften Lohullasse mit
36 Pfennig-Beitragsmarke herabgedrückt auf die dritte Lohnklasse mit 24 Pfennig-
Beitragsmarke. Denn für die Zugehörigkeit des Versicherten zu den Lohn¬
klassen der Invalidenversicherung ist nicht der thatsächliche, sondern der für die
Krankenversicherung maßgebende Arbeitsverdienst entscheidend. Wer um jähre
oder jahrzehntelang einer solchen Betriebskrankenkasse angehört, wird natürlich
eine viel niedrigere Invalidenrente bekommen als ein Berufsgenosse mit dem¬
selben wirklichen Arbeitsverdienst, der aber zufällig einer Ortskrankenkasse an¬
gehörte.
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