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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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zeuge der Herrschaft des ständischen Staats über die geduldigen Unterthanen
vom "Nährstande," die der Regierung und den Grundherren gehorsam die
Steuern zahlten und die Heilsmittel der Kirche ans den Händen des "Lehr-
stands" gläubig empfingein Seine auf die Spitze getriebne Lehre vom "lei¬
denden Gehorsam" "sog deu Lutheranern daS Mark des Willens ans den
Knochen," So verkümmerte dieses gewaltige, einst weltbeherrschende Volk in
ödem Kleinkram, es wähnte, sich einrichten und seine kirchlichen Zänkereien
ausfechten zu können ohne Rücksicht auf die große Welt ringsum, als wenn
es auf einer Insel im Ozean gelebt hätte und nicht in der Mitte Europas;
es verlor darüber den Rest seiner Weltstellung, und es war, als die römische
Reaktion, von der ersten Weltmacht der Zeit getragen, energisch einsetzte, so
unbehilflich und wehrlos geworden, daß es ohne fremde Hilfe schmachvoll er¬
legen wäre. Von der feurigen Thatkraft, dem bergeversetzenden Glauben
Martin Luthers war in den, lutherischen Teile des deutschen Volks gar nichts
mehr, weil es sich in allein Wandel der Zeiten allzu sklavisch an feine Lehre
geklammert hatte, statt sein Wesen in sich lebendig zu erhalten; es verstand
nur noch zu leiden, nicht mehr zu handeln. Darum ist die ganze geistliche
Dichtung der Zeit fast nur eine wehmütige Klage über das irdische Jammer¬
thal, das mir von der Hoffnung auf ein besseres Jenseits schwach erhellt wird;
die Poesie eines thatkräftigen, glaubeiisfreudigeu Volks, wie es die kalvinischen
Niederländer waren, ist sie nicht.

Rascher ist das friederizianische Preußen von seinem Schicksal ereilt
worden. Nicht daß es von den Bahnen Friedrichs des Großen abwich, hat
es nach Jena und Tilsit geführt, sondern daß es ihnen allzu lange und allzu
ängstlich treu blieb. Unverändert blieben auch in dem zwischen 1786 und 180K
fast um das Doppelte seines Umfangs vergrößerten Staate die alten schmalen
Grundlagen, Beamtentum und Heer, die alte Gliederung der Behörden, die durch
den raschen GcbictsztUvachs immer schwerfälliger, nnübersichtlicher wurde, die
schroffe rechtliche Scheidung der Stände, die Vildnng und Taktik des Heeres.
Darum genügte ein Stoß, um das scheinbar so fest gefügte Gebäude in Trümmer
zu werfen, ein Schlachttag im thüringischen Saalgelände, um das Land bis
an die Weichsel in die Hände des Siegers zu liefern, Friedrich der Große
hat eben mehr eine längst begonnene Entwicklung, die Ausgestaltung Preußens
zur Großmacht und zum festgefügten absoluten Staate, abgeschlossen, als eine
neue Zeit begonnen. Diese heraufzuführen, genügte es deshalb nicht, in seinen
Bahnen einfach weiterzngehn, sie mußten verlassen werden, und sie sind seit
1807 verlassen worden.

Auch die Bismarckische Politik, die ans die Vergrößerung des preußischen
Staatsgebiets, die Auseinandersetzung mit Österreich, die feste Einigung der
deutschen Staate" mit Preußen, die Abwehr Frankreichs gerichtet war, hat
vor allem den glänzende" Abschluß einer jahrzehntelangen Entwicklung Preußens
und Deutschlands herbeigeführt, ganz neue Bahnen aber mehr im Innern ein¬
geschlagen, indem sie vor allein die soziale Gesetzgebung Steins "ut Harden-


zeuge der Herrschaft des ständischen Staats über die geduldigen Unterthanen
vom „Nährstande," die der Regierung und den Grundherren gehorsam die
Steuern zahlten und die Heilsmittel der Kirche ans den Händen des „Lehr-
stands" gläubig empfingein Seine auf die Spitze getriebne Lehre vom „lei¬
denden Gehorsam" „sog deu Lutheranern daS Mark des Willens ans den
Knochen," So verkümmerte dieses gewaltige, einst weltbeherrschende Volk in
ödem Kleinkram, es wähnte, sich einrichten und seine kirchlichen Zänkereien
ausfechten zu können ohne Rücksicht auf die große Welt ringsum, als wenn
es auf einer Insel im Ozean gelebt hätte und nicht in der Mitte Europas;
es verlor darüber den Rest seiner Weltstellung, und es war, als die römische
Reaktion, von der ersten Weltmacht der Zeit getragen, energisch einsetzte, so
unbehilflich und wehrlos geworden, daß es ohne fremde Hilfe schmachvoll er¬
legen wäre. Von der feurigen Thatkraft, dem bergeversetzenden Glauben
Martin Luthers war in den, lutherischen Teile des deutschen Volks gar nichts
mehr, weil es sich in allein Wandel der Zeiten allzu sklavisch an feine Lehre
geklammert hatte, statt sein Wesen in sich lebendig zu erhalten; es verstand
nur noch zu leiden, nicht mehr zu handeln. Darum ist die ganze geistliche
Dichtung der Zeit fast nur eine wehmütige Klage über das irdische Jammer¬
thal, das mir von der Hoffnung auf ein besseres Jenseits schwach erhellt wird;
die Poesie eines thatkräftigen, glaubeiisfreudigeu Volks, wie es die kalvinischen
Niederländer waren, ist sie nicht.

Rascher ist das friederizianische Preußen von seinem Schicksal ereilt
worden. Nicht daß es von den Bahnen Friedrichs des Großen abwich, hat
es nach Jena und Tilsit geführt, sondern daß es ihnen allzu lange und allzu
ängstlich treu blieb. Unverändert blieben auch in dem zwischen 1786 und 180K
fast um das Doppelte seines Umfangs vergrößerten Staate die alten schmalen
Grundlagen, Beamtentum und Heer, die alte Gliederung der Behörden, die durch
den raschen GcbictsztUvachs immer schwerfälliger, nnübersichtlicher wurde, die
schroffe rechtliche Scheidung der Stände, die Vildnng und Taktik des Heeres.
Darum genügte ein Stoß, um das scheinbar so fest gefügte Gebäude in Trümmer
zu werfen, ein Schlachttag im thüringischen Saalgelände, um das Land bis
an die Weichsel in die Hände des Siegers zu liefern, Friedrich der Große
hat eben mehr eine längst begonnene Entwicklung, die Ausgestaltung Preußens
zur Großmacht und zum festgefügten absoluten Staate, abgeschlossen, als eine
neue Zeit begonnen. Diese heraufzuführen, genügte es deshalb nicht, in seinen
Bahnen einfach weiterzngehn, sie mußten verlassen werden, und sie sind seit
1807 verlassen worden.

Auch die Bismarckische Politik, die ans die Vergrößerung des preußischen
Staatsgebiets, die Auseinandersetzung mit Österreich, die feste Einigung der
deutschen Staate» mit Preußen, die Abwehr Frankreichs gerichtet war, hat
vor allem den glänzende» Abschluß einer jahrzehntelangen Entwicklung Preußens
und Deutschlands herbeigeführt, ganz neue Bahnen aber mehr im Innern ein¬
geschlagen, indem sie vor allein die soziale Gesetzgebung Steins »ut Harden-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/303>, abgerufen am 22.07.2024.