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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Laiengedanken über Humanismus und humanistische Schule

muß sich eben auf Schule und Staat verlassen. Freilich sieht er, daß die Karre
doch nicht so zu laufen scheint, wie sie laufen sollte. Er erfährt es, was für
Leute mit dein Unterricht seines Jungen betraut sind, er sieht, wie die Jugend
unter einem wunderlichen und mechanischen Betrieb überlastet wird und er¬
mattet, statt sich fröhlich zu entwickeln -- dann schimpft er wohl über die
Schulmeisteret im allgemeinen und über den Staat, der nicht richtig eingreift,
sondern in vielen Fallen selbst weiter nichts ist als ein wirklicher geheimer
Oberbcmausc. Weiter thut er nichts; er schließt die Augen, legt die Hände gott¬
ergeben in den Schoß und läßt die Sache laufen, wie sie läuft. Was kann er
denn thun?

Können wir Väter wirklich nichts thun? Ist es nicht unsre Pflicht, uns
zusammenzuthun und gegen Zustände Sturm zu laufen, die nachgerade zum
Himmel schreien? Ist es nicht unsre erste und höchste Pflicht, unsern Kindern,
die die Träger unsers Volkstums werden sollen, die Wege so zu ebnen, daß
sie sich fröhlich, frei und gesund entwickeln können, fähig zu selbständigem
Handeln, fähig, deu von den Voreltern ererbten geistigen Schatz in sich auf¬
zunehmen und zu mehren? Haben wir nicht städtische Vertretungskörper,
Landtag und Reichstag? Können wir nicht vor diesen und durch diese unsre
Stimme erheben und das erzwingen, was not thut?

Ja, die haben wir freilich. Es ist auch gar keine Frage, daß sie ein
offnes Ohr haben würden, denn die Stadtverordneten und die Abgeordneten
wissen so gut wie wir, was faul ist; sie sind ja auch Väter und gehören zu
uns. Auch die Regierungen werden hinter ihren allbekannten grünen Tischen
wohlwollend das Haupt neigen. Sie wissen ja ganz genau, wie es gemacht
werden kann. Sie werden das befreiende Wort sprechen, auf das wir mit
Spannung harren, sie werden sagen: Thu Geld in deinen Beutel, Rodrigo!

Kein Lehrplan, und wenn er noch so vernünftig, praktisch und auf ideale
Ziele zugeschnitten wäre, kann etwas wesentliches erreichen, wenn nicht Ver¬
hältnisse geschaffen werden, die seine Durchführung möglich machen. Klagt
man jetzt über den mechanischen Betrieb und die Überbürdung der Schüler, so
pflegt man zu übersehen, daß die Lehrer nicht minder überbürdet sind und zu
einem mechnuischen Betreiben ihres Unterrichts geradezu gezwungen werden.
Die Klassen werden in den großstädtischen Schulen vollgepfropft, soweit sie
sich vollpfropfen lassen -- die Schulverwaltung hat ja zunächst das Interesse
um der Wissenschaft, wie viel Schulgelderertrag erzielt wird, und Stadt-
Vertretung wie Landtag sind gleichmäßig befriedigt, wenn der Allgemeinheit
so geringe Lasten wie möglich aufgebürdet werden --; ist da ein indivi¬
dualisierender Unterricht möglich? Vierzig Jungen als Durchschnitt in
"ner Klasse, fünfundvierzig oder höchstens fünfzig Minuten Schulstunde,
wieviel Zeit hat da der Lehrer für den Einzelnen in der Stunde, in
der Woche, im Semester? Es ist ganz unmöglich, daß er zu einem per¬
sönlichen Verhältnis zu jedem einzelnen Schüler kommt, daß er verständnisvoll
den Einzelnen zu fördern vermag; es ist ganz natürlich, daß ihn, die Schüler¬
schaft nur das "Material" ist, das er so gut es geht dem vorgeschriebnen


Laiengedanken über Humanismus und humanistische Schule

muß sich eben auf Schule und Staat verlassen. Freilich sieht er, daß die Karre
doch nicht so zu laufen scheint, wie sie laufen sollte. Er erfährt es, was für
Leute mit dein Unterricht seines Jungen betraut sind, er sieht, wie die Jugend
unter einem wunderlichen und mechanischen Betrieb überlastet wird und er¬
mattet, statt sich fröhlich zu entwickeln — dann schimpft er wohl über die
Schulmeisteret im allgemeinen und über den Staat, der nicht richtig eingreift,
sondern in vielen Fallen selbst weiter nichts ist als ein wirklicher geheimer
Oberbcmausc. Weiter thut er nichts; er schließt die Augen, legt die Hände gott¬
ergeben in den Schoß und läßt die Sache laufen, wie sie läuft. Was kann er
denn thun?

Können wir Väter wirklich nichts thun? Ist es nicht unsre Pflicht, uns
zusammenzuthun und gegen Zustände Sturm zu laufen, die nachgerade zum
Himmel schreien? Ist es nicht unsre erste und höchste Pflicht, unsern Kindern,
die die Träger unsers Volkstums werden sollen, die Wege so zu ebnen, daß
sie sich fröhlich, frei und gesund entwickeln können, fähig zu selbständigem
Handeln, fähig, deu von den Voreltern ererbten geistigen Schatz in sich auf¬
zunehmen und zu mehren? Haben wir nicht städtische Vertretungskörper,
Landtag und Reichstag? Können wir nicht vor diesen und durch diese unsre
Stimme erheben und das erzwingen, was not thut?

Ja, die haben wir freilich. Es ist auch gar keine Frage, daß sie ein
offnes Ohr haben würden, denn die Stadtverordneten und die Abgeordneten
wissen so gut wie wir, was faul ist; sie sind ja auch Väter und gehören zu
uns. Auch die Regierungen werden hinter ihren allbekannten grünen Tischen
wohlwollend das Haupt neigen. Sie wissen ja ganz genau, wie es gemacht
werden kann. Sie werden das befreiende Wort sprechen, auf das wir mit
Spannung harren, sie werden sagen: Thu Geld in deinen Beutel, Rodrigo!

Kein Lehrplan, und wenn er noch so vernünftig, praktisch und auf ideale
Ziele zugeschnitten wäre, kann etwas wesentliches erreichen, wenn nicht Ver¬
hältnisse geschaffen werden, die seine Durchführung möglich machen. Klagt
man jetzt über den mechanischen Betrieb und die Überbürdung der Schüler, so
pflegt man zu übersehen, daß die Lehrer nicht minder überbürdet sind und zu
einem mechnuischen Betreiben ihres Unterrichts geradezu gezwungen werden.
Die Klassen werden in den großstädtischen Schulen vollgepfropft, soweit sie
sich vollpfropfen lassen — die Schulverwaltung hat ja zunächst das Interesse
um der Wissenschaft, wie viel Schulgelderertrag erzielt wird, und Stadt-
Vertretung wie Landtag sind gleichmäßig befriedigt, wenn der Allgemeinheit
so geringe Lasten wie möglich aufgebürdet werden —; ist da ein indivi¬
dualisierender Unterricht möglich? Vierzig Jungen als Durchschnitt in
«ner Klasse, fünfundvierzig oder höchstens fünfzig Minuten Schulstunde,
wieviel Zeit hat da der Lehrer für den Einzelnen in der Stunde, in
der Woche, im Semester? Es ist ganz unmöglich, daß er zu einem per¬
sönlichen Verhältnis zu jedem einzelnen Schüler kommt, daß er verständnisvoll
den Einzelnen zu fördern vermag; es ist ganz natürlich, daß ihn, die Schüler¬
schaft nur das „Material" ist, das er so gut es geht dem vorgeschriebnen


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[0565] Laiengedanken über Humanismus und humanistische Schule muß sich eben auf Schule und Staat verlassen. Freilich sieht er, daß die Karre doch nicht so zu laufen scheint, wie sie laufen sollte. Er erfährt es, was für Leute mit dein Unterricht seines Jungen betraut sind, er sieht, wie die Jugend unter einem wunderlichen und mechanischen Betrieb überlastet wird und er¬ mattet, statt sich fröhlich zu entwickeln — dann schimpft er wohl über die Schulmeisteret im allgemeinen und über den Staat, der nicht richtig eingreift, sondern in vielen Fallen selbst weiter nichts ist als ein wirklicher geheimer Oberbcmausc. Weiter thut er nichts; er schließt die Augen, legt die Hände gott¬ ergeben in den Schoß und läßt die Sache laufen, wie sie läuft. Was kann er denn thun? Können wir Väter wirklich nichts thun? Ist es nicht unsre Pflicht, uns zusammenzuthun und gegen Zustände Sturm zu laufen, die nachgerade zum Himmel schreien? Ist es nicht unsre erste und höchste Pflicht, unsern Kindern, die die Träger unsers Volkstums werden sollen, die Wege so zu ebnen, daß sie sich fröhlich, frei und gesund entwickeln können, fähig zu selbständigem Handeln, fähig, deu von den Voreltern ererbten geistigen Schatz in sich auf¬ zunehmen und zu mehren? Haben wir nicht städtische Vertretungskörper, Landtag und Reichstag? Können wir nicht vor diesen und durch diese unsre Stimme erheben und das erzwingen, was not thut? Ja, die haben wir freilich. Es ist auch gar keine Frage, daß sie ein offnes Ohr haben würden, denn die Stadtverordneten und die Abgeordneten wissen so gut wie wir, was faul ist; sie sind ja auch Väter und gehören zu uns. Auch die Regierungen werden hinter ihren allbekannten grünen Tischen wohlwollend das Haupt neigen. Sie wissen ja ganz genau, wie es gemacht werden kann. Sie werden das befreiende Wort sprechen, auf das wir mit Spannung harren, sie werden sagen: Thu Geld in deinen Beutel, Rodrigo! Kein Lehrplan, und wenn er noch so vernünftig, praktisch und auf ideale Ziele zugeschnitten wäre, kann etwas wesentliches erreichen, wenn nicht Ver¬ hältnisse geschaffen werden, die seine Durchführung möglich machen. Klagt man jetzt über den mechanischen Betrieb und die Überbürdung der Schüler, so pflegt man zu übersehen, daß die Lehrer nicht minder überbürdet sind und zu einem mechnuischen Betreiben ihres Unterrichts geradezu gezwungen werden. Die Klassen werden in den großstädtischen Schulen vollgepfropft, soweit sie sich vollpfropfen lassen — die Schulverwaltung hat ja zunächst das Interesse um der Wissenschaft, wie viel Schulgelderertrag erzielt wird, und Stadt- Vertretung wie Landtag sind gleichmäßig befriedigt, wenn der Allgemeinheit so geringe Lasten wie möglich aufgebürdet werden —; ist da ein indivi¬ dualisierender Unterricht möglich? Vierzig Jungen als Durchschnitt in «ner Klasse, fünfundvierzig oder höchstens fünfzig Minuten Schulstunde, wieviel Zeit hat da der Lehrer für den Einzelnen in der Stunde, in der Woche, im Semester? Es ist ganz unmöglich, daß er zu einem per¬ sönlichen Verhältnis zu jedem einzelnen Schüler kommt, daß er verständnisvoll den Einzelnen zu fördern vermag; es ist ganz natürlich, daß ihn, die Schüler¬ schaft nur das „Material" ist, das er so gut es geht dem vorgeschriebnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/565>, abgerufen am 22.06.2024.