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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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ernstlich angelegen sein zu lassen scheint, seinen agrarischen Freunden darüber
den Kopf zurechtzusetzen. Dieser ungeheure Vorteil für den landwirtschaftlichen
Osten -- an dein eher noch größer" für den industriellen Westen zweifelt ohnedies
niemand - steht so fest, daß die ganze Zollpolitik nicht daran rühren kann,
und der Finanzminister gar nicht nötig gehabt hätte, die Opponenten durch
die nochmalige Zusage höherer Getreidezölle für die Sache zu erwärmen. Dieser
ungeheure Borten für die ostelbische Landwirtschaft wird zum Segen des ganzen
Baterlands fortdauern, vielleicht erst recht wirksam werden, wenn die Hoch-
schutzzollärn und die ganze heutige wirtschaftspolitische Reaktion längst vor¬
bei sind.

Daß die Staatsregierung mit Recht die von der Opposition ausgespielte
"Kompensationstheorie" grundsätzlich abgelehnt hat, haben wir so sehr aner¬
kannt, daß wir die in der Gesamtvorlage bethätigte Verletzung dieses Grund¬
satzes als bedauerliche Schlväche ansehen mußten. Es ist wirklich Heller Unsinn
zu verlangen, daß in einem Gesetz über die Anlegung eines neuen Verkehrs¬
wegs zugleich "Kompensntioneu" für alle Verschiebungen festgesetzt werden, die
infolge der Anlegung vielleicht da oder dort einzelne Kreise nachteilig berühren
können, und geradezu absurd ist es, deshalb, weil durch die Sache einzelnen
Kreisen Bordelle zuwachsen, für andre, die davon gar nicht berührt, also auch
uicht benachteiligt werden, in demselben Gesetz Geschenke unter dem Namen
von Kompensationen zu fordern. Da muß es heißen: ?rinoixiis obsta! Es
ist klar, daß in Zeiten, wo die ganze Wirtschaftspolitik in ein extrem protek-
tionistisches Fahrwasser geraten ist, der Staatssozialismus einseitig zur Gel¬
tung kommt, sich die Staatsgewalt der Kompensationstheorie und ihren Konse¬
quenzen, auch den absurden, schwer wird entziehn können. Der moderne
Protektionismus, der mit den Schlagworten "Schutz der Schwachen" und
"ausgleichende Gerechtigkeit" arbeitet, hat es nicht so leicht, wie der alte Mer¬
kantilismus, der sich den Teufel um die Schwachen und um die Gerechtigkeit
kümmerte, wenn nur Geld ins Land kam und keins hinaus ging. Das "System
Miquel" hat eigentlich keine Berechtigung, so radikal, wie es der Finanzminister
am 4. Februar that, gegen die Berücksichtigung der Verschiebungen infolge
neuer Verkehrswege, die der Staat anlegt und unterhält, zu protestieren. Nur
in das Gesetz über den Rhein-Elbe- oder Rhein-Weichselkanal gehören diese so¬
genannten Kompensationen unter keinen Umständen hinein. Über die Ma߬
nahmen zur Erhaltung der schlesischen Kohlen- und Eisenindustrie auf dem
Berliner Markt ist schon das nötige gesagt. Vielleicht werden sich später auch
solche im Interesse der Braunkohlenindustrie der Provinz Sachsen als wünschens¬
wert erweisen. Vielleicht auch in Bezug auf die Emshäfen, namentlich Emden,
worüber in den Grenzboten vor zwei Jahren mit eingehender Begründung ein
sehr beruhigender Aufsatz veröffentlicht worden ist. Den Vorwurf, daß der
.Kanal die "Reichen reicher machen" werde, Hütte der Finanzminister nicht so
tragisch zu nehmen brauchen, da er doch auch die Armen weniger arm machen
wird, d. h. alle beide, die rheinische Industrie und die ostelbische Landwirt-


Inr neuen Uanalvorlage

ernstlich angelegen sein zu lassen scheint, seinen agrarischen Freunden darüber
den Kopf zurechtzusetzen. Dieser ungeheure Vorteil für den landwirtschaftlichen
Osten — an dein eher noch größer» für den industriellen Westen zweifelt ohnedies
niemand - steht so fest, daß die ganze Zollpolitik nicht daran rühren kann,
und der Finanzminister gar nicht nötig gehabt hätte, die Opponenten durch
die nochmalige Zusage höherer Getreidezölle für die Sache zu erwärmen. Dieser
ungeheure Borten für die ostelbische Landwirtschaft wird zum Segen des ganzen
Baterlands fortdauern, vielleicht erst recht wirksam werden, wenn die Hoch-
schutzzollärn und die ganze heutige wirtschaftspolitische Reaktion längst vor¬
bei sind.

Daß die Staatsregierung mit Recht die von der Opposition ausgespielte
„Kompensationstheorie" grundsätzlich abgelehnt hat, haben wir so sehr aner¬
kannt, daß wir die in der Gesamtvorlage bethätigte Verletzung dieses Grund¬
satzes als bedauerliche Schlväche ansehen mußten. Es ist wirklich Heller Unsinn
zu verlangen, daß in einem Gesetz über die Anlegung eines neuen Verkehrs¬
wegs zugleich „Kompensntioneu" für alle Verschiebungen festgesetzt werden, die
infolge der Anlegung vielleicht da oder dort einzelne Kreise nachteilig berühren
können, und geradezu absurd ist es, deshalb, weil durch die Sache einzelnen
Kreisen Bordelle zuwachsen, für andre, die davon gar nicht berührt, also auch
uicht benachteiligt werden, in demselben Gesetz Geschenke unter dem Namen
von Kompensationen zu fordern. Da muß es heißen: ?rinoixiis obsta! Es
ist klar, daß in Zeiten, wo die ganze Wirtschaftspolitik in ein extrem protek-
tionistisches Fahrwasser geraten ist, der Staatssozialismus einseitig zur Gel¬
tung kommt, sich die Staatsgewalt der Kompensationstheorie und ihren Konse¬
quenzen, auch den absurden, schwer wird entziehn können. Der moderne
Protektionismus, der mit den Schlagworten „Schutz der Schwachen" und
„ausgleichende Gerechtigkeit" arbeitet, hat es nicht so leicht, wie der alte Mer¬
kantilismus, der sich den Teufel um die Schwachen und um die Gerechtigkeit
kümmerte, wenn nur Geld ins Land kam und keins hinaus ging. Das „System
Miquel" hat eigentlich keine Berechtigung, so radikal, wie es der Finanzminister
am 4. Februar that, gegen die Berücksichtigung der Verschiebungen infolge
neuer Verkehrswege, die der Staat anlegt und unterhält, zu protestieren. Nur
in das Gesetz über den Rhein-Elbe- oder Rhein-Weichselkanal gehören diese so¬
genannten Kompensationen unter keinen Umständen hinein. Über die Ma߬
nahmen zur Erhaltung der schlesischen Kohlen- und Eisenindustrie auf dem
Berliner Markt ist schon das nötige gesagt. Vielleicht werden sich später auch
solche im Interesse der Braunkohlenindustrie der Provinz Sachsen als wünschens¬
wert erweisen. Vielleicht auch in Bezug auf die Emshäfen, namentlich Emden,
worüber in den Grenzboten vor zwei Jahren mit eingehender Begründung ein
sehr beruhigender Aufsatz veröffentlicht worden ist. Den Vorwurf, daß der
.Kanal die „Reichen reicher machen" werde, Hütte der Finanzminister nicht so
tragisch zu nehmen brauchen, da er doch auch die Armen weniger arm machen
wird, d. h. alle beide, die rheinische Industrie und die ostelbische Landwirt-


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[0368] Inr neuen Uanalvorlage ernstlich angelegen sein zu lassen scheint, seinen agrarischen Freunden darüber den Kopf zurechtzusetzen. Dieser ungeheure Vorteil für den landwirtschaftlichen Osten — an dein eher noch größer» für den industriellen Westen zweifelt ohnedies niemand - steht so fest, daß die ganze Zollpolitik nicht daran rühren kann, und der Finanzminister gar nicht nötig gehabt hätte, die Opponenten durch die nochmalige Zusage höherer Getreidezölle für die Sache zu erwärmen. Dieser ungeheure Borten für die ostelbische Landwirtschaft wird zum Segen des ganzen Baterlands fortdauern, vielleicht erst recht wirksam werden, wenn die Hoch- schutzzollärn und die ganze heutige wirtschaftspolitische Reaktion längst vor¬ bei sind. Daß die Staatsregierung mit Recht die von der Opposition ausgespielte „Kompensationstheorie" grundsätzlich abgelehnt hat, haben wir so sehr aner¬ kannt, daß wir die in der Gesamtvorlage bethätigte Verletzung dieses Grund¬ satzes als bedauerliche Schlväche ansehen mußten. Es ist wirklich Heller Unsinn zu verlangen, daß in einem Gesetz über die Anlegung eines neuen Verkehrs¬ wegs zugleich „Kompensntioneu" für alle Verschiebungen festgesetzt werden, die infolge der Anlegung vielleicht da oder dort einzelne Kreise nachteilig berühren können, und geradezu absurd ist es, deshalb, weil durch die Sache einzelnen Kreisen Bordelle zuwachsen, für andre, die davon gar nicht berührt, also auch uicht benachteiligt werden, in demselben Gesetz Geschenke unter dem Namen von Kompensationen zu fordern. Da muß es heißen: ?rinoixiis obsta! Es ist klar, daß in Zeiten, wo die ganze Wirtschaftspolitik in ein extrem protek- tionistisches Fahrwasser geraten ist, der Staatssozialismus einseitig zur Gel¬ tung kommt, sich die Staatsgewalt der Kompensationstheorie und ihren Konse¬ quenzen, auch den absurden, schwer wird entziehn können. Der moderne Protektionismus, der mit den Schlagworten „Schutz der Schwachen" und „ausgleichende Gerechtigkeit" arbeitet, hat es nicht so leicht, wie der alte Mer¬ kantilismus, der sich den Teufel um die Schwachen und um die Gerechtigkeit kümmerte, wenn nur Geld ins Land kam und keins hinaus ging. Das „System Miquel" hat eigentlich keine Berechtigung, so radikal, wie es der Finanzminister am 4. Februar that, gegen die Berücksichtigung der Verschiebungen infolge neuer Verkehrswege, die der Staat anlegt und unterhält, zu protestieren. Nur in das Gesetz über den Rhein-Elbe- oder Rhein-Weichselkanal gehören diese so¬ genannten Kompensationen unter keinen Umständen hinein. Über die Ma߬ nahmen zur Erhaltung der schlesischen Kohlen- und Eisenindustrie auf dem Berliner Markt ist schon das nötige gesagt. Vielleicht werden sich später auch solche im Interesse der Braunkohlenindustrie der Provinz Sachsen als wünschens¬ wert erweisen. Vielleicht auch in Bezug auf die Emshäfen, namentlich Emden, worüber in den Grenzboten vor zwei Jahren mit eingehender Begründung ein sehr beruhigender Aufsatz veröffentlicht worden ist. Den Vorwurf, daß der .Kanal die „Reichen reicher machen" werde, Hütte der Finanzminister nicht so tragisch zu nehmen brauchen, da er doch auch die Armen weniger arm machen wird, d. h. alle beide, die rheinische Industrie und die ostelbische Landwirt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/368>, abgerufen am 29.06.2024.