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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Uarl Schneider

mehr aber noch ohne Zweifel von der treuen, tapfern Mutter, genährt und
gehoben durch den gesellschaftlichen Verkehr in einem Kreise edler, durch echte
Herzensbildung allsgezeichneter, hochgebildeter Frauen.

Neben seinem Schuldieuste half er vielfach im Predigen aus. Das
nötigte ihn wohl oder übel, sich zu eiuer klaren Stellung in deu Fragen des
christlichen Glaubens durchzuringen. Es gelang ihm, zu freudiger Gewißheit
zu kommen. Schneider behandelt diese religiöse Seite seiner Entwicklung
überaus keusch und mit einer vielleicht etwas zu wett gehenden Zurückhaltung.
Man möchte beim Lesen des Buchs über diesen tiefsten Grund der sich ent¬
faltenden Persönlichkeit an manchen Stellen deutlicher" Aufschluß h'aben, wo
sich der Verfasser -- zuweilen nicht ohne eine ans schalkhafte streifende Re¬
serve -- auf ganz leise Andeutungen über die rätselhaften, psychologischen
Vorgänge im Menschenherzen beschränkt. Aber wer möchte ihm daraus einen
Vorwurf machen? Auf diesem zartesten aller Gebiete kann mau mit Worten
nicht vorsichtig genug sein. Es giebt wohl einzelne naive Naturell, die sich
auch über diese Dinge mit einer kindlichen Offenheit breiter aussprechen können,
ohne damit Schaden anzurichten und selbst Schaden zu nehmen. Zu diesen
seltnen naiven Naturen gehört Schneider nicht. Er ist ein Mann der be¬
wußten Reflexion und des auf das als recht erkannte Ziel mit wohl über¬
legter, berechnender Thatkraft hinstrebenden Verstands. Das hindert ihn nicht,
über die Vertiefung seines theologischen Wissens nud Denkens die unentbehr¬
liche, wenn auch knappe Auskunft zu geben. Im November 1850 bestand er
das erste theologische Examen. Sehr charakteristisch ist der Unfug, den die
Examinatoren mit der Abhörung der Prüfungspredigt trieben. Die Prüflinge
wurden, natürlich (!) ohne Gemeinde, der Reihe nach auf die Kanzel geschickt.
Dann rief der Examinator hinauf: "Einleitung," "zweiter Teil," "Schluß,"
oder was er eben hören wollte, und dann wurde der verlangte Abschnitt vor¬
getragen. Nachdem alle sechs Examinanden auf diese Weise "gepredigt" hatten,
empfingen sie in der Sakristei ihr Urteil. "Voran ging die ziemlich selbstver¬
ständliche Bcmerkllng, daß einige nur hergesagt, andre deklamiert Hütten. Dann
gingen die Herrn mit den Einzelnen scharf ins Gericht. Einem sagte der
Konsistorialrat Wachler: Herr B., Sie sind öfter stecken geblieben, ich kann
Ihnen das nicht übel nehmen, denn ein so zusammenhangloses, gedankenarmes
Gewäsch Hütte ich auch nicht erlernt. Der junge Mann erhielt aber die verm
oonvionMÄi und ist auch ein tapfrer Phrasenheld geworden."

Und nun denke man an die zentrale Stellung, die die Predigt des gött¬
lichen Worts in der evangelischen Kirche einnimmt. Kann man sich bei dieser
geradezu frivolen Handhabung der für das Leben unsrer Gemeinden ausschlag¬
gebenden Prüfung der Kandidaten über die schreienden Zustände im evange¬
lischen Gemeindcleben wundern? Schon daß man die Priifungsprcdigt nicht
vor einer Gemeinde halten, daß man einzelne Stücke vor leeren Bänken her¬
sagen läßt, ist eitle Entweihung der Kanzel und der Predigt und macht ein
ernstes Urteil über die Befähigung des Kandidaten zum Predigen ganz un-


Uarl Schneider

mehr aber noch ohne Zweifel von der treuen, tapfern Mutter, genährt und
gehoben durch den gesellschaftlichen Verkehr in einem Kreise edler, durch echte
Herzensbildung allsgezeichneter, hochgebildeter Frauen.

Neben seinem Schuldieuste half er vielfach im Predigen aus. Das
nötigte ihn wohl oder übel, sich zu eiuer klaren Stellung in deu Fragen des
christlichen Glaubens durchzuringen. Es gelang ihm, zu freudiger Gewißheit
zu kommen. Schneider behandelt diese religiöse Seite seiner Entwicklung
überaus keusch und mit einer vielleicht etwas zu wett gehenden Zurückhaltung.
Man möchte beim Lesen des Buchs über diesen tiefsten Grund der sich ent¬
faltenden Persönlichkeit an manchen Stellen deutlicher» Aufschluß h'aben, wo
sich der Verfasser — zuweilen nicht ohne eine ans schalkhafte streifende Re¬
serve — auf ganz leise Andeutungen über die rätselhaften, psychologischen
Vorgänge im Menschenherzen beschränkt. Aber wer möchte ihm daraus einen
Vorwurf machen? Auf diesem zartesten aller Gebiete kann mau mit Worten
nicht vorsichtig genug sein. Es giebt wohl einzelne naive Naturell, die sich
auch über diese Dinge mit einer kindlichen Offenheit breiter aussprechen können,
ohne damit Schaden anzurichten und selbst Schaden zu nehmen. Zu diesen
seltnen naiven Naturen gehört Schneider nicht. Er ist ein Mann der be¬
wußten Reflexion und des auf das als recht erkannte Ziel mit wohl über¬
legter, berechnender Thatkraft hinstrebenden Verstands. Das hindert ihn nicht,
über die Vertiefung seines theologischen Wissens nud Denkens die unentbehr¬
liche, wenn auch knappe Auskunft zu geben. Im November 1850 bestand er
das erste theologische Examen. Sehr charakteristisch ist der Unfug, den die
Examinatoren mit der Abhörung der Prüfungspredigt trieben. Die Prüflinge
wurden, natürlich (!) ohne Gemeinde, der Reihe nach auf die Kanzel geschickt.
Dann rief der Examinator hinauf: „Einleitung," „zweiter Teil," „Schluß,"
oder was er eben hören wollte, und dann wurde der verlangte Abschnitt vor¬
getragen. Nachdem alle sechs Examinanden auf diese Weise „gepredigt" hatten,
empfingen sie in der Sakristei ihr Urteil. „Voran ging die ziemlich selbstver¬
ständliche Bcmerkllng, daß einige nur hergesagt, andre deklamiert Hütten. Dann
gingen die Herrn mit den Einzelnen scharf ins Gericht. Einem sagte der
Konsistorialrat Wachler: Herr B., Sie sind öfter stecken geblieben, ich kann
Ihnen das nicht übel nehmen, denn ein so zusammenhangloses, gedankenarmes
Gewäsch Hütte ich auch nicht erlernt. Der junge Mann erhielt aber die verm
oonvionMÄi und ist auch ein tapfrer Phrasenheld geworden."

Und nun denke man an die zentrale Stellung, die die Predigt des gött¬
lichen Worts in der evangelischen Kirche einnimmt. Kann man sich bei dieser
geradezu frivolen Handhabung der für das Leben unsrer Gemeinden ausschlag¬
gebenden Prüfung der Kandidaten über die schreienden Zustände im evange¬
lischen Gemeindcleben wundern? Schon daß man die Priifungsprcdigt nicht
vor einer Gemeinde halten, daß man einzelne Stücke vor leeren Bänken her¬
sagen läßt, ist eitle Entweihung der Kanzel und der Predigt und macht ein
ernstes Urteil über die Befähigung des Kandidaten zum Predigen ganz un-


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[0032] Uarl Schneider mehr aber noch ohne Zweifel von der treuen, tapfern Mutter, genährt und gehoben durch den gesellschaftlichen Verkehr in einem Kreise edler, durch echte Herzensbildung allsgezeichneter, hochgebildeter Frauen. Neben seinem Schuldieuste half er vielfach im Predigen aus. Das nötigte ihn wohl oder übel, sich zu eiuer klaren Stellung in deu Fragen des christlichen Glaubens durchzuringen. Es gelang ihm, zu freudiger Gewißheit zu kommen. Schneider behandelt diese religiöse Seite seiner Entwicklung überaus keusch und mit einer vielleicht etwas zu wett gehenden Zurückhaltung. Man möchte beim Lesen des Buchs über diesen tiefsten Grund der sich ent¬ faltenden Persönlichkeit an manchen Stellen deutlicher» Aufschluß h'aben, wo sich der Verfasser — zuweilen nicht ohne eine ans schalkhafte streifende Re¬ serve — auf ganz leise Andeutungen über die rätselhaften, psychologischen Vorgänge im Menschenherzen beschränkt. Aber wer möchte ihm daraus einen Vorwurf machen? Auf diesem zartesten aller Gebiete kann mau mit Worten nicht vorsichtig genug sein. Es giebt wohl einzelne naive Naturell, die sich auch über diese Dinge mit einer kindlichen Offenheit breiter aussprechen können, ohne damit Schaden anzurichten und selbst Schaden zu nehmen. Zu diesen seltnen naiven Naturen gehört Schneider nicht. Er ist ein Mann der be¬ wußten Reflexion und des auf das als recht erkannte Ziel mit wohl über¬ legter, berechnender Thatkraft hinstrebenden Verstands. Das hindert ihn nicht, über die Vertiefung seines theologischen Wissens nud Denkens die unentbehr¬ liche, wenn auch knappe Auskunft zu geben. Im November 1850 bestand er das erste theologische Examen. Sehr charakteristisch ist der Unfug, den die Examinatoren mit der Abhörung der Prüfungspredigt trieben. Die Prüflinge wurden, natürlich (!) ohne Gemeinde, der Reihe nach auf die Kanzel geschickt. Dann rief der Examinator hinauf: „Einleitung," „zweiter Teil," „Schluß," oder was er eben hören wollte, und dann wurde der verlangte Abschnitt vor¬ getragen. Nachdem alle sechs Examinanden auf diese Weise „gepredigt" hatten, empfingen sie in der Sakristei ihr Urteil. „Voran ging die ziemlich selbstver¬ ständliche Bcmerkllng, daß einige nur hergesagt, andre deklamiert Hütten. Dann gingen die Herrn mit den Einzelnen scharf ins Gericht. Einem sagte der Konsistorialrat Wachler: Herr B., Sie sind öfter stecken geblieben, ich kann Ihnen das nicht übel nehmen, denn ein so zusammenhangloses, gedankenarmes Gewäsch Hütte ich auch nicht erlernt. Der junge Mann erhielt aber die verm oonvionMÄi und ist auch ein tapfrer Phrasenheld geworden." Und nun denke man an die zentrale Stellung, die die Predigt des gött¬ lichen Worts in der evangelischen Kirche einnimmt. Kann man sich bei dieser geradezu frivolen Handhabung der für das Leben unsrer Gemeinden ausschlag¬ gebenden Prüfung der Kandidaten über die schreienden Zustände im evange¬ lischen Gemeindcleben wundern? Schon daß man die Priifungsprcdigt nicht vor einer Gemeinde halten, daß man einzelne Stücke vor leeren Bänken her¬ sagen läßt, ist eitle Entweihung der Kanzel und der Predigt und macht ein ernstes Urteil über die Befähigung des Kandidaten zum Predigen ganz un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/32>, abgerufen am 02.10.2024.