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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Aarl Schneider

anekdotenhaft, aber frisch und lvahrhaftig erzählten Zügen. Schneider bemerkt,
daß er mit ganz unzureichenden Vorkenntnissen zur Universität gekommen sei.
Wem Ware es nicht ähnlich ergangen? Es kommt auch wirklich viel weniger
auf die positiven Norkenntnisse an, als auf ein gewisses Maß geistiger und
sittlicher Reife. Schneider treibt auch mit seiner Reife oder Unreife keine
Schönfärberei. Die meisten Reifezeugnisse müßten ja, streng genommen, Un-
reifezeugnisse sein. Nur selten, sehr selten sind die Examinatoren bei der Reife¬
prüfung wirklich in der Lage, ein tiefer begründetes Urteil über die Reife der
von ihnen geprüften Abiturienten zu haben. Namentlich über deren Charakter¬
reife wissen sie meistens wenig. Glücklicherweise hilft das Leben hier in vielen
Füllen von selbst ausreifend nach. Es macht einen guten Eindruck, daß
Schneider sich darauf beschränkt, zu bemerken, daß er dem selbstgewählten
Studium der Theologie den Drang seines Herzens entgegenbrachte. Dieser
Drang hatte, wie bei so vielen aus jener Zeit und wohl auch heute noch,
seine typische Vorgeschichte. Ein Mitschüler hatte auf Grund des Konfirmanden-
Unterrichts den Zweifel in seiner Brust angeregt. Der Diakonus hatte erklärt,
Christus sei nicht Gottes Sohn, ein Gott könne nicht Vorbild für Menschen
sein. Diese Gedanken -- wer hätte in der Jugend nicht damit zu thun ge¬
habt? -- arbeiteten in der Seele des Jünglings weiter, und da sie weder auf
dem Gymnasium noch im Hause eine klare Lösung fanden, so erwartete der
junge Mulus die Antwort auf die ihn bewegenden Zweifelsfragen von der
Universität. In der andächtigsten Stimmung, mit den heiligsten Vorsätzen und
wenn auch nicht mit gefalteten Händen, so doch innig betend fuhr er in
Breslau ein.

Außerordentlich anschaulich schildert er den Lehrkörper der damaligen
theologischen Fakultät. Seine Charakteristik der Professoren David Schultz,
Middeldorpff, Oester, Gaupp, Wilhelm Böhme, Suckow, Rüdiger und Rhode
wird auch heute noch bei den wissenschaftlichen Theologen Zustimmung finden.
Nur den Generalsuperintendenten Professor Dr. Angust Hahn scheint er ein
wenig zu unterschätzen.

Sehr hübsch wird mit kurzen Worten das bewegte kirchliche Leben der
Zeit geschildert. Ju Köthen tagten die Lichtfreunde. Uhlich. Wislieenus und
Baltzer erregten die Massen. Die Streitschriften von Wislieenns in Halle
"Ob Schrift, ob Geist?" und von dem ganz oberflächlichen, aber unglaublich
rücksichtslosen Superintendenten König in Anderbeck "Herr Hengstenberg"
gingen von Hand zu Hand. In diese Unrnhe mitten hinein fiel Johannes
Rvnges offner Brief an den Bischof Arnoldi von Trier, Czerskis Auftreten
in Schneidemühl und die ganze deutschkatholische und freigeineindlerische Be¬
wegung. "Das Dogma, sagt Schneider, daß konservative Gesinnung mit
religiösem Freisinn und Liberalismus mit kirchlich positiver Richtung unver¬
einbar sei, war noch nicht erfunden," wohl aber vollzog sich sehr bald eine
Scheidung zwischen den liberalen und radikalen Gruppen, und diese Scheidung
ging bis in die Studentenschaft hinein. Schneiders Schweidmtzer Kommilitonen


Aarl Schneider

anekdotenhaft, aber frisch und lvahrhaftig erzählten Zügen. Schneider bemerkt,
daß er mit ganz unzureichenden Vorkenntnissen zur Universität gekommen sei.
Wem Ware es nicht ähnlich ergangen? Es kommt auch wirklich viel weniger
auf die positiven Norkenntnisse an, als auf ein gewisses Maß geistiger und
sittlicher Reife. Schneider treibt auch mit seiner Reife oder Unreife keine
Schönfärberei. Die meisten Reifezeugnisse müßten ja, streng genommen, Un-
reifezeugnisse sein. Nur selten, sehr selten sind die Examinatoren bei der Reife¬
prüfung wirklich in der Lage, ein tiefer begründetes Urteil über die Reife der
von ihnen geprüften Abiturienten zu haben. Namentlich über deren Charakter¬
reife wissen sie meistens wenig. Glücklicherweise hilft das Leben hier in vielen
Füllen von selbst ausreifend nach. Es macht einen guten Eindruck, daß
Schneider sich darauf beschränkt, zu bemerken, daß er dem selbstgewählten
Studium der Theologie den Drang seines Herzens entgegenbrachte. Dieser
Drang hatte, wie bei so vielen aus jener Zeit und wohl auch heute noch,
seine typische Vorgeschichte. Ein Mitschüler hatte auf Grund des Konfirmanden-
Unterrichts den Zweifel in seiner Brust angeregt. Der Diakonus hatte erklärt,
Christus sei nicht Gottes Sohn, ein Gott könne nicht Vorbild für Menschen
sein. Diese Gedanken — wer hätte in der Jugend nicht damit zu thun ge¬
habt? — arbeiteten in der Seele des Jünglings weiter, und da sie weder auf
dem Gymnasium noch im Hause eine klare Lösung fanden, so erwartete der
junge Mulus die Antwort auf die ihn bewegenden Zweifelsfragen von der
Universität. In der andächtigsten Stimmung, mit den heiligsten Vorsätzen und
wenn auch nicht mit gefalteten Händen, so doch innig betend fuhr er in
Breslau ein.

Außerordentlich anschaulich schildert er den Lehrkörper der damaligen
theologischen Fakultät. Seine Charakteristik der Professoren David Schultz,
Middeldorpff, Oester, Gaupp, Wilhelm Böhme, Suckow, Rüdiger und Rhode
wird auch heute noch bei den wissenschaftlichen Theologen Zustimmung finden.
Nur den Generalsuperintendenten Professor Dr. Angust Hahn scheint er ein
wenig zu unterschätzen.

Sehr hübsch wird mit kurzen Worten das bewegte kirchliche Leben der
Zeit geschildert. Ju Köthen tagten die Lichtfreunde. Uhlich. Wislieenus und
Baltzer erregten die Massen. Die Streitschriften von Wislieenns in Halle
„Ob Schrift, ob Geist?" und von dem ganz oberflächlichen, aber unglaublich
rücksichtslosen Superintendenten König in Anderbeck „Herr Hengstenberg"
gingen von Hand zu Hand. In diese Unrnhe mitten hinein fiel Johannes
Rvnges offner Brief an den Bischof Arnoldi von Trier, Czerskis Auftreten
in Schneidemühl und die ganze deutschkatholische und freigeineindlerische Be¬
wegung. „Das Dogma, sagt Schneider, daß konservative Gesinnung mit
religiösem Freisinn und Liberalismus mit kirchlich positiver Richtung unver¬
einbar sei, war noch nicht erfunden," wohl aber vollzog sich sehr bald eine
Scheidung zwischen den liberalen und radikalen Gruppen, und diese Scheidung
ging bis in die Studentenschaft hinein. Schneiders Schweidmtzer Kommilitonen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/30>, abgerufen am 02.10.2024.