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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Der kaiserliche Schulcrlaß und die Aussichten des humanistischen Gymnasiums

Praktischen Rücksichten nichts mehr zu thun, da es sich um die englische
Sprache handelt, nicht um die englische Litteratur, deren wichtigste Erzeug-
nisse durch gute Übersetzungeii leicht allgemein zugänglich sind oder gemacht
werdem Bestimmt wird im einzelnen folgendes. Eine schou bisher an einigen
wenigen preußischen Gymnasien in kleinen Städten, wo es keine Realschulen
giebt, bestehende Einrichtung wird dahin erweitert, daß überall, wo es nötig
erscheint, ein "Ersatznntcrricht" im Englischen neben dem Griechischen "gestattet,"
"icht etwa eingeführt werden soll. Es sollen also solche Schüler, die nicht
die Reifeprüfung bestehn "vollen, vom Griechischen dispensiert und statt dessen
im Englischen bis Untersekunda unterrichtet werden dürfen, ohne Anwartschaft
auf ein weiteres Aufrücken. Der Betrieb des Griechischen wird dadurch so
wenig benachteiligt, daß er im Gegenteil von ungeeigneten Elementen der
Schülerschaft befreit und dadurch für die andern um so fruchtbarer gemacht
werden kann. Auch gegen die zweite Bestimmung läßt sich nichts Stichhaltiges
einwenden, wenn man einmal den Nützlichkeitsstandpunkt einnehmen null, um
so mehr aber gegen den dritten. Denn so nahe als Ziel des nensprachlichen
Unterrichts "Gewandtheit im Sprechen" zu liege" scheint, so sehr muß doch
betont werden, daß diese Gewandtheit durch einen Schulunterricht überhaupt
nicht erreicht werden kaun, weil weder die dafür nötige Zeit übrig bleibt,
wenn die Lektüre nicht ganz in den Hintergrund gedrängt werden soll, noch
dem einzelnen Schüler die erforderliche Aufmerksamkeit gewidmet werden kann.
Wer diese Sprechfertigkeit im Leben braucht, der mag sie sich durch Privat¬
unterricht oder am beseelt durch einen Aufenthalt in den, fremden Lande an¬
eignen, wie es längst geschieht; ein allgemeines Bildungsbedürfnis ist sie nicht,
und die Aufgabe der Schule kann nur sein, den Schülern die Grundlagen zu
geben, die sie befähigen, sie sich z" erwerben.

Für die sogenannten Realien, Geographie, Naturwissenschaft, Physik
und Chemie giebt der Erlaß mir einige allgemeine Anregungen über die
Behandlung dieser Fächer, bestimmt aber keine neuen Ziele. Es soll also
auch an dein humanistischen Gymnasium der Zukunft das bleiben, was man
sich gewöhnt hat, "Utraquismns" zu nenne", d. h. die Verbindung von Ele¬
menten der Geisteslvissenschaften und der Naturwissenschaften, der historisch-
philologischen und der mathematisch-nnturlvissenschaftlichen Fächer zu einem
Ganzen, sodaß beide Gruppen die gleiche Wichtigkeit haben, also auch dieselben
Ansprüche an die Arbeit der Schüler erheben können, und ein wesentlicher
Defekt des Wissens in einem "Hauptsach" beider Gattungen die Versetzung,
schließlich die Erteilung des Reifezeugnisses verhindert. Es heißt zwar in
bem Erlaß: "Die Direktoren werden in verstärktem Maße darauf zu achten
haben, daß nicht für alle Unterrichtsfächer gleich hohe Arbeitsforderungen ge¬
sollt, sondern die wichtigste" unter ihnen nach der Eigenart der verschiednen
Anstalten in de" Vordergrund gerückt und vertieft werden," aber bestimmte
Borschriften sind nicht gegeben, und sie würden mich nichts helfen, so lange
die Unterrichtsziele dieselben bleiben wie bisher. Soll das wirklich der Fall


Der kaiserliche Schulcrlaß und die Aussichten des humanistischen Gymnasiums

Praktischen Rücksichten nichts mehr zu thun, da es sich um die englische
Sprache handelt, nicht um die englische Litteratur, deren wichtigste Erzeug-
nisse durch gute Übersetzungeii leicht allgemein zugänglich sind oder gemacht
werdem Bestimmt wird im einzelnen folgendes. Eine schou bisher an einigen
wenigen preußischen Gymnasien in kleinen Städten, wo es keine Realschulen
giebt, bestehende Einrichtung wird dahin erweitert, daß überall, wo es nötig
erscheint, ein „Ersatznntcrricht" im Englischen neben dem Griechischen „gestattet,"
»icht etwa eingeführt werden soll. Es sollen also solche Schüler, die nicht
die Reifeprüfung bestehn »vollen, vom Griechischen dispensiert und statt dessen
im Englischen bis Untersekunda unterrichtet werden dürfen, ohne Anwartschaft
auf ein weiteres Aufrücken. Der Betrieb des Griechischen wird dadurch so
wenig benachteiligt, daß er im Gegenteil von ungeeigneten Elementen der
Schülerschaft befreit und dadurch für die andern um so fruchtbarer gemacht
werden kann. Auch gegen die zweite Bestimmung läßt sich nichts Stichhaltiges
einwenden, wenn man einmal den Nützlichkeitsstandpunkt einnehmen null, um
so mehr aber gegen den dritten. Denn so nahe als Ziel des nensprachlichen
Unterrichts „Gewandtheit im Sprechen" zu liege» scheint, so sehr muß doch
betont werden, daß diese Gewandtheit durch einen Schulunterricht überhaupt
nicht erreicht werden kaun, weil weder die dafür nötige Zeit übrig bleibt,
wenn die Lektüre nicht ganz in den Hintergrund gedrängt werden soll, noch
dem einzelnen Schüler die erforderliche Aufmerksamkeit gewidmet werden kann.
Wer diese Sprechfertigkeit im Leben braucht, der mag sie sich durch Privat¬
unterricht oder am beseelt durch einen Aufenthalt in den, fremden Lande an¬
eignen, wie es längst geschieht; ein allgemeines Bildungsbedürfnis ist sie nicht,
und die Aufgabe der Schule kann nur sein, den Schülern die Grundlagen zu
geben, die sie befähigen, sie sich z» erwerben.

Für die sogenannten Realien, Geographie, Naturwissenschaft, Physik
und Chemie giebt der Erlaß mir einige allgemeine Anregungen über die
Behandlung dieser Fächer, bestimmt aber keine neuen Ziele. Es soll also
auch an dein humanistischen Gymnasium der Zukunft das bleiben, was man
sich gewöhnt hat, „Utraquismns" zu nenne», d. h. die Verbindung von Ele¬
menten der Geisteslvissenschaften und der Naturwissenschaften, der historisch-
philologischen und der mathematisch-nnturlvissenschaftlichen Fächer zu einem
Ganzen, sodaß beide Gruppen die gleiche Wichtigkeit haben, also auch dieselben
Ansprüche an die Arbeit der Schüler erheben können, und ein wesentlicher
Defekt des Wissens in einem „Hauptsach" beider Gattungen die Versetzung,
schließlich die Erteilung des Reifezeugnisses verhindert. Es heißt zwar in
bem Erlaß: „Die Direktoren werden in verstärktem Maße darauf zu achten
haben, daß nicht für alle Unterrichtsfächer gleich hohe Arbeitsforderungen ge¬
sollt, sondern die wichtigste» unter ihnen nach der Eigenart der verschiednen
Anstalten in de» Vordergrund gerückt und vertieft werden," aber bestimmte
Borschriften sind nicht gegeben, und sie würden mich nichts helfen, so lange
die Unterrichtsziele dieselben bleiben wie bisher. Soll das wirklich der Fall


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[0167] Der kaiserliche Schulcrlaß und die Aussichten des humanistischen Gymnasiums Praktischen Rücksichten nichts mehr zu thun, da es sich um die englische Sprache handelt, nicht um die englische Litteratur, deren wichtigste Erzeug- nisse durch gute Übersetzungeii leicht allgemein zugänglich sind oder gemacht werdem Bestimmt wird im einzelnen folgendes. Eine schou bisher an einigen wenigen preußischen Gymnasien in kleinen Städten, wo es keine Realschulen giebt, bestehende Einrichtung wird dahin erweitert, daß überall, wo es nötig erscheint, ein „Ersatznntcrricht" im Englischen neben dem Griechischen „gestattet," »icht etwa eingeführt werden soll. Es sollen also solche Schüler, die nicht die Reifeprüfung bestehn »vollen, vom Griechischen dispensiert und statt dessen im Englischen bis Untersekunda unterrichtet werden dürfen, ohne Anwartschaft auf ein weiteres Aufrücken. Der Betrieb des Griechischen wird dadurch so wenig benachteiligt, daß er im Gegenteil von ungeeigneten Elementen der Schülerschaft befreit und dadurch für die andern um so fruchtbarer gemacht werden kann. Auch gegen die zweite Bestimmung läßt sich nichts Stichhaltiges einwenden, wenn man einmal den Nützlichkeitsstandpunkt einnehmen null, um so mehr aber gegen den dritten. Denn so nahe als Ziel des nensprachlichen Unterrichts „Gewandtheit im Sprechen" zu liege» scheint, so sehr muß doch betont werden, daß diese Gewandtheit durch einen Schulunterricht überhaupt nicht erreicht werden kaun, weil weder die dafür nötige Zeit übrig bleibt, wenn die Lektüre nicht ganz in den Hintergrund gedrängt werden soll, noch dem einzelnen Schüler die erforderliche Aufmerksamkeit gewidmet werden kann. Wer diese Sprechfertigkeit im Leben braucht, der mag sie sich durch Privat¬ unterricht oder am beseelt durch einen Aufenthalt in den, fremden Lande an¬ eignen, wie es längst geschieht; ein allgemeines Bildungsbedürfnis ist sie nicht, und die Aufgabe der Schule kann nur sein, den Schülern die Grundlagen zu geben, die sie befähigen, sie sich z» erwerben. Für die sogenannten Realien, Geographie, Naturwissenschaft, Physik und Chemie giebt der Erlaß mir einige allgemeine Anregungen über die Behandlung dieser Fächer, bestimmt aber keine neuen Ziele. Es soll also auch an dein humanistischen Gymnasium der Zukunft das bleiben, was man sich gewöhnt hat, „Utraquismns" zu nenne», d. h. die Verbindung von Ele¬ menten der Geisteslvissenschaften und der Naturwissenschaften, der historisch- philologischen und der mathematisch-nnturlvissenschaftlichen Fächer zu einem Ganzen, sodaß beide Gruppen die gleiche Wichtigkeit haben, also auch dieselben Ansprüche an die Arbeit der Schüler erheben können, und ein wesentlicher Defekt des Wissens in einem „Hauptsach" beider Gattungen die Versetzung, schließlich die Erteilung des Reifezeugnisses verhindert. Es heißt zwar in bem Erlaß: „Die Direktoren werden in verstärktem Maße darauf zu achten haben, daß nicht für alle Unterrichtsfächer gleich hohe Arbeitsforderungen ge¬ sollt, sondern die wichtigste» unter ihnen nach der Eigenart der verschiednen Anstalten in de» Vordergrund gerückt und vertieft werden," aber bestimmte Borschriften sind nicht gegeben, und sie würden mich nichts helfen, so lange die Unterrichtsziele dieselben bleiben wie bisher. Soll das wirklich der Fall

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/167>, abgerufen am 02.10.2024.