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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Herbsttage in der Lisel

Jugend, soweit sie noch nicht in die weite Welt hinausgelangt ist, hat keine
Kirsche oder Birne am Baume gesehen. Hinter der Dorfgemarkung liegt auf
weite Strecken hin Ödland, das aber nach und nach durch Anlage von Fichten¬
kulturen nutzbar gemacht wird. Ungefähr dort, wo die Schleidener Landstraße
mit der Chaussee Gemünd-Montjoie zusammentrifft, beginnt dann ein zu¬
sammenhängender, sehr ausgedehnter Forst. Eine der Förstereien hat neuer¬
dings eine Postfiliale erhalten, Wohl mit Rücksicht auf die schnellere Beförde¬
rung der Krammetsvögel, die hier oben in großen Mengen gefangen werden.
Ich hörte von einzelnen Förstern, die während der Zugzeit täglich 4000
Schlingen nachzusehen und in stand zu halten haben.

Daß der Winter hier oben mit besondrer Strenge auftritt, versteht sich
von selbst. Die Post wird von Anfang Dezember bis in den April auf Schlitten
befördert, und auch denn sehen sich die Postillone noch mitunter genötigt, den
Postkasten im Walde stehn zu lassen, Briefsack und Pakete auf die Pferde zu
laden und sich zu Fuß einen Weg durch den oft meterhohen Schnee zu suchen.
Die Gefahr, im Schnee stecken zu bleiben, und die Verantwortlichkeit für Post¬
gut und Pferde werde" von den armen Leuten als eine drückende Last em
Pfunden, und man versteht, daß sie alljährlich dem Winter mit Schrecken ent¬
gegensehen.

Endlich hatten wir den Ausgang des Waldes und damit das Dorf Höven
erreicht. Von der laugen Fahrt durch die Herbstnacht trotz Mantel und Pferde¬
decke ziemlich erstarrt, trat ich, um mich zu wärmen, in die niedrige, stark über¬
heizte Bauernstube, die als Wvhugemnch und Postbureau dient. Der alte
PostHalter, ein pfiffig aussehender Bauer, saß, die lange Pfeife im Munde,
am Schreibtisch und klebte Freimarken ans Briefe, die er offenbar auch wieder
mit dem Portobetrag in barer Münze erhalten hatte; neben ihm lag in einem
Lehnstuhle, mit einer Stickerei beschäftigt, ein kränklich aussehendes, hübsches
Mädchen, das, wie ich nachher hörte, eine lange Leidenszeit in Kliniken durch¬
gemacht hatte; ein Knecht spaltete Holz, und eine taube Magd butterte. Trotz
der räumlichen Beschränkung schien hier ein gewisser Wohlstand zu herrschen.
An der Wand gewahrte ich ein Medaillonportrüt Stephans, und in einer Ecke
des Zimmers stand ein Lefaucheux-Gewehr von schöner Arbeit. Trotz der etwas
einsilbigen Ausdrucksweise dieser Leute wurden Postillon und Passagier mit
einer gewissen Herzlichkeit empfangen und nach Landessitte mit Wacholder¬
schnaps bewirtet, wobei man sich dem Fremden gegenüber entschuldigte, daß
mau ihm in diesem armen Lande keinen Wein vorsetzen könne.

Wir hatten uns in der Hövener Postagentur länger aufgehalten, als die
Dienstvorschrift es dem guten Schwager erlaubte. Die Verlorne Zeit mußte
durch schnellere Fahrt wieder eingebracht werden, und so ging es denn im
schärfsten Trabe ins Nurthal abwärts. Es war eine lustige Fahrt, bei der
das Sattelpferd unausgesetzt strauchelte. Als wir gerade unten in der Schlucht
die Dächer von Montjoie im Mondschein schimmern sahen, empfingen wir
wieder den Bestich eines Gendnrms, der, weniger schweigsam als sein Kollege


Herbsttage in der Lisel

Jugend, soweit sie noch nicht in die weite Welt hinausgelangt ist, hat keine
Kirsche oder Birne am Baume gesehen. Hinter der Dorfgemarkung liegt auf
weite Strecken hin Ödland, das aber nach und nach durch Anlage von Fichten¬
kulturen nutzbar gemacht wird. Ungefähr dort, wo die Schleidener Landstraße
mit der Chaussee Gemünd-Montjoie zusammentrifft, beginnt dann ein zu¬
sammenhängender, sehr ausgedehnter Forst. Eine der Förstereien hat neuer¬
dings eine Postfiliale erhalten, Wohl mit Rücksicht auf die schnellere Beförde¬
rung der Krammetsvögel, die hier oben in großen Mengen gefangen werden.
Ich hörte von einzelnen Förstern, die während der Zugzeit täglich 4000
Schlingen nachzusehen und in stand zu halten haben.

Daß der Winter hier oben mit besondrer Strenge auftritt, versteht sich
von selbst. Die Post wird von Anfang Dezember bis in den April auf Schlitten
befördert, und auch denn sehen sich die Postillone noch mitunter genötigt, den
Postkasten im Walde stehn zu lassen, Briefsack und Pakete auf die Pferde zu
laden und sich zu Fuß einen Weg durch den oft meterhohen Schnee zu suchen.
Die Gefahr, im Schnee stecken zu bleiben, und die Verantwortlichkeit für Post¬
gut und Pferde werde» von den armen Leuten als eine drückende Last em
Pfunden, und man versteht, daß sie alljährlich dem Winter mit Schrecken ent¬
gegensehen.

Endlich hatten wir den Ausgang des Waldes und damit das Dorf Höven
erreicht. Von der laugen Fahrt durch die Herbstnacht trotz Mantel und Pferde¬
decke ziemlich erstarrt, trat ich, um mich zu wärmen, in die niedrige, stark über¬
heizte Bauernstube, die als Wvhugemnch und Postbureau dient. Der alte
PostHalter, ein pfiffig aussehender Bauer, saß, die lange Pfeife im Munde,
am Schreibtisch und klebte Freimarken ans Briefe, die er offenbar auch wieder
mit dem Portobetrag in barer Münze erhalten hatte; neben ihm lag in einem
Lehnstuhle, mit einer Stickerei beschäftigt, ein kränklich aussehendes, hübsches
Mädchen, das, wie ich nachher hörte, eine lange Leidenszeit in Kliniken durch¬
gemacht hatte; ein Knecht spaltete Holz, und eine taube Magd butterte. Trotz
der räumlichen Beschränkung schien hier ein gewisser Wohlstand zu herrschen.
An der Wand gewahrte ich ein Medaillonportrüt Stephans, und in einer Ecke
des Zimmers stand ein Lefaucheux-Gewehr von schöner Arbeit. Trotz der etwas
einsilbigen Ausdrucksweise dieser Leute wurden Postillon und Passagier mit
einer gewissen Herzlichkeit empfangen und nach Landessitte mit Wacholder¬
schnaps bewirtet, wobei man sich dem Fremden gegenüber entschuldigte, daß
mau ihm in diesem armen Lande keinen Wein vorsetzen könne.

Wir hatten uns in der Hövener Postagentur länger aufgehalten, als die
Dienstvorschrift es dem guten Schwager erlaubte. Die Verlorne Zeit mußte
durch schnellere Fahrt wieder eingebracht werden, und so ging es denn im
schärfsten Trabe ins Nurthal abwärts. Es war eine lustige Fahrt, bei der
das Sattelpferd unausgesetzt strauchelte. Als wir gerade unten in der Schlucht
die Dächer von Montjoie im Mondschein schimmern sahen, empfingen wir
wieder den Bestich eines Gendnrms, der, weniger schweigsam als sein Kollege


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[0141] Herbsttage in der Lisel Jugend, soweit sie noch nicht in die weite Welt hinausgelangt ist, hat keine Kirsche oder Birne am Baume gesehen. Hinter der Dorfgemarkung liegt auf weite Strecken hin Ödland, das aber nach und nach durch Anlage von Fichten¬ kulturen nutzbar gemacht wird. Ungefähr dort, wo die Schleidener Landstraße mit der Chaussee Gemünd-Montjoie zusammentrifft, beginnt dann ein zu¬ sammenhängender, sehr ausgedehnter Forst. Eine der Förstereien hat neuer¬ dings eine Postfiliale erhalten, Wohl mit Rücksicht auf die schnellere Beförde¬ rung der Krammetsvögel, die hier oben in großen Mengen gefangen werden. Ich hörte von einzelnen Förstern, die während der Zugzeit täglich 4000 Schlingen nachzusehen und in stand zu halten haben. Daß der Winter hier oben mit besondrer Strenge auftritt, versteht sich von selbst. Die Post wird von Anfang Dezember bis in den April auf Schlitten befördert, und auch denn sehen sich die Postillone noch mitunter genötigt, den Postkasten im Walde stehn zu lassen, Briefsack und Pakete auf die Pferde zu laden und sich zu Fuß einen Weg durch den oft meterhohen Schnee zu suchen. Die Gefahr, im Schnee stecken zu bleiben, und die Verantwortlichkeit für Post¬ gut und Pferde werde» von den armen Leuten als eine drückende Last em Pfunden, und man versteht, daß sie alljährlich dem Winter mit Schrecken ent¬ gegensehen. Endlich hatten wir den Ausgang des Waldes und damit das Dorf Höven erreicht. Von der laugen Fahrt durch die Herbstnacht trotz Mantel und Pferde¬ decke ziemlich erstarrt, trat ich, um mich zu wärmen, in die niedrige, stark über¬ heizte Bauernstube, die als Wvhugemnch und Postbureau dient. Der alte PostHalter, ein pfiffig aussehender Bauer, saß, die lange Pfeife im Munde, am Schreibtisch und klebte Freimarken ans Briefe, die er offenbar auch wieder mit dem Portobetrag in barer Münze erhalten hatte; neben ihm lag in einem Lehnstuhle, mit einer Stickerei beschäftigt, ein kränklich aussehendes, hübsches Mädchen, das, wie ich nachher hörte, eine lange Leidenszeit in Kliniken durch¬ gemacht hatte; ein Knecht spaltete Holz, und eine taube Magd butterte. Trotz der räumlichen Beschränkung schien hier ein gewisser Wohlstand zu herrschen. An der Wand gewahrte ich ein Medaillonportrüt Stephans, und in einer Ecke des Zimmers stand ein Lefaucheux-Gewehr von schöner Arbeit. Trotz der etwas einsilbigen Ausdrucksweise dieser Leute wurden Postillon und Passagier mit einer gewissen Herzlichkeit empfangen und nach Landessitte mit Wacholder¬ schnaps bewirtet, wobei man sich dem Fremden gegenüber entschuldigte, daß mau ihm in diesem armen Lande keinen Wein vorsetzen könne. Wir hatten uns in der Hövener Postagentur länger aufgehalten, als die Dienstvorschrift es dem guten Schwager erlaubte. Die Verlorne Zeit mußte durch schnellere Fahrt wieder eingebracht werden, und so ging es denn im schärfsten Trabe ins Nurthal abwärts. Es war eine lustige Fahrt, bei der das Sattelpferd unausgesetzt strauchelte. Als wir gerade unten in der Schlucht die Dächer von Montjoie im Mondschein schimmern sahen, empfingen wir wieder den Bestich eines Gendnrms, der, weniger schweigsam als sein Kollege

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/141>, abgerufen am 25.07.2024.