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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Die Fürsorge für die Arbeiterjugend

Erfahrne zu Unerfahrnen, zur Fürsorge Befähigte zu ihrer Bedürftigen, Gebildete
zu Ungebildeten, Starke zu Schwachen bringen. Gewiß giebt es "viele,
Männer und Frauen," die sich in den Vereinsdienst stellen können, aber gerade
die große Masse derer, die in ihrem eignen persönlichen Lebenskreis mit jungen
Leuten zu thun haben, für sie sorgen können und deshalb auch für sie sorgen
sollen, ist nicht in der Lage, Vereinsdienste zu übernehmen. Gerade sie
müssen in der Pflichterfüllung erhalten und zu ihr zurückgeführt, nicht aber
dazu verleitet werdeu, sich im besten Falle vielleicht mit einen: Geldbetrag an
den Fürsorgeverein abzufinden, sich aber ihrer persönlichen Fürsorgepflicht
gänzlich zu entschlagen.

Es kann den eingerissenen und immer weiter einreißenden Irrtümern
gegenüber gar nicht nachdrücklich und oft genug darauf hingewiesen werden,
daß unsre Groß- und Mittelindustriellen sich viel, sehr viel weniger um ihre
jungen Arbeiter kümmern, als es die "modernen Verhältnisse" auch in den Gro߬
städten ihnen erlauben, und als es auch heute noch, ja gerade heute erst recht
als ihre Pflicht anerkannt werden muß. Es ist einfach eine Lüge, daß jede wirk¬
same persönliche Fürsorge in den Großbetrieben ausgeschlossen sei. Die wenigen
Beispiele wirklich wohlwollender Fabrikherren beweisen das hinreichend. Es
fehlt aber jeder gute Wille bei der Masse der Chefs und deshalb auch bei
ihren Angestellten, Werkmeistern usw., die ihre berufnen Helfer sein sollten in
der Fürsorge für die jungen Leute. Die moderne Gesetzgebung und ihre Aus¬
führung hat freilich manches gethan, was den Fabrikanten mildernde Umstünde
verschafft. Ans dem Widerwillen und dem vorläufig vielfach zu erwartenden
Undank der jungen Arbeiter sind solche dagegen im allgemeinen nicht zu folgern.
Die Verwahrlosung wird nicht besser dadurch, daß man sie anerkennt, und uoch
weniger findet man sich dadurch mit der Pflicht ab, sie zu bekämpfen. Im
Kleingewerbe, das ist so bezeichnend, ists durchaus nicht besser bestellt mit dem
gute" Willen zur Pflichterfüllung. Auch wo der Junge noch beim Meister
wohnt, oder der Meister den Eltern in die Fenster sieht, steht es mit der
Fürsorge für die Lehrlinge traurig.

Und wie stehts im Handelsstande? Man forsche doch einmal gründlich
nach dem guten Willen der Prinzipale, das an Fürsorge zu leisten, was
die Verhältnisse erlauben, und man wird wenig oder gar keinen finden. Das
ist bei den Grossisten so wie bei den Dütenkrämern, im Warmhause wie im
Kramladen des Vororts und der Kleinstadt der Fall. Sogar da, wo die
Herren Firmeninhaber keinen jungen Mann ohne Primanerzeugnis annehmen,
und thatsächlich der Stand der geselligen Bildung der Angestellten um nichts
hinter der des Chefs und seiner Familie zurücksteht, sind Chef und junger Manu
viel weiter "auseinander gerückt," wie Paulsen sagt, als natürlich ist. Nur
Wenns ein reicher Junge ist, wird er "herangezogen," magh auch ein noch so
arger Faulpelz, Dummkopf und Windhund sein. Dann sehe man sich einmal
die unglückseligen. Schreiberjungeu an, deren Zahl so gewaltig anschwillt. Da
ist die Verwahrlosung, die Sünde der Arbeitgeber geradezu himmelschreiend.


Die Fürsorge für die Arbeiterjugend

Erfahrne zu Unerfahrnen, zur Fürsorge Befähigte zu ihrer Bedürftigen, Gebildete
zu Ungebildeten, Starke zu Schwachen bringen. Gewiß giebt es „viele,
Männer und Frauen," die sich in den Vereinsdienst stellen können, aber gerade
die große Masse derer, die in ihrem eignen persönlichen Lebenskreis mit jungen
Leuten zu thun haben, für sie sorgen können und deshalb auch für sie sorgen
sollen, ist nicht in der Lage, Vereinsdienste zu übernehmen. Gerade sie
müssen in der Pflichterfüllung erhalten und zu ihr zurückgeführt, nicht aber
dazu verleitet werdeu, sich im besten Falle vielleicht mit einen: Geldbetrag an
den Fürsorgeverein abzufinden, sich aber ihrer persönlichen Fürsorgepflicht
gänzlich zu entschlagen.

Es kann den eingerissenen und immer weiter einreißenden Irrtümern
gegenüber gar nicht nachdrücklich und oft genug darauf hingewiesen werden,
daß unsre Groß- und Mittelindustriellen sich viel, sehr viel weniger um ihre
jungen Arbeiter kümmern, als es die „modernen Verhältnisse" auch in den Gro߬
städten ihnen erlauben, und als es auch heute noch, ja gerade heute erst recht
als ihre Pflicht anerkannt werden muß. Es ist einfach eine Lüge, daß jede wirk¬
same persönliche Fürsorge in den Großbetrieben ausgeschlossen sei. Die wenigen
Beispiele wirklich wohlwollender Fabrikherren beweisen das hinreichend. Es
fehlt aber jeder gute Wille bei der Masse der Chefs und deshalb auch bei
ihren Angestellten, Werkmeistern usw., die ihre berufnen Helfer sein sollten in
der Fürsorge für die jungen Leute. Die moderne Gesetzgebung und ihre Aus¬
führung hat freilich manches gethan, was den Fabrikanten mildernde Umstünde
verschafft. Ans dem Widerwillen und dem vorläufig vielfach zu erwartenden
Undank der jungen Arbeiter sind solche dagegen im allgemeinen nicht zu folgern.
Die Verwahrlosung wird nicht besser dadurch, daß man sie anerkennt, und uoch
weniger findet man sich dadurch mit der Pflicht ab, sie zu bekämpfen. Im
Kleingewerbe, das ist so bezeichnend, ists durchaus nicht besser bestellt mit dem
gute» Willen zur Pflichterfüllung. Auch wo der Junge noch beim Meister
wohnt, oder der Meister den Eltern in die Fenster sieht, steht es mit der
Fürsorge für die Lehrlinge traurig.

Und wie stehts im Handelsstande? Man forsche doch einmal gründlich
nach dem guten Willen der Prinzipale, das an Fürsorge zu leisten, was
die Verhältnisse erlauben, und man wird wenig oder gar keinen finden. Das
ist bei den Grossisten so wie bei den Dütenkrämern, im Warmhause wie im
Kramladen des Vororts und der Kleinstadt der Fall. Sogar da, wo die
Herren Firmeninhaber keinen jungen Mann ohne Primanerzeugnis annehmen,
und thatsächlich der Stand der geselligen Bildung der Angestellten um nichts
hinter der des Chefs und seiner Familie zurücksteht, sind Chef und junger Manu
viel weiter „auseinander gerückt," wie Paulsen sagt, als natürlich ist. Nur
Wenns ein reicher Junge ist, wird er „herangezogen," magh auch ein noch so
arger Faulpelz, Dummkopf und Windhund sein. Dann sehe man sich einmal
die unglückseligen. Schreiberjungeu an, deren Zahl so gewaltig anschwillt. Da
ist die Verwahrlosung, die Sünde der Arbeitgeber geradezu himmelschreiend.


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[0543] Die Fürsorge für die Arbeiterjugend Erfahrne zu Unerfahrnen, zur Fürsorge Befähigte zu ihrer Bedürftigen, Gebildete zu Ungebildeten, Starke zu Schwachen bringen. Gewiß giebt es „viele, Männer und Frauen," die sich in den Vereinsdienst stellen können, aber gerade die große Masse derer, die in ihrem eignen persönlichen Lebenskreis mit jungen Leuten zu thun haben, für sie sorgen können und deshalb auch für sie sorgen sollen, ist nicht in der Lage, Vereinsdienste zu übernehmen. Gerade sie müssen in der Pflichterfüllung erhalten und zu ihr zurückgeführt, nicht aber dazu verleitet werdeu, sich im besten Falle vielleicht mit einen: Geldbetrag an den Fürsorgeverein abzufinden, sich aber ihrer persönlichen Fürsorgepflicht gänzlich zu entschlagen. Es kann den eingerissenen und immer weiter einreißenden Irrtümern gegenüber gar nicht nachdrücklich und oft genug darauf hingewiesen werden, daß unsre Groß- und Mittelindustriellen sich viel, sehr viel weniger um ihre jungen Arbeiter kümmern, als es die „modernen Verhältnisse" auch in den Gro߬ städten ihnen erlauben, und als es auch heute noch, ja gerade heute erst recht als ihre Pflicht anerkannt werden muß. Es ist einfach eine Lüge, daß jede wirk¬ same persönliche Fürsorge in den Großbetrieben ausgeschlossen sei. Die wenigen Beispiele wirklich wohlwollender Fabrikherren beweisen das hinreichend. Es fehlt aber jeder gute Wille bei der Masse der Chefs und deshalb auch bei ihren Angestellten, Werkmeistern usw., die ihre berufnen Helfer sein sollten in der Fürsorge für die jungen Leute. Die moderne Gesetzgebung und ihre Aus¬ führung hat freilich manches gethan, was den Fabrikanten mildernde Umstünde verschafft. Ans dem Widerwillen und dem vorläufig vielfach zu erwartenden Undank der jungen Arbeiter sind solche dagegen im allgemeinen nicht zu folgern. Die Verwahrlosung wird nicht besser dadurch, daß man sie anerkennt, und uoch weniger findet man sich dadurch mit der Pflicht ab, sie zu bekämpfen. Im Kleingewerbe, das ist so bezeichnend, ists durchaus nicht besser bestellt mit dem gute» Willen zur Pflichterfüllung. Auch wo der Junge noch beim Meister wohnt, oder der Meister den Eltern in die Fenster sieht, steht es mit der Fürsorge für die Lehrlinge traurig. Und wie stehts im Handelsstande? Man forsche doch einmal gründlich nach dem guten Willen der Prinzipale, das an Fürsorge zu leisten, was die Verhältnisse erlauben, und man wird wenig oder gar keinen finden. Das ist bei den Grossisten so wie bei den Dütenkrämern, im Warmhause wie im Kramladen des Vororts und der Kleinstadt der Fall. Sogar da, wo die Herren Firmeninhaber keinen jungen Mann ohne Primanerzeugnis annehmen, und thatsächlich der Stand der geselligen Bildung der Angestellten um nichts hinter der des Chefs und seiner Familie zurücksteht, sind Chef und junger Manu viel weiter „auseinander gerückt," wie Paulsen sagt, als natürlich ist. Nur Wenns ein reicher Junge ist, wird er „herangezogen," magh auch ein noch so arger Faulpelz, Dummkopf und Windhund sein. Dann sehe man sich einmal die unglückseligen. Schreiberjungeu an, deren Zahl so gewaltig anschwillt. Da ist die Verwahrlosung, die Sünde der Arbeitgeber geradezu himmelschreiend.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/543>, abgerufen am 23.06.2024.